Auch wenn der Titel dieses Beitrages Ukraine-Mediation lautet, bedeutet das leider nicht, dass es für diesen Konflikt eine Mediation gibt. Zumindest keine offizielle. Der Titel greift auch viel zu kurz, weil es im Grunde gar kein Ukraine-Konflikt ist. Wenn es das wäre, ließe sich der Konflikt leicht begrenzen. Es ist auch keine Russland-Krise, wie die Außenministerin auf der Münchner Sicherheitskonferenz herausstellte. Mehr und mehr wird deutlich, dass es um einen globalen Konflikt der Machtverteilung geht, der sich auf die USA und Russland erstreckt und leider nicht bei diesen Mächten endet. Eine weltweite Klärung über die Machtverhältnisse scheint ohnehin ein Thema zu sein, dem sich die Nationen zu stellen haben. Es knirscht ja nicht nur in der Ukraine.
Wir haben durch Covid und die Klimaerwärmung genug Katastrophen. Die Überwindung dieser Krisen verlangt ein gemeinsames, weltweites Vorgehen. Statt sich darauf zu konzentrieren, wird eine neue Krise ausgerufen. Das klingt verantwortungslos. Es könnte aber auch bedeuten, dass es um etwas Wichtiges geht, worüber ohne den Konflikt nicht gesprochen würde. Jeder Konflikt deutet darauf hin, dass etwas im Argen liegt. Es bleibt die Hoffnung, dass die Diplomaten unterhalb der Presseshow und dem Säbelrasseln so etwas wie Mediation versuchen und dem Argen auf den Grund gehen. Erst wenn die Konfliktbotschaft korrekt verstanden wird, zeigt sich die Lösung.
Um die Konfliktbotschaft verstehen zu können, muss zunächst geklärt sein, worum es eigentlich geht. Vieles ist unklar. Die Nachrichten genügen nicht, um den Konflikt zu durchschauen. Deutlich wird lediglich, dass er sich aus unterstellten Absichten auf beiden Seiten nährt. Die wenigen Fakten ergeben sich aus einer historischen Betrachtung. Hier kommt schon die Frage auf, wo die Historie anzusetzen ist.
Ein Ausgangspunkt ist der Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991. Die Ukraine hatte sich an der Gründung der GUS beteiligt, in der sich ehemalige Sowjetrepubliken zusammengeschlossen haben. Erst mit dem Austritt Georgiens, dem ebenfalls ein militärischer Konflikt mit Russland vorausging, hat die Ukraine klargestellt, dass sie kein Mitglied der GUS geworden sei. Sie gilt deshalb seit 1991 als unabhängiger Staat. Russland hat ein besonderes Interesse, die GUS-Staaten an sich zu binden. GUS ist das Akronym für "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten". Wenn Unabhängigkeit bedeutet, dass ein Staat einfach aus der GUS austreten kann, hat Russland ein Problem. Es wird deshalb auch innerhalb dieser Staatengemeinschaft argwöhnisch beobachtet, wie Russland zuletzt mit Kasachstan und Belarus umgeht und umgekehrt. Aus dem Umgang lässt sich ableiten, wie unabhängig die GUS-Staaten wirklich sind. Ein Problem wird von der russischen Seite darin gesehen, dass sowohl die Ukraine als auch Georgien NATO-Mitglieder werden könnten. Russland muss sich fragen, was geschieht, wenn andere GUS-Staaten auf die gleiche Idee kommen. Wenn sich der Westen attraktiv macht, hat der Osten ein Problem. Es gibt eigentlich nur zwei Strategien, wie das zu verhindern ist. Ideal wäre eine Lösung, wo es darauf nicht mehr ankommt.
Vielleicht ist die Befürchtung der Staatenabwanderung der eigentliche Grund, warum Russland ein besonderes Interesse an der vollständig in Europa gelegenen, ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine zeigt. Oder geht es nur um ein Exempel? Jedenfalls annektierte Russland bereits im Jahre 2014 die Krim. Sie ist der Teil der Ukraine, die den Zugang zum schwarzen Meer sichert. Der Westen beschreibt das russische Vorgehen als eine völkerrechtswidrige Besetzung, weshalb Russland mit Sanktionen belegt wurde. Vielleicht spielen auf beiden Seiten aber auch geostrategische Überlegungen eine Rolle. Möglich wurde die Annektierung jedenfalls durch separatistische Bestrebungen der russischen Bevölkerung in der Ukraine, die das Assoziationsabkommen zwischen der Ukraine und der EU verhindern wollten. Die Ukraine befindet sich seit dem Erstarken der Separatistenbewegung im Kriegszustand. Am 15. Februar 2015 wurde ein Abkommen geschlossen, das auf die Befriedung des Konflikts in der östlichen Ukraine abzielt. Dort lebt der Großteil der russisch-stämmigen Bevölkerung. Das Abkommen wollte erreichen, dass eine lokale Selbstverwaltung mit einem Sonderstatus bestimmter Regionen der Gebiete Donezk und Luhansk etabliert wird. Es ist bis heute nicht umgesetzt worden. Einflüsse von außen deuten darauf hin, dass der Konflikt nicht nur eine regionale Bedeutung hat. Aktuell sind Truppenbewegungen rund um die Ukraine auf russischem und belarussischem Staatsgebiet und der Krim zu verzeichnen, die vom Ausland als Bedrohung gesehen werden. Militärisch betrachtet, würde die Truppenaufstellung einen Einmarsch in die Ukraine ermöglichen. Die Absicht wird von Russland bestritten. Welche Absichten Russland tatsächlich verfolgt, ist ebenso unklar, wie die Absichten des Westens. Ein Mediator würde darüber Hypothesen aufstellen. Er würde in Betracht ziehen, dass es vor dem globalen Hintergrund weitaus mehr Hypothesen über die möglichen Beweggründe gibt, als nur das unterstellte Interesse an der Ukraine. Russland behauptet, die Osterweiterung der NATO zu fürchten. Der Westen behauptet, die Sicherheitsarchitektur Europas bewahren zu wollen. Die Ukraine will kein Pufferstaat sein. In der Sprache der Mediation sind das Positionen, die kaum zu verwirklichen sind, ohne auf die eingangs aufgeworfene Frage der Machtverteilung in der Welt und ihre Bedeutung einzugehen. Interessanterweise kommt in allen Begründungen ein Sicherheitsbedürfnis zum Vorschein, wobei sich der Streit auf seine Befriedigung zu beschränken scheint. Die Begründungen erklären den Konflikt jedoch nicht wirklich. Es geht wohl noch um etwas anderes. Ein Mediator würde versuchen, die wahren Interessen hinter dem Konflikt herauszuarbeiten.
Fest steht lediglich, Freunde und gute Nachbarn benehmen sich anders. Damit kommt die Frage auf, ob eine gute Nachbarschaft oder gar Freundschaft zwischen den Nationen überhaupt gewünscht ist.
Auffällig ist, dass sich in der Krise ein Verhalten herausbildet, das wir auch bei den Rosenkriegen und bei hoch eskalierten Streitigkeiten im individuellen Lebensbereich vorfinden. Statt Brücken zu bauen, werden sie eingerissen. Wo würde der Ukraine-Konflikt auf der Eskalationstreppe von Glasl inzwischen angekommen sein? Sicher bewegen wir uns auf der 6. Stufe.1 Sie wird durch Drohstrategien, Forderungen, Sanktionsandrohungen, Verlust der Glaubwürdigkeit, Selbstbindungsaktivitäten und das Aufstellen von Stolperdrähten gekennzeichnet. Die nächste Eskalationsstufe ist durch ein Denken geprägt, das die menschliche Qualität leugnet, wo begrenzte Vernichtungsschläge als passende Antwort gesehen werden, wo Werte durch Narrative ins Gegenteil verdreht werden und wo ein eigener Schaden sogar als Gewinn verbucht wird.
Ist eine Mediation bei einem derart hoch eskalierten Konflikt überhaupt noch möglich? Auch wenn viele meinen, dafür sei es bereits zu spät, wäre sie doch in jedem Fall sinnvoll. Sie ist auch möglich.2 Je höher sich die Eskalation allerdings entwickelt, desto größer wird der Bedarf nach einem autoritären Element, das die Parteien in die Mediation führt und im Verhandeln festhält. Leider gibt es auf der internationalen Bühne keine verbindliche Autorität, die über den Staatsmächten steht. Auch internationale Verträge sind nicht wirklich verbindlich, wenn sich ein Staat der Unterwerfung entzieht. Die vielbeschworenen Werte wären nur dann eine höhere Instanz, wenn es sich um gemeinsame Werte handelt.
Wenn dieser Konflikt aus den Augen eines Mediators betrachtet wird, wäre die erste und zunächst einzige Frage, wie es gelingt, die Parteien an den Verhandlungstisch zu bekommen. Nichts anderes interessiert.
Angeblich wollen alle Parteien verhandeln. Das wird zumindest behauptet. Wenn wir uns anschauen, wie die Verhandlungsangebote unterbreitet werden, bestehen jedoch Bedenken, ob der Wunsch zu einem lösungsoffenen Verhandeln auf gleicher Augenhöhe wirklich besteht. Der Mediator weiß, dass der Gegner bei einem Verhandlungsangebot, das mit Vorwürfen verbunden ist, nur die Vorwürfe hört und nicht das Angebot. Stoltenberg erklärte in einem ARD-Interview, dass es bei dem Konflikt um die Frage gehe, "ob wir es akzeptieren, dass eine Großmacht wie Russland versucht, einem anderen Land zu diktieren, was es tun kann und nicht tun kann, mit Gewalt".3 Die Reaktion des Gegners wird davon abhängen, was er unter dem Wir versteht und was er sich dabei denkt, wenn mit dieser Frage nur Russland adressiert wird. Eine Formulierung, die das Wir weglässt und einfach nur fragt, "ob es akzeptabel ist, dass eine Großmacht einem anderen Land diktiert, was es tun kann und nicht" würde den Gegner nicht nur einbeziehen, sondern womöglich auch die Antwort vorgeben. Möglicherweise würde sich das Bild verschieben. Aber immerhin wird der Konflikt mit der Aussage des NATO-Generalsekretärs etwas deutlicher. Sie bestätigt die Konflikthypothese.
Verhandeln ist das Gegenteil zum Unterwerfen. Eine Verhandlung unter Bedingungen kommt dem Unterwerfen gleich. Die Gemengelage ist für Außenstehende schwierig einzuschätzen. Leider stehen als Informationsquelle nur Presseberichte zur Verfügung. Sie sind wenig faktenbasiert und sicher seitenabhängig gefärbt. Trotzdem gibt es Anzeichen, die sich in jedem Konfliktverhalten wiederfinden lassen. Staatenlenker sind eben auch nur Menschen und nicht immer Vorbilder. Sie haben Ängste, Vorbehalte und Gefühle. Sie haben vor allem auch Machtinteressen, die sie zu allem Überfluss nicht offen eingestehen können. Hinzu kommen strategische Aspekte. Im Ukraine-Konflikt hat sich längst eine Konfrontationsstrategie verfestigt, die nicht nur das Denken, sondern auch das Verhalten prägt.4 Sie findet ihren Ursprung nicht in der Ukraine-Krise und kann auch auf beiden Seiten innenpolitisch motiviert sein. Jeder weiß, dass die Schaffung eines äußeren Feindes von inneren Schwächen ablenkt. Ein Signal der Überlegenheit sichert die innenpolitische Zustimmung. Die Schwächung des Gegners sichert die Vormachtstellung. Es wäre also falsch, den Konfliktmotor5 nur beim jeweiligen Gegner zu suchen. Ein Mediator würde versuchen, die Motive jeder einzelnen Partei aufzudecken und das ganze Bild zu erfassen, wo letztlich auch der einzelne Mensch eine Stimme bekommt. Schließlich muss er die Konsequenzen tragen.
Die erste Hürde auf diesem Weg besteht darin, die vermeintlichen Rechtfertigungsversuche außen vor zu lassen. Das wird umso schwieriger, je mehr sich die öffentliche Meinung verdichtet und nach Stärke ruft, statt nach Vernunft und Besonnenheit. An der öffentlichen Meinung wird auf allen Seiten intensiv und mit allen Mitteln gearbeitet. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", sagte der ukrainische Botschafter Melnyk.6 Der Satz ist ebenso unlogisch wie aufrührerisch. Er entfaltet aber eine Wirkung. Eine Bemerkung Schönbachs, dass ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine nicht zu befürchten sei und dass Russlands Präsident Wladimir Putin eigentlich nur Respekt auf Augenhöhe erwarte,7 führte zum Rücktritt des Vizeadmirals. Verständnis passt nicht in ein Feindbild und ein Einlenken passt nicht zur Konfrontation. Nicht alle Meinungen sind erwünscht. Im Westen wie im Osten wird eine klare Positionierung erwartet. Die Erwartung entspricht den Selbstbindungsaktivitäten der Eskalationsstufe 6. Die Feindbilder werden gefestigt. Der Westen ist sich einig, das die Ukraine-Krise von Russland ausgelöst worden sei. Die Einigkeit nutzt allerdings wenig, solange die Gegenseite dazu eine andere Auffassung vertritt. Sie steht einer Konfliktbewältigung sogar im Wege. Ohne einen Abgleich führt sie nur zu einer weiteren Polarisierung. Sie befeuert die Eskalation. Zweifel würden dieser Entwicklung entgegenwirken. Argumente lösen keine Zweifel (mehr) aus. Fragen bieten dafür eine bessere Chance.
Neben der Meinungsbildung ist ein häufig zu beobachtendes Konfliktverhalten, die Verantwortung für den Konflikt der jeweiligen Gegenseite zuzuschreiben. Im Ukraine-Konflikt lässt der britische Premierminister den Grund für diese Schuldzuweisung durchblicken, indem er den Kreml eindringlich auffordert, einzulenken. Die einfach klingende Logik lautet: Wer Schuld hat, muss nachgeben. Sie ist ebenso vordergründig wie ineffizient, solange die Frage nach der Schuld nicht eingestanden wird. Der Mediator weist darauf hin, indem er die Parteien fragt: "Was nutzt es Ihnen, wenn Sie die Frage nach der Verantwortung für die Krise geklärt haben?". Er kennt das Spiel, das in der Kommunikation als Interpunktion beschrieben wird. "Du bist schuld", "Nein DU", "Du hast doch angefangen", "Nein Du warst es" und so weiter. Es folgt eine Begründungssemantik von beiden Seiten, die niemanden wirklich überzeugt. Sie belegt nur, dass die Parteien noch nicht bereit sind, die Verantwortung für die Beilegung des Konflikts zu übernehmen. Wie bei der Kommunikation sind zwei Seiten erforderlich, damit die Konfliktbeilegung gelingt. Es ist allerdings auch in der Mediation ein aufwändiger Weg, bis die Parteien an diesem Punkt ankommen. Die Konflikteinsicht kann also nicht zu Beginn der Verhandlungen erwartet werden. Es würde aber schon genügen, die Behauptungen auf beiden Seiten in Frage zu stellen, die Argumentationsebene zu verlassen8 und sich nicht vor irgendeinen Karren spannen zu lassen.
Die fehlende Bereitschaft zur Übernahme der Konfliktverantwortung zeigt sich im Ukraine-Konflikt nicht nur in den wechselseitig erhobenen Vorwürfen. Mit der behaupteten Kriegstreiberei wird auch ein fataler Fokus gesetzt. Der Vorwurf kann stimmen oder nicht. In jedem Fall verdichtet er die Wahrnehmung. Der Krieg dominiert die Gedanken, die sich immer mehr auf diese Möglichkeit einlassen können. Es sind die falschen Gedanken. Sie könnten einen Tunnelblick auslösen, der alle Indikatoren übersieht, die den Krieg verhindern. Diese Gefahr stellt sich paradoxerweise auch dann ein, wenn es darum geht, das Ziel zu verhindern.9 Oft erreicht die Zielvermeidung das Gegenteil von dem, was sie erreichen will. Blinken hob hervor, dass alles, was Putin angeblich verhindern wollte, beschleunigt worden sei.10 Der Blick auf den Gegner verdeckt die Einsicht, dass die gleiche Wirkung auch den Westen trifft.
Die Frage, ob die angedachten Lösungen (Einmarsch, Nichtaufnahme in die NATO usw.) überhaupt in der Lage sind, den jeweils gewünschten Nutzen herbeizuführen, ist durchaus angebracht. Jetzt stoßen wir auf ein weiteres Phänomen bei hoch eskalierten Konflikten. Es ist die mangelnde Kritikfähigkeit der Konfliktparteien. Ihr Verhalten ist, von außen betrachtet, zunehmend irrational und nicht mehr nachvollziehbar. Die Vernunft bleibt auf der Strecke. In der höchsten Stufe der Konflikteskalation bekommt die Vernichtung des Gegners eine so große Bedeutung, dass die eigene Vernichtung in Kauf genommen wird. Man sollte meinen, dass eine derartige Realitätsverschiebung bei Konflikten zwischen Staaten nicht möglich sei. Die Geschichte beweist jedoch das Gegenteil. Der Zugang zur Irrationalität findet sich in den Emotionen, die wiederum aus den Feindbildern gespeist werden. Der Konflikt entwickelt sich zu einem Teufelskreis. Der Mediator würde die Emotionen ansprechen. Sie geben Hinweise auf die Handlungsmotive und liefern meistens auch den Schlüssel für die Konfliktauflösung.
Einen Zugang zu den Motiven liefert auch die Frage, wer sich in dem Konflikt als der Spielmacher sieht, wem diese Rolle zusteht und wie das Spiel heißt, bei dem es nur Verlierer geben kann. Alle spielen mit. Auch das ist ein Konfliktmerkmal. Um einen Weg zu finden, der aus der Spirale herausführt, sucht der Mediator nach den Beweggründen jenseits der Rationalität. Er stellt fest, dass alle Seiten bereit sind, einen hohen Preis für die Konsequenzen zu zahlen. Er wird fragen, was so wichtig ist, dass es die Kosten rechtfertigt. Er führt die Gedanken der Parteien weit in die Zukunft, wo sich der Nutzen herausstellt. Mit dieser Perspektive werden effizientere Herangehensweisen erkennbar. Die Mediation hilft ihm dabei, indem sie den Fokus aus den strategischen Zielsetzungen herausführt. Sie würde das Kriegsspiel in ein Suchspiel umgestalten. Ihr Ziel besteht darin, eine noch unbekannte Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sein können. Diese Zielsetzung würde alle Seiten in die Verantwortung nehmen und alles vermeiden, was eine Konfliktklärung verhindert oder eine Eskalation ermöglicht. Sie erwartet eine Verhandlung von starken Parteien auf gleicher Augenhöhe. Sie sucht nach Gemeinsamkeiten, auf denen eine befriedete Zukunft aufzubauen ist. Es ist ein entscheidender Punkt, ob die Konfliktparteien sich auf derartige Verhandlungen einlassen können. Eine Eskalation kann nachhelfen; nicht jedoch, wenn sie zur Durchsetzung der Positionen genutzt wird. Sie unterstützt den Prozess nur dann, wenn sie einen Anreiz zum Verhandeln bietet.
Selektionen sind ein wirkungsvolles Instrument, wenn es darum geht, eine Lösung durchzusetzen. Die Mediation folgt dem Grundsatz der Informiertheit. Er verhindert Selektionen. Im konkreten Fall bemerkt der Mediator, dass die eine Seite auf das Geschehen selbst blickt. Sie nennt Truppenbewegungen auf russischem Territorium, aus denen sie die bestrittene Befürchtung ableitet, dass ein Einmarsch in die Ukraine bevorstehe. Die andere Seite schaut auf die Vorgeschichte und sieht sich als die Partei, die auf die ebenso bestrittene Bedrohungen des Gegners reagiert. Die sich daraus ergebenden Sichten erinnern an den fundamentalen Attributionsfehler, der dem Haloeffekt gegenübersteht. Wie in anderen zwischenmenschlichen Konflikten auch, verhindern sie ein Entgegenkommen.
Immerhin versucht jede Seite, ihr Handeln zu rechtfertigen. Das ist ein Ansatzpunkt. Er besagt, dass sie ein stimmiges Szenario braucht, um die Eskalation zu begründen. Es gibt also noch so etwas wie ein Gewissen. Leider kommt es den Kontrahenten nur auf das Narrativ an. Ob der Grund für ihr Handeln eine beidseitig anerkannte Wirklichkeit darstellt, tritt immer mehr in den Hintergrund. Die fehlende Bereitschaft, die Berechtigung zur Eskalation in Frage zu stellen, verstärkt die Vorwürfe. Sie führt zum Verlust der Glaubwürdigkeit und nährt die Befürchtungen, dass es dem Gegner genüge, einen Kriegsanlass lediglich vorzutäuschen. Tatsächlich spielt die Wahrheit keine große Rolle mehr, sobald sich die Vorwürfe verdichtet haben und das Narrativ gefestigt ist. Auch die gebotene Verhältnismäßigkeit der Mittel stellt kein Korrektiv mehr dar. Menschenleben werden zum Kollateralschaden. Erst wenn Gemeinsamkeiten den Anknüpfungspunkt für Verhandlungen bilden, verlieren die unterschiedlichen Sichten an Bedeutung. Der Blick auf das Konfliktgeschehen sollte sich also darauf konzentrieren, was verbindet nicht darauf, was trennt.
Ein weiteres typisches Konfliktphänomen besteht darin, vom Gegner zu erwarten, was man selbst nicht will und ihm Motive zu unterstellen, die man selbst verfolgt. Das Konfliktgeschehen entwickelt sich in eine Projektion, die alle Fakten verdrängt. Nunmehr fordert Russland den Abzug der US-Truppen aus Europa.11 Russland sei überzeugt, dass das nationale Potenzial in den Ostzonen völlig ausreichend sei. Was hingegen auf russischem Territorium hinsichtlich der Truppenbewegungen geschehe, sei letztlich eine nationale Angelegenheit, die einer Bewertung von außen nicht zu unterliegen habe. Die gleichen Argumente nimmt der Westen für sich in Anspruch. Dabei werden von beiden Seiten Forderungen aufgestellt (nicht einzumarschieren, Truppen im eigenen Land woanders zu positionieren, Truppen in Europa abzuziehen, den Zutritt zur Nato zu verweigern), die zumindest im aktuellen Stadium so nicht zu erfüllen sind. Es ist sogar fraglich, ob die Forderungen den Konflikt endgültig beilegen, selbst wenn sie erfüllt würden. Ein Mediator würde fragen, ob sich die Parteien darüber im klaren sind und was sie mit den Forderungen wirklich bezwecken. "Was haben Sie davon, wenn die Gegenseite das macht, was Sie wollen? Haben Sie dann wirklich alles was Sie brauchen?". Die Frage des Mediators zielt auf die hinter den Forderungen verborgenen Nutzenerwartungen. Sie erlauben Rückschlüsse auf die wahren Motive. Die Behauptung: "Die Sicherheit eines Landes dürfe nicht zu Lasten der eines anderen Landes gehen", gibt einen Hinweis. Sie klingt durchaus so, als könnte sie allen Seiten zugeschrieben werden. Auch wenn sie die Frage aufwirft, was das "Land" ist, deutet sie auf ein gemeinsames Interesse, aus dem eine emergente Lösung entstehen kann. Die nächste Frage des Mediators wird dann lauten, woraus das Gefühl von Sicherheit entsteht. Vertrauen wäre wohl die passende Antwort. Wenn sie auch die richtige ist, wird deutlich, dass die Parteien mit ihren Forderungen diesen Nutzen niemals erreichen werden.
Die 6. Eskalationsstufe zeichnet sich besonders durch das zunehmende Drohpotenzial aus. Es werden also nicht nur uneinbringliche Forderungen gestellt, sondern auch Drohungen ausgesprochen, die kaum die gewünschte Wirkung erzielen können. Der russische Botschafter in Schweden brachte es auf den Punkt.12 Er sagte: "Wir scheißen auf Ihre ganzen Sanktionen". Jetzt kommen unterschiedliche Bewertungen ins Spiel, die an die unterschiedlichen Lebensverhältnisse der östlichen und der westlichen Welt anknüpfen. Sie werden möglicherweise falsch eingeschätzt. Hinzu kommt, dass Drohungen nur in einer Subordination gelingen. Wenn sich die bedrohte Partei auf gleicher Augenhöhe wähnt, wird sie die Drohungen schon deshalb ignorieren. Das gleiche gilt, wenn sie dem Drohenden die Berechtigung zur Drohung abspricht. "Du hast mir nicht zu drohen", würde sie in einem Nachbarstreit sagen. Die ergänzende Ansage, "Ich zeig Dir noch, wo der Hammer hängt", macht die eigene Aufwertung sichtbar. Sie kann auch nonverbal erfolgen. Drohungen, wie das Aus für die Gaspipeline in der Nordsee, verlieren darüber hinaus ihre Wirkung, wenn ihre Verwirklichung ohnehin in Frage steht. Auch hier zeigt sich der eigentliche Konflikt. Um einen Ausweg zu finden, wäre es besser, versöhnliche Angebote zu unterbreiten, die einen Anreiz zur Befolgung des Gewünschten geben und einen Nutzen herausstellen. Wirkungsvoll sind solche Anreize jedoch erst, wenn sie die (wahren) Interessen des Gegenübers befriedigen. So geschähe es in der Mediation. Aber auch hier sind die Parteien erst nach der Vorarbeit von drei Phasen in der Lage, die Bekenntnisse zu offenbaren, die derartige Angebote ermöglichen. Anders als in dem Ukraine-Konflikt haben sich Medianden jedoch in der Phase eins dazu verpflichtet, nach Lösungen zu suchen, die für alle Seiten nutzbringend sind. Von einem derartigen Zugeständnis scheinen die Kontrahenten im Ukraine-Konflikt noch weit entfernt zu sein. Ganz abgesehen davon, dass ein derartiges Versprechen in der aktuellen Lage kaum glaubhaft klingen würde, bestehen unterschiedliche Sichten auf die möglichen Konsequenzen. Sicher ist nur eins: Schaden nehmen alle Seiten. Das weiß jeder. Deshalb lautet die Argumentation auch schon, dass der Schaden auf der jeweils anderen Seite aber größer sei als der, der auf der eigenen Seite entstehen wird. Das ist ein Kriterium für die 7. Eskalationsstufe und ein Zeichen, dass der Konflikt weiter in die Eskalation getrieben wird.
Die Frage, wie die Parteien an den Tisch kommen, ist damit allerdings immer noch nicht beantwortet. Ein Mediator würde überlegen, wie er den Nutzen der Verhandlungen herausstellen kann. Er weiß, dass Allgemeinplätze, moralische Vorhalte und Friedensappelle dafür nicht geeignet sind. Die Verhandlung ist kein Entgegenkommen und ihre Verweigerung kann keine Bestrafung des Gegners darstellen. Sie ist eine Chance für jede Partei und der einzige Weg in eine schnelle und nachhaltige Konfliktbewältigung. Um das Interesse an einer Verhandlung herauszuarbeiten, wird der Mediator den streitenden Parteien genau zuhören. Er wird versuchen, die hinter der Kommunikation verborgenen Botschaften zu verstehen. Auch sie erschließen sich aus den Motiven.
Die Motive werden aus der Presseschau nicht erkennbar. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass nicht einmal die Parteien in der Lage sind, die Motive korrekt einzuschätzen. Was der Mediator erkennen kann, ist ein extremes Misstrauen auf beiden Seiten. Er würde die Gedanken deshalb aus den Forderungen, den Drohungen und den Argumenten herausführen und fragen, wie sich der Konflikt darstellen würde, wenn alle Parteien einander vertrauen könnten. Er würde wissen wollen, ob die Parteien miteinander verhandeln, wenn sie unterstellen könnten, dass ihre Interessen Beachtung fänden. Er wäre ganz neugierig auf die Antwort, denn offenbart die Stunde der Wahrheit. Wer an einem friedlichen Zusammenleben interessiert ist, kann die Frage nur mit einem "Ja, das wäre gut" beantworten. Wer andere Interessen verfolgt, wird die Frage verneinen. Dann würde der Mediator weitere Fragen stellen, die den erwarteten Nutzen auch mit Blick auf die politische Lage ausloten. Sie helfen ihm, die Bedeutung des Konfliktes zu erkennen. Der Einwand, dass Verhandlungen zwar gewünscht wären, aber wegen des Gegners oder aus sonstigen Gründen nicht möglich seien, ist ein gängiges Argument und für den Mediator kein Hinderungsgrund. Skepsis ist angebracht. Sie ist sogar hilfreich. Der Mediator weiß, dass die Mediation dazu beiträgt, alle Hürden zu nehmen, die einer Einigung im Wege stehen.
Nun bewegen wir uns in einem politischen Umfeld wo fraglich ist, ob überhaupt noch jemand als Mediator fungieren kann. Selbst die Verhandlungen stehen unter einem Fragezeichen. Die Mediation wäre trotzdem (oder vielleicht sogar gerade deswegen) eine Option ohne Gesichtsverlust. Selbst wenn es kein förmliches Verfahren der Mediation geben wird, ist ihre fehlende Option kein Hinderungsgrund, trotzdem die richtigen Fragen zu stellen und die Kommunikation auf eine Deeskalation auszurichten. Folgt man der kognitiven Mediationstheorie,13 kommt es lediglich darauf an, die Gedanken in die zielführende Richtung zu lenken. Wer den Gedankengang initialisiert, ist völlig egal. Auch in der Mediation sind es letztlich die Parteien, die ihn gehen müssen. Wir können also hoffen, dass irgendwer, irgendwann die richtigen Fragen stellt und dass dies nicht erst der Fall sein wird, wenn alle am Boden liegen. Die Formel ist ganz einfach: Wer nach Freundschaft sucht, wird Freundschaft finden. Wer Feindschaft sucht, wird Feindschaft finden. Also muss nach den Möglichkeiten einer Freundschaft gefragt werden. Sie ergibt sich aus den Gemeinsamkeiten, nicht aus den Gegensätzen und den Gründen für eine Feindschaft. Auf der politischen Bühne klingt das Wort Freundschaft vielleicht etwas zu pathetisch. Trotzdem lohnt sich der Perspektivwechsel. Nach dem Resonanzgesetz vermehrt sich alles, was in den Fokus genommen wird.14 Die Konfliktparteien müssen sich also fragen, wovon sie mehr haben wollen, um dann einfach nur dorthin zu schauen, wo sie mehr vom Selben finden. Weil die internationale Gemeinschaft ein Teil des Konfliktes ist, muss sie sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sich die Nationen in Zukunft begegnen sollen. Vielleicht bedarf es des Wissens der Mediation, dass es nicht erforderlich ist, anderen zu schaden, um eigene Interessen zu verfolgen. Dieser Gedanke trifft den Kern der Mediation. Erst wenn die grundsätzliche Frage beantwortet ist, wie sich die Nationen in Zukunft und im Idealfall begegnen, werden die Kriterien herausgearbeitet, woran der nationale und der globale Nutzen zu messen ist. Wie bei Individuen geht das eine nicht ohne das andere. Die Kriterien werden ergeben, wie sich die Koexistenz der Nationen daran ausrichtet. Das wäre in der Sprache der Mediation die zu findende Lösung.
Sicherlich erfordert die scheinbar paradox anmutende Suche nach Freundschaft auf allen Ebenen ein Umdenken. Sie würde der ganzen Welt guttun. Die Staatenlenker könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Ein einvernehmliches Miteinander würde nicht nur Ängste nehmen und Vertrauen schaffen. Es würde auch die Ressourcen bereitstellen, die für die Überwindung der eigentlichen Katastrophen erforderlich sind, denen sich die Menschheit zu stellen hat. Vielleicht ist das die Botschaft, die der Ukraine-Konflikt zu vermitteln versucht.15
Arthur Trossen
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