Ganz abgesehen davon, hat Ihr Nachbar nichts auf Ihrem Grundstück verloren und erst recht kann er es nicht so behandeln, als sei Ihr Grundstück sein eigenes. Hätten Sie jetzt nicht Lust, dem Nachbarn auch etwas zu nehmen, was ihm lieb und teuer ist, um adäquat auf den Übergriff zu reagieren?
Der soll schon sehen, wo der Hammer hängt.
Aug um Auge
Ein Schadensersatz in Geld würde kaum zur Genugtuung beitragen. Das macht den Baum nicht wieder heil und die emotionalen Verletzungen erst recht nicht. Die Schmach verdient eine Vergeltung. Der Nachbar soll spüren, was er ihnen angetan hat. Da kommt die Idee Aug und Auge, Zahn um Zahn auf. Steht das nicht sogar in der Bibel? Also wäre es durchaus gerecht, wenn er den gleichen Schaden erleidet. Dann wird er wenigstens verstehen, was er Ihnen angetan hat. Wenn Sie die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen, und aus der berechtigten Wut heraus vielleicht sein Gartenhaus anzünden, würden Sie sich besser fühlen. Besonders, wenn Sie wissen, wie wichtig die Gartenlaube für den Nachbarn ist. Ihr Verlust ließe ihn genauso leiden, wie das Leid, das er Ihnen angetan hat. Die Gerechtigkeit wäre wiederhergestellt.
War es nicht Martin Luther, der sagte, dass die Regel Aug um Auge am Ende jeden blind mache?1 Der Schaden jedenfalls bleibt hinter der Verblindung zurück. Ganz abgesehen davon, dass Sie sich bei einer derartigen Vergeltungsaktion nicht nur auf das Niveau des Nachbarn herablassen, machen Sie sich jetzt genauso strafbar, wie der Nachbar zuvor. Um das zu vermeiden, hilft Ihnen der Staat.
Die staatliche Vergeltung
Der Staat weiß, daß Rache zu nichts führen kann. Rache hat nur dann eine Wirkung, wenn die Botschaft vom Schädiger verstanden wird. Das ist im Stadium seiner Kompetenz-Amnesie jedoch kaum anzunehmen. Der Staat kann eine andere Perspektive und vor allem Autorität anbieten. Beides hilft bei einem hoch eskalierten Konflikt. Deshalb hat sich der Staat ein Gewaltmonopol vorbehalten. Das berechtigt und verpflichtet ihn, die Vergeltung selbst und in gewisser Weise stellvertretend für die Bürger im Rahmen des Strafrechts auszuüben. So stellt die Gesellschaft sicher, dass die Vergeltung nicht nur möglich ist, sondern auch in einer geordneten Art und Weise abläuft.
Wenn der Titel dieses Beitrags von der Verstaatlichung der Rache spricht, ist zumindest im gesellschaftlichen Kontext lediglich die Verstaatlichung der Vergeltung gemeint. Der Begriff Vergeltung bezeichnete ursprünglich übrigens die Entlohnung für eine Tat im positiven Sinn. Inzwischen wird der Begriff negativ konnotiert und kommt der Rache und der Heimzahlung sehr nah. Vergeltung im heutigen Verständnis bezeichnet die Reaktion auf eine als ungerechtfertigt empfundene Verletzung. Sie zielt darauf ab, Gerechtigkeit herzustellen. Die Vergeltung erfolgt im Rahmen einer Bestrafung, die mit der Sühne verbunden wird. Trotzdem ist die Vergeltung nicht weit von der Rache entfernt. Allerdings steht bei der Rache der emotionale Aspekt im Vordergrund. Die Rache stellt deshalb die von Emotionen geleitete Vergeltung für eine als Unrecht empfundene Tat dar. Oft wird die Rache in der Vergeltung versteckt oder geht in ihr auf. Immerhin hört sich Vergeltung auch gesitteter an als Rache.
Die Rachelust nimmt zu
Die Grenzen verwischen immer mehr. Es ist zu beobachten, dass Hass und Rachegelüste in unserer Gesellschaft zunehmen. Haller stellt heraus, dass Rache zu den wichtigsten kriminellen Motiven zähle, die sich auch auf Beziehungstaten erstrecke. Er weist auf einen bedenklichen Trend zu motivarmen Delikten mit überdimensionalen Racheaktionen hin. Die Verhältnismäßigkeit zwischen Auslöser und Racheantwort gehe verloren, was für den auch außerhalb der Kriminalität festzustellenden Anstieg der narzisstischen Kränkbarkeit in unserer Gesellschaft spreche.2
Die zwei Seiten der Medaille
Die Rache hat zwei Seiten und kann durchaus auch zur Gesundung beitragen. In Maßen und mit dem richtigen Augenmaß verübt, stärkt sie das Selbstvertrauen. Wenn die Botschaft "So kannst Du mit mir nicht umgehen", beim anderen ankommt, hat die Rache eine befriedigende Wirkung. Aber nur dann. Es gibt jedoch Situationen, wo diese Botschaft vorn vorne herein nicht ankommen kann.3 Dann kommt es zu konfliktbedingten Exzessen, die nicht nur zu einer inakzeptablen Rache, sondern auch zu einer ekelerregenden Brutalität führen.
Jede Form der Rache ist in unserem Rechtssystem grundsätzlich verboten. Die Rache wird juristisch als ein niedriger Beweggrund eingeschätzt, der aus einer Tötung einen Mord macht. Der Staat will vor der Rache schützen. Deshalb ist auch das Strafrecht ist nicht dazu da, Rache zu üben. Wenn Sie darauf vertrauen, dass der Staat die Gerechtigkeit wieder herstellen kann und den Nachbarn gehörig bestraft, können Sie damit leben. Was aber wenn nicht?
Staaten sind auch Nachbarn
Oft verhalten sich Staaten wie die Nachbarn im Ausgangsbeispiel. Anders als dort gibt es auf der internationalen Ebene allerdings keine Chance auf eine geordnete Vergeltung. Es ist bemerkenswert, dass gerade die Staaten, die es am meisten nötig haben, sich der internationalen Strafgerichtsbarkeit verweigern. Wenn jetzt davon die Rede ist, dass die Rache verstaatlicht werde, ist damit gemeint, dass Staaten die Rache für sich in Anspruch nehmen und ebenso ungebremst gegeneinander ausüben wie natürliche Personen. Sie nennen es zwar Vergeltung. Allerdings lassen sie den Emotionen dabei so viel freien Lauf, dass die Rache in den Vordergrund rückt. Die Schamgrenze wird mitunter sogar so weit zurückgeschraubt, dass Staaten sogar offen über Rachepläne sprechen und sie nicht nur androhen. Sie wird sogar mit all ihrer Brutalität noch zur Schau gestellt.4 So sinken Staaten auf das Niveau der blindwütigen Nachbarn.
Im Grunde hat ein Staat, der sich die Rache zu eigen macht, seine Legitimation als Staat verloren. Zumindest wird das Vertrauen, dass Staaten die Ordnung auf einem legalen Weg herstellen und kontrollieren können, in Frage gestellt. Sie versagen bei der Aufgabe, die Rache von den Menschen fernzuhalten. Sie setzen sich sogar dem Verdacht aus, ob sie eine friedensstiftende Ordnung überhaupt wollen. Wen wundert es dann, wenn die Bürger dem Vorbild folgen und eigenen Rachegelüsten freien Lauf geben.
Rache überschreitet Grenzen. Oft genügt ein Vorwand. Der dahinter zum Vorschein kommende Hass wird ihre vermeintlichen Rechtfertigung. Er ist emotional so nachvollziehbar, dass er sogar eine Verurteilung erübrigt. Fragen werden nicht gestellt, weshalb die Rache auch politisch attraktiv sein kann. Kein Wunder also, wenn sie instrumentalisiert und in gewisser Weise sogar gepflegt wird. Es wird unterstellt, dass der Bürger diese Sprache versteht. Manche jedenfalls sind dafür empfänglich.
Wie kommt man da wieder heraus?
Die vorgreifliche Frage lautet, ob man da überhaupt wieder herauskommen will. Unterstellt, dass dem so ist, fällt die emotionsfreie Antwort leicht. Indem eine Ordnung hergestellt wird, die in der Lage ist, rechtswidriges Unrecht, auch wenn es von Staaten und Vereinigungen begangen wird, zu erkennen, zu ahnden und zu verurteilen. Das wäre eine Ordnung, wo Staaten und Institutionen ihre eigentliche Verantwortung wahrnehmen und zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie es nicht tun. Letztlich geht es darum, wie wir als Menschen und auch als Nationen miteinander umgehen. Es geht darum, Rache und Brutalität, Terrorismus oder wie es auch immer genannt werden will, in ein kriminelles Paradigma zurückzuführen. Dorthin übrigens, wo sie hingehören. Denn eine Verletzung kann nicht durch eine andere Verletzung geheilt werden.
Auch wenn es so scheint, ist Rache kein Gefühl. Sie ist eine soziale Interaktion und sagt mindestens ebenso viel über den Schädiger aus wie über diejenigen Menschen, Organisationen oder was auch immer, die sich die Rache zu eigen machen und sich ihrer bedienen.5 Es ist leicht gesagt, eine solche Ordnung herzustellen. Es ist fast unmöglich, wenn niedrige Beweggründe ihr im Wege stehen. Sie fördern die Polarisierung und mit ihr einen anderen, nicht eingestandenen Nutzen, der eine Vermittlung immer schwieriger macht.
Wie wäre es mit einer Mediation?
Die Mediation kann auch mit Rache umgehen. Sie ist sogar indiziert, weil sie die Reflexionen ermöglicht, denen sich beide Seiten zu stellen haben, wenn sie ein friedliches und geordnetes Zusammenleben ermöglichen möchten. Die Frage der Vergeltung ergibt sich dann daraus in einem zweiten Schritt. Die Mediation liefert auch die passende Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Paradigmenwechsel umgehen, der den Hass letztlich ermöglicht.6 Mediation heißt umdenken. Wer fängt damit an?
Arthur Trossen
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