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Das Opfer und die Opfer(bereit)schaft

Der Begiff Opfer hat gleich mehrere Bedeutungen. In der Religion ist ein Opfer die Darbietung für einen Gott. Daneben gibt es das Tatopfer. Damit ist das Opfer einer unerlaubten Handlung gemeint. Hier stehen sich Täter und Opfer gegenüber. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch das Beziehungsopfer. Die Bedeutung des Opfers und die Rolle, die das Opfer einnimmt, haben in der Mediation eine besondere Bedeutung, worauf sich dieser Beitrag einlässt.


Zunächst noch zur Begrifflichkeit: Ethymologisch betrachtet, wird das Substantiv Opfer auf das Verb opfern zurückgeführt. Das Verb entspicht dem Lateinischen operari, was so viel wie ausführen oder verrichten bedeutet. Eine andere Entsprechung führt auf das ebenfalls aus dem Lateinischen stammende Verb offerre zurück, was als darbringen oder schenken übersetzt werden kann.1

Opfer und opfern

Der ethymologische Zugang legt es fast nahe, an eine Freiwilligkeit der Darbietung zu denken. Das mag auf die Person zutreffen, die das Opfer erbringt, nicht aber unbedingt auf die, die zum Opfer wird. Gegenständlich kann ein Opfer sowohl ein Objekt, wie ein Lebewesen sein. Entscheidend ist die Abgrenzung zum Tausch. Zwar verfolgt die Opferung durchaus einen Zweck. Eine direkte Gegenleistung ist damit allerdings nicht verhandelt. Im Gegenteil, ein Opfer bei haltet immer etwas Schmerzliches. Ganz gleich, ob es die Person trifft, die das Opfer erbringt oder ob es die Person ist, die etwas Schlimmes erdulden muss.2 Menschen, die die etwas Schlimmes erdulden müssen, können auch die Opfer einer Umweltkatastrophe sein, wofür man kaum jemanden verantwortlich machen kann. Opfer können aber auch Menschen sein, die ihr Leid auf das Verhalten anderer zurückführen. Dann steht dem Opfer ein Täter gegenüber. Wenn das Verhalten des Täters eine Straftat darstellt, ist von einem Tatopfer die Rede. Mit dem Begriff des Beziehungsopfers wird die zur Benachteiligung führende Unterwerfung des Partners oder der Partnerin in einer Beziehung angesprochen.

Mit der Gegenüberstellung eines Täters eröffnen sich zwei entgegengesetzte Sichtweisen. Die des Täters, der keinen schmerzlichen Verzicht übt aber Schaden zufügt, und die des Opfers, dem etwas Schlimmes widerfährt. Das Strafrecht stellt die Tat und damit die Person des Täters in den Mittelpunkt der Betrachtung. Erst mit dem Täter-Opfer-Ausgleich kommt zunehmend auch die Situation des Opfers in den Fokus und die zwischen Täter und Opfer bestehende Beziehung. Den wissenschaftlichen Zugang zur Opferperspektive stellt die Viktimologie her, was einer Opferkunde gleich kommt. Wenn jemand in die Opferrolle gedrängt wird, ist auch von der Viktimisierung die Rede.

Das Opfer

Den Ausgangspunkt bildet immer die Überzeugung, dass dem Opfer Gewalt angetan wird. Zumindest im Strafrecht ist das mangelnde Einverständnis des Tatopfers stets die Voraussetzung einer Verurteilung. Ein Chirurg beispielsweise würde tatbestandlich eine Körperverletzung begehen. Weil der Patient jedoch mit diesem Eingriff einverstanden ist, liegt keine Straftat vor. §228 StGB besagt, dass eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person nur dann rechtswidrig ist, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Die Vorschrift besagt zum Einen, dass nicht jede Tat (oder Viktimisierung) durch Einwilligung gerechtfertigt werden kann. Sie bedeutet zum anderen aber auch darauf hin, dass ein Opfer unabhängig von der Frage der Strafbarkeit mit der Einwilligung in die Tat seine Opferrolle verlässt.

Was aber, wenn das Opfer gar nicht gefragt wird? In diesen Fällen wird an die Verletzung des Subjektstatus angeknüpft. Der Subjektstatus kann mit der im Grundgesetz erwähnten Unantastbarkeit der menschlichen Würde gleichgesetzt werden. Bei dem Subjektstatus geht es um die Frage, ob ein Opfer überhaupt gefragt werden muss. Mientus führt aus, dass diese Frage im Zusammenhang mit der transitional Justice (Vergangenheitsarbeit) am Beispiel der Exklusion der Zwangssterilisierten und der Euthanasie erforscht wurde. In diesen Fällen diente die Zuschreibung von Krankheit nicht nur zur Legitimation der Gewalt, sondern auch des fehlenden Einverständnisses. Die einfache Formel lautet, dass ein lebensunwertes Leben keine Existenzberechtigung hat.3 Dann genügt es für die Legitimation von Gewalt, wenn der Gegner einfach als behindert, als Terrorist oder als Nazi angesehen wird. Bitte beachten Sie, dass eine derartige Entwertung eines anderen Menschen nach unserem Grundgesetz den Subjektstatus kaum verändern kann. Artikel eins des Grundgesetzes besagt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.


Der Subjektstatus eines Menschen wird durch zwei Perspektiven belegt: Einmal die des Täters, der sich über den Willen des Opfers hinwegsetzt und auf der anderen Seite die des Opfers, das sich übergangen fühlt. Davon ausgehend, dass Täter und Opfer den gleichen Subjektstatus besitzen, handelt es sich bei der Opfergabe also gar nicht um eine Gabe. Das Opfer gibt ja nichts (oder will es zumindest nicht geben) und der Täter auch nicht, solange ihn der Verlust nicht trifft. Er nimmt einfach. Deshalb wäre es in diesen Fällen zutreffender, von einer Opfernahme zu sprechen. Deutlich wird aber auch, dass der Respekt vor dem anderen Leben und der Subjektivität des Opfers bei der Beurteilung der Opferachaft eine wichtige Rolle spielt. Die gefühlte Entwürdigung ist deshalb ein Thema, das in einer Mediation häufig zur Sprache kommt, wenn von einer Opferschaft die Rede ist.

Der Schaden

Zumindest wenn eine Täterhandlung zugrunde liegt, führt die Opferschaft stets zu einer (einseitigen) Schädigung. Es entsteht ein Ungleichgewicht. Dass es zu einem Schaden kommen muss, drückt sich im strafrechtlichen Opferverständnis aus. Tritt kein Schaden ein, ist der Straftatbestand nicht vollendet. Dann kann eine strafrechtliche Verurteilung nur noch wegen Versuchs erfolgen. §23 StGB besagt, dass der Versuch eines Verbrechens stets strafbar ist, der Versuch eines Vergehens allerdings nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt. Eine versuchte Beleidigung ist deshalb nicht strafbar. Eine versuchte Körperverletzung nach §223 Abs. 2 StGB aber durchaus. Mangels eines Schadens führt der Versuch allerdings nicht zu einer Opferschaft.

Das Straf- und Zivilrecht schaut stets auf die objektive Verletzung. § 823 BGB besagt z.B., dass die vorsätzliche oder fahrlässige, widerrechtliche Verletzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, des Eigentums oder des sonstigen Rechts eines anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Das Opfer wird neben dem tatsächlich eingetretenen Schaden auch die subjektive Verletzung, also z.B. die Demütigung nach vorne stellen und seine Opferrolle nicht ausschließlich an dem festmachen, was Juristen unter einer Straftat oder einer unerlaubten Handlung verstehen. Wenn dies auch juristisch unbeachtlich ist, würde die Mediation sehr deutlich zwischen der objektiv vorliegenden und der gefühlten Opferschaft unterscheiden und beides sehr ernst nehmen.

Die Wiedergutmachung

Was kann eine Tat ungeschehen machen? Eigentlich nichts. Vergangenheit ist Vergangenheit. Es ist aber zumindest theoretisch möglich, den Schaden weitestgehend zu kompensieren. Um die Möglichkeiten juristisch genau einschätzen zu können, ist eine Differenzierung zwischen dem zu leistenden Schadensersatz und dem Schmerzensgeld angebracht. Die Kompensationsansprüche ergeben sich aus dem Zivilrecht. Natürlich führt auch die strafrechtliche Verurteilung des Täters zu einer gewissen Genugtuung und einem Ausgleich. Die Vorstellung, dass der Täter ungestraft davon kommt, ist für ein Opfer meist unerträglich. Es widerspricht dem Gefühl von Gerechtigkeit.

Wenn die Tat zu einem bezifferbaren Schaden geführt hat, kann das Tatopfer grundsätzlich einen Anspruch auf Ersatz des durch die Tat verursachten Schadens geltend machen. Nach §249 BGB hat der zum Schadensersatz Verpflichtete den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Der Ersatz kann auch aus einer Geldleistung bestehen. Keinesfalls soll er das Opfer besser stellen, als vor dem Schadensereignis.

Bei der Wiedergutmachung richtet sich der zivilrechtliche Blick auch auf die nicht-materiellen Schäden. Um diese Schäden auszugleichen, gewährt das Recht dem Opfer einen Anspruch auf Schmerzensgeld. §253 BGB besagt, dass immaterielle Schäden nur auszugleichen sind. wenn dies im Gesetz geregelt ist. Bei der Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung kann nach dieser Vorschrift auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Für das sogenannte Schmerzensgeld muss der Täter aufkommen. Weil die Frage, was billig ist (damit ist nicht unbillig gemeint), mitunter schwierig zu entscheiden ist, wurden die dazu ergangenen Gerichtsentscheidungen in einer Schmerzensgeldtabelle zusammengefasst. Sie finden diese Tabelle u.a. bei den Berechnungshilfen.4

Die Entschädigung obliegt in bestimmten Fällen nicht nur dem Täter. Es gibt z.B. auch eine staatliche Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), eine Entschädigung durch den Entschädigungsfonds der Verkehrsopferhilfe e.V., eine Entschädigung von Opfern extremistischer Übergriffe, eine Entschädigung von Opfern terroristischer Anschläge usw.5

Schwieriger wird es, eine Entschädigung für die Opferschaft in einer Ehe oder in sonstigen sozialen Beziehung zu erhalten, wenn damit keine Straftat oder unerlaubte Handlung verbunden ist oder sich sonst kein Gesetz findet, das den Ausgleich regelt. Damit werden die Fragen der Beziehungsopferschaft angesprochen. Sie betrifft alle Fragen, wo in Beziehungen ein, zumindest für die eine Seite unerträgliches Ungleichgewicht entstanden ist, wofür der Beziehungspartner oder die -partnerin verantwortlich gemacht wird. Diese Schieflage ist ein häufiges Thema bei Familienangelegenheiten.

Mediation in familiären Angelegenheiten

Die Täter - Opfer Beziehung

Von außen betrachtet fühlt es sich nie gut an, wenn jemand zum Opfer gemacht wird. Die Außenwelt reagiert deshalb mit Bestürzung, Solidarität, Bedauern oder Mitleid. Zwar kann das Mitgefühl die Tat nicht ungeschehen oder wieder gut machen. In gewisser Weise kompensiert es jedoch den abgewerteten Subjektstatus des Opfers durch den Täter. Vielleicht ist die damit einhergehende Aufwertung des Opfers genau das, was die soziale Komponente der Opferrolle ausmacht.

Eine Täter-Opfer Beziehung entsteht selbst dann, wenn sich Täter und Opfer nicht kennen sind wenn der Schaden durch einen unbeabsichtigten Unfall herbeigeführt wurde. Je nachdem, wie sich die soziale Beziehung zwischen Täter und Opfer gestaltet, ergeben sich Auswirkungen auf die persönliche Befindlichkeit des Opfers und damit auch auf die Schadensabwicklung. Das Tateingeständnis und die Entschuldigung helfen dem Opfer, besser mit der Situation umzugehen und den Fokus vom Täter wegzulenken.

Beispiel 14370 - Ein Motorradfahrer erleidet einen Unfall, weil ein Autofahrer beim Überholen spontan und ohne zu blinken aus einer Kolonne ausgescherte, die der Motoradfahrer gerade am überholen war. Der Motoradfahrer erlitt körperliche Schäden, weshalb er löngere Zeit im Krankenhaus lag. Obwohl er den Unfallverursacher vorher nie gesehen hatte und ihn auch nicht kannte, wartete er darauf, dass der Unfallverursacher ihn besucht, sich entschuldigt und sein Mitgefühl und Bedauern ausdrückt. Weil dies nicht geschah steigerte sich die Wut des Unfallopfers, das den Täter zunehmend als rücksichtslos ansah.


Dass sich eine intensive Beziehung zwischen Täter und Opfer entwickeln kann, belegt auch das sogenannte Stockholm-Syndrom. Das Stockholm-Syndrom bezeichnet das psychologische Phänomen, wo Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen.6 Das kann so weit gehen, dass sie die Entführer in Schutz nehmen oder ungehalten auf deren Festnahme reagieren und sogar um Gnade für die Entführer bitten. Damit auch der Täter ein Mitgefühl mit dem Opfer entwickelt, wird bei Entführungen empfohlen, mit den Entführern eine Beziehung aufzubauen, indem über Privates, wie etwa die Familie und die Kinder gesprochen wird.7 Das dahinter liegende Prinzip ist, Verständnis für die Lage des jeweils anderen aufzubauen.

Das Stockholm Syndrom zeigt, dass nicht nur der Täter die soziale Beziehung zum Opfert definiert. Auch die Beziehung selbst kann zur Übernahme der Opferrolle führen. Damit wird das Beziehungsopfer angesprochen. Hier gibt es meist keine eindeutige Tat. Möglich ist allerdings ein nachhaltiger Geschehensprozess, bei dem es zu auf Dauer angelegten, als destruktiv empfundenen Handlungen kommt. Weil das Beziehungsopfer einen Einfluss auf die Handlungen hat und diese Einschätzung oft auch erst erst beim Scheitern der Beziehung aufkommen, wird die Frage der Opferschaft gegebenenfalls ganz unterschiedlich bewertet. Manchmal hat es sogar den Eindruck, als würde sich das Opfer in seiner Rolle recht wohl fühlen und sich sxelbst diese Rolle zuschreiben.

Beispiel 14368 - Wir befinden uns in einer Auseinandersetzung vor dem Familiengericht. Die Parteien verhandeln in Gegenwart der Anwälte und des Gerichts über den nachehelichen Unterhalt. Der Ehemann macht einen Vorschlag. Sein Anwalt warnt ihn, dass der Betrag zu hoch sei. Der Richter hält ihn zurück und meint, die angebotene Zahlung läge durchaus noch in einem rechtlich möglichen Bereich. Die Ehefrau überlegt. Sie wirkt in sich versunken. Nach einer Weile lehnt sie den Vorschlag ab. Sie weist darauf hin, dass sie sich nicht ausreichend unterstützt fühle. Der Ehemann erhöht daraufhin sein Angebot. Jetzt weist der Richter darauf hin, dass diese Zahlung höher wäre als ein mögliches Urteil. Der Ehemann sagt, das sei mir egal, er wolle, dass seine Frau zufrieden sei. Die Frau überhört das Motiv. Sie überlegt eine Weile und lehnt den Vorschlag dann wieder ab. Sie erwähnt die gleichen Gründe wie zuvor. Der Mann erhöht sein Angebot ein weiteres Mal. Die Ehefrau reagiert auf die gleiche Weise wie zuvor. Das Spiel zwischen den Eheleuten geht eine Zeit weiter, bis der Mann plötzlich völlig entnervt seine Frau anschreit: "Weißt Du was? Du kriegst überhaupt nichts von mir. Jetzt konnte der Richter die Ehefrau beobachten. Sie erhob sich wieder Phönix aus der Asche und wurde plötzlich sehr aktiv. In einem vorwurfsvollen Ton schrie auch sie ihren Mann an und sagte: "Siehst Du, so hast du mich immer behandelt du hast nie Rücksicht auf mich genommen ...". Die Frau war kaum noch zu bremsen. Offenbar hatte sie sich in der Rolle wiedergefunden, in der sie zu Hause war. Es kam zu einer Verurteilung, wobei der zu zahlende Betrag des Ehemannes weit unterhalb seines Angebotes lag. Die Ehefrau war zufrieden.

Die Oferrolle

Mit dem Begriff der Opferrolle wird die Haltung des Opfers beschrieben, aus der Heraus einem anderen, dem (vermeintlichen) Täter die Schuld für das erlittene Leid oder das Schicksal zugeschrieben wird. Wie bereits erwähnt, gibt es zwei Sichten auf das Opfer und seine Rolle. Die eine Sicht ist die des Täters, der das Opfer in diese Rolle drängt (Viktimisierung), die andere ist die des Opfers, das die Rolle annimmt oder annehmen muss oder sich in dieser Rolle auch abweichend von der Tätersicht wähnt und bewegt.

Menschen gehen sehr unterschiedlich mit ihrem Schicksal um. Manche, die etwa nach einem Unfall beide Beine verloren haben, rappeln sich auf und werden zu Athleten der Paralympics.8 Anderen hingegen gelingt es kaum, die Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und aus der Opferhaltung herauszufinden. Zugegeben, die Opferschaft impliziert eine Hilflosigkeit, eine Einschränkung und damit korrespondierend auch ein Gefühl der Ohnmacht und der Behinderung. Ob das Opfer aber wirklich ohnmächtig und hilflos ist, hängt sehr von dem Ereignis, den Modalitäten, der Ausgestaltung der Täter-Opfer-Beziehung und vor allem der Persönlichkeit des Opfers ab. Die Haltung des Opfers und seine Einstellung zu sich und dem Leben spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mai behauptet sogar, dass es vielen Menschen gefiele, trotz der Ohnmachtsgefühle, in die Opferrolle zu schlüpfen. Er meint, diese Rolle gäbe den Opfern das Gefühl einer moralischen Überlegenheit.9 Das Phänomen ist im Dramadreieck zu beobachten, wo die Rolle zwischen Täter, Opfer und Retter als ständig wechselnd beschrieben wird.

In gewisser Weise bietet die Opferrolle eine Komfortzone. Wenn der Täter für das eigene Schicksal verantwortlich gemacht wird, muss der Täter etwas tun und nicht das Opfer. Ohne es zu merken, begibt sich das Opfer mit dieser Haltung jedoch in die Hand des Täters. Es liefert sich dem Täter sozusagen aus Oder es fühlt sich ausgeliefert, wenn darin kein aktiver Prozess gesehen wird. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Man sollte annehmen, dass sich das Opfer doch eigentlich aus der Abhängigkeit vom Täter lösen will. Es stellt sich also die Frage, ob ihm die Abhängigkeit bewusst ist und gegebenenfalls, ob ich hier auflösen will. Es ist absolut nachvollziehbar, wenn der Täter zur Rechenschaft gezogen wird. Das Opfer begibt sich jedoch in eine ausweglose Situation, wenn damit die Vorstellung verbunden wird, selbst nichts ändern zu müssen. Statt sich vom Täter unabhängig zu machen, wird die Abhängigkeit verstärkt, wenn das Opfer glaubt, dass sich die eigene Situation nur noch verändern lässt, wenn der Gegner etwas unternimmt.

Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit geht oft mit der Opferrolle einher. Und ja, die Optionen sind vielleicht eingeschränkt. Eine Wahl besteht dennoch. Wenn das Opfer sich dazu bekennt, aus der Opferrolle herauszukommen, wäre es kontraporduktiv, nach den Ursachen der Opferschaft zu forschen. Das würde die Gedanken in der Opferrolle festhalten. Sinnvoller ist es zu fragen, welches Gefühl sich einstellen muss, damit man sich nicht mehr als Opfer sehen muss und seine Handlungsfähigkeit zurückbekommt.

Beispiel 14384 - Es war eine schwierige Scheidung. Die Parteien stritten um jeden Punkt. Die Ehefrau machte dem Mann viele Vorwürfe und klagte über ihre Benachteiligung, wofür sie den Mann verantwortlich machte. Der Prozess zog sich hin und verschlang eine Menge an Kosten. Eines Tages änderte sich die Situation. Die Ehefrau klagte nicht mehr. Sie sagte: "Was bin ich blöd, dass ich mich auf Dich eingelassen habe". Diese Erkenntnis wirkte auf sie wie ein Befreiungsakt. Sie hat das Heft wieder in die Hand genommen. Auch ihr Auftreten im Prozess wirkte wesentlich selbstbewusster.


In dem Beispiel hat die Ehefrau die Verantwortung für ihr eigenes Tun übernommen. Das war ihre mentale Befreiung. Um sich vom Gegner zu lösen hilft oft auch eine Verzeihung. Was viele nicht wissen ist, dass die Verzeihung nicht dem Gegner zuliebe erfolgt. Sie muss auch nicht bedeuten, dass der Gegner aus der Schuldhaft entlassen wird. Lediglich die Sühne wird ihm erspart. Den größten Vorteil hat aber die Person die verzeihen kann. Durch das Verzeihen löst sie sich vom Gegner. Es ist also ein Akt der (emotionalen) Befreiung.

Bedeutung für die Mediation

Viele Kulturen setzen die Versöhnung als ein Mittel der Konfliktbeilegung ein. Ein Beispiel dafür ist das Ho’oponopono, das fälschlicherweise auch als Hawaiian Mediation bezeichnet wird. Die Mediation geht noch weiter. Ihre Vorteile bestehen darin, die Opferrolle zu thematisieren und der Täterolle gegenüberzustellen. Die Mediation bewirkt eine Verstehensvermittlung, was zum Aufbau von Mitgefühl führen kann. Die Mediation stärkt das Opfer, schon damit es auf gleicher Augenhöhe verhandeln kann und eine verantwortliche Entscheidung trifft. Um den Konflikt beilegen zu können, thematisiert sie die Konfliktbetroffenheit und damit auch die Verantwortung für die Konfliktbeilegung. Die Selbstverantwortung wird gestärkt, die Handlungsfähigkeit wird wieder hergestellt. Um die Partei zu stärken, lässt sich die Mediation auf die Risikio- und Schutzfaktoren der Resilienz ein, sodass die Partei erkennt, was sie braucht, um die Opferrolle zu verlassen.

Was tun wenn ...

Hinweise und Fußnoten

Bitte beachten Sie die Zitier - und Lizenzbestimmungen

Bearbeitungsstand: 2022-05-03 22:56 / Version 19.

Alias: Viktimologie
Siehe auch: Mobbing,
Prüfvermerk: -

5 Siehe die Aufstellung in Polizeiberatung (Recht auf Entschädigung) - 2021-12-19
7 Anleitung bei einer Ausbildung des Autors für den Einsatz in Krisengebieten.
9 Siehe Mai (Opferrolle) - 2022-05-02


Based on work by Arthur Trossen
Seite zuletzt geändert am Freitag November 1, 2024 05:24:57 CET.

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