Für Psychologen sind Märchen, psychologisch interessante Prosaerzählungen, weil sie eine Projektionsfläche der menschlichen Ängste und Wünsche darstellen und jeder Mensch wichtige Strukturen seiner kindlichen Identität über die Auseinandersetzung mit Märchen entwickelt.1 Darum geht es hier sicherlich nicht. Es geht auch nicht darum, unerwartete und unerwünschte Veränderungen zu beschreiben, die in der Mediation passieren können.2 Die Anlehnung an das Märchen Rumpelstilzchen und die Einführung des Rumpelstilzcheneffektes liegt deshalb nahe, weil der Konflikt Eigenschaften aufweist, die auch dem Kobold des Märchens zuzuschreiben sind. Darüber hinaus zeigt die Geschichte im Märchen der Brüder Grimm, wie man den Kobold, der nicht wirklich gut und böse ist, und manchmal sogar als der Held des Märchens angesehen wird, wieder los wird.3
Ob der Konflikt der Held der Mediation ist, mag dahinstehen. Trotzdem kommen wir der Bedeutung des Rumpelstilzcheneffektes etwas näher, wenn Sie das Rumpelstilzchen mit einem Symbol für Konflikte gleichsetzen. Das Märchen deckt typische Eigenschaften auf, die auch dem Konflikt zu eigen sind. Dazu zählt bereits sein Name. Der Name Rumpelstilzchen setzt sich aus zwei Worten zusammen. Dem Wort Rumpel und dem Wort Stilzchen. Rumpel kommt vom rumpeln, was poltern oder Lärm verursachen bedeutet. Der Namensteil Stilzchen stammt vom Wort Stelzen, also Stütze ab. So wie der Name sagt, erscheint Rumpelstilzchen immer unaufgefordert, unerwartet und wenn man es am wenigsten gebrauchen kann. Es verursacht immer ein schlechtes Gefühl. Mitunter löst es sogar existenzielle Ängste aus. Aber Rumpelstilzchen zeigt sich nicht nur von der dämonischen Seite. Es weist auch darauf hin, wie es zu beseitigen ist. Demnach genügt es, seinen wahren Namen zu nennen.
In allen Eigenschaften von Rumpelstilzchen finden Sie auch den Konflikt wieder. Auch der Konflikt neigt zum Poltern und Rumpeln. Er erscheint immer unaufgefordert zur Unzeit und wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann. Auch löst er stets schlimme Gefühle aus. Wie Rumpelstilzchen gibt er aber auch Hinweise, wie man ihn los wird. Wenn das Rumpelstilzchen also als ein Synonym für den Konflikt gesehen werden kann, ergibt die Analogie die Aufforderung, den richtigen Namen dtextes Konfliktes zu nennen. Wie im Märchen ist es wichtig, dass der Name nicht von Dritten, sondern von der konfliktbetroffenen Person selbst erkannt und genannt wird. Es muss allerdings der richtige Name sein.
Der richtige Name
Hinter der Beobachtung steht die Erfahrung, dass die Macht des Bedrohlichen oft verloren geht, wenn die Bedrohung erkannt wird. Volkert meint, dass die Benennung des Übels die Überzeugung nach sich zieht, dass jemand Macht über etwas gewinnt, dessen Name er aussprechen kann. Seiner Auffassung nach nutzen Psychptherapeuten psychologische Phänomen, um z.B. aus einer Blockade mit diffusen Ängsten heraus zu kommen. Aber auch in der somatische Medizin werde der Rumpelstilzchen-Effekt vielfach als eine Form des Placebo-Effekts beschrieben.4 Hier ist allerdings etwas anderes damit gemeint. Sicher hilft es, wenn der Konflikt beim Namen genannt werden kann. Wenn die Partei weiß, dass der Gegner ein narzisstischer Idiot ist und es ihm ins Gesicht sagen kann, wird sie das vielleicht als ein Machtgewinn begreifen. Viel ist ihr damit aber nicht geholfen. Deshalb geht es beim Rimpelstilzcheneffekt der Mediation auch eher darum, den Konflikt zu erkennen.
Der richtige Name (des Konfliktes) heißt nicht: "Du bist schuld!", oder: "Du machst alles falsch!", oder: "Du bist der Grund warum es mir schlecht geht!". Solche Namen bewirken nur Erwartungen an die andere Streitpartei, die womöglich bestritten werden. Nicht nur das. Die andere Partei gibt dem Konflikt womöglich den gleichen Namen: "Du bist schuld!", oder: "Du machst alles falsch!", oder: "Du bist der Grund warum es mir schlecht geht!". Es wird deutlich, dass diese Namen nicht dazu beitragen, dass sich der Konflikt auflösen kann. Im Gegenteil! Diese Namen halten Rumpelstilzchen am Leben. Was also ist der richtige Name von Rumpelstilzchen? Was ist der Name, der den Konflikt beilegt und der dazu führt, dass sich Rumpelstilzchen in sich selbst auflöst?
Den Namen finden
Der richtige Name von Rumpelstilzchen ist die korrekte Benennung des Konfliktes. Weil der Konflikt zwar von außen veranlasst wird, aber im Inneren stattfindet, betrifft der Name einen inneren, nicht einen äußeren Tatbestand. Er findet sich über die Frage: "Was in mir macht mich so wütend und betroffen?" oder "Wovor habe ich Angst?". Sobald es eine Antwort auf diese Fragen gibt, zeigt sich der Weg in die Konflikt(auf)lösung.
Jetzt wird deutlich, warum es so wichtig ist, dass der Mediator eine korrekte Konfliktanalyse durchführt und den Parteien die Möglichkeit gibt, den Konflikt selbst zu analysieren. Es ist ein Merkmal des Konfliktes, dass er sich erhalten will. Das gelingt ihm am besten, wenn er Chaos stiftet, wenn er verwirrt oder Symptome zeigt, die in die Irre leiten5 . Wie bei Rumpelstilzchen gibt es aber auch Anhaltspunkte dafür, wo sein wahrer Kern (seine Identifikation) zu finden ist. Es ist ein Teil des mediativen Klärungsprozesses, diese Anhaltspunkte herauszuarbeiten - und zwar so, dass die Parteien den Konflikt selbst identifizieren können.
Die Eigenverantwortung
Der korrekte Name von Rumpelstilzchen ergibt sich nicht aus der Sicht auf das Gegenüber. Er hat alle Seiten im Blick und betrachtet den Konflikt als Ganzes. Er sieht beide Seiten und deren Einfluss auf das Konfliktgeschehen. in dem Moment, wo den Parteien diese Sicht möglich wird, sind sie in der Lage, den Konflikt zu lösen. Oft geschieht es, dass in dem Moment, wo die Parteien ihre eigene Verantwortlichkeit am Konfliktgeschehen erkennen, sich der Konflikt auflöst. Der richtige Name von Rumpelstilzchen lautet deshalb: "Der Konflikt ist ... und wir beide tragen Verantwortung dafür, dass er beigelegt werden kann".