Die Wahrheit und die Wirklichkeit
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Hier geht es um die zentrale Frage der Wahrheit. Die Ausführungen stehen mit folgenden Beiträgen im Zusammenhang;
Verstehen Wahrheit Realitätsverlust Wahrnehmung Denken Realitätsverlust Beweiserhebung
Die Frage nach der Wahrheit ist ein hochkomplexes philosophisches Problem. Sie spielt aber auch in der Mediation eine wichtige Rolle, besonders, wenn die Parteien sich darauf berufen und genau wissen, was wahr und falsch ist. Der Mediator sollte die Unterschiede kennen und wissen, wie damit umzugehen ist.
Abgrenzungsbedarf
Die Begriffe Wahrheit, Wirklichkeit und Realität werden oft synonym verwendet und dennoch unterscheiden sie sich.1 Die Wirklichkeit ist oder weist auf etwas, das wirksam ist, das sich verwirklichen kann. Ihr Gegenteil ist die Unwirklichkeit. Die Wahrheit ist das Erkennen der Wirklichkeit. Das Gegenteil davon ist das Unwahre oder die Illusion. Der Begriff Realität wird mit Wirklichkeit übersetzt. Immerhin leitet sich das Wort vom Lateinischen Res, die Sache ab. Gemeint ist die Gesamtheit des Realen, womit angesprochen wird, was bereits verwirklicht ist. In diesem Fall ist ihr Gegenteil das Potenzial, welches noch nicht entfaltet ist. Der zitierte Artikel verwendet ein anschauliches Beispiel, um die Unterschiede herauszustellen:
Die klassische Definition von Wahrheit findet sich schon bei Aristoteles. Sie ist demnach die Übereinstimmung von „Sache“ (Sachverhalt) und „Wort“ (Benennung). Es geht also um die Übereinstimmung von Aussagen oder Urteilen mit einem Sachverhalt, einer Tatsache oder der Wirklichkeit im Sinne einer korrekten Wiedergabe.2
Schon Peirce hatte auf die Perspektivenabhängigkeit der Wahrnehmung hingewiesen und bei der Frage nach der Überteinstimmung von Sache und Benennung auf den Interpretanten hingeweiesen, woraus er das semiotische Dreieck eingeführt hat, das aus folgenden Eckpunkten besteht:3
- Signifikat: die Sache oder etwas, das bezeichnet werden soll (das Bezeichnete)
- Signifikant: das bezeichnende Wort (das Bezeichnende) und
- Interpretant: die Position von der aus diese Übereinstimmung betrachtet wird.
Mithin belegt schon die Semiotik, dass die Wahrheit relativ ist. Und so verhält es sich auch mit der Beurteilung der Frage, was richtig oder wahr und falsch oder unwahr ist. Wenn die Wahrheit einen Realitätsbezug aufweist, kommt die Wirklichkeit ins Spiel. Und hier stellt sich die gleiche Frage.
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Die Frage nach der Wirklichkeit beantwortet der radikale Konstruktivismus auf eine verblüffende Art und Weise. Er geht davon aus, dass wir Menschen die Welt nicht VORfinden, sondern dass wir sie ERfinden. Die völlige Subjektivität der Wahrnehmung ist das Radikale im Konstruktivismus. Watzlawick erläutert diesen Gedanken anhand von Beispielen. Er beschreibt die Relativität der Wahrnehmung, besonders im menschlichen Beziehungsgefüge. Die Bedeutung einer Handlung, eine der wichtigsten Fragen in der Mediation, bleibt unserer Wahrnehmung verschlossen.
Dieses Video zeigt einen Vortrag von Paul Watzlawick. Es handelt sich um die aufgezeichnete Sendeung Nachstudio von Radio Kultur. Die Aufzeichnung erfolgte in der ersten Hälfte der 90-er Jahre. Es geht um die Frage, wie wir uns die Welt erfinden.
Watzlawick weist darauf hin, dass er sich als Therapeut letzten Endes immer mit der Art und Weise auseinanderzuetzen hat, wie Menschen mit der Wirklichkeit fertig werden oder fertig zu werden versuchen oder an ihr scheitern und wie verschiedenste Annahmen im Scheinbar für die wahre Wirklichkeit gehalten werden und dann bei ihrem Zusammenbrechen eben jene Zustände erzeugen für die sich die Psychotherapie zuständig hält, ohne es wirklisch zu sein. Möglicherweise geht es nur darum, die Wirklichkeit anders wahrzunehmen und zu bewerten.
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Eintrag im Videoverzeichnis erfasst unter Wie wirklich ist die Wirklichkeit
Grundlage ist die Vorstellung, dass die Vorstellung von Realität stets ein Produkt der persönlichen Wahrnehmung sei, die basierend auf Erfahrungen und Einschätzungen geprägt wird. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass die Wahrheit erfunden und nicht gefunden wird.
Diese wichtige Erkenntnis wird zu einem entscheidenden Argument für das Verständnis anderer Menschen und die Erklärung menschlichen Handelns. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Mediationsarbeit. Sie mag erklären, wie es sein kann, dass zwei Parteien das dieametral Entgegengesetzte behaupten und jede Partei sich im Recht fühlt, weil sie die Wahrheit doch kennt. Die Selektion der Wahrnehmung spielt dabei eine wichjtige Rolle. Sie hat System.
Die Wirklichkeit ist im wörtlichen Sinne unbegreiflich und deshalb immer nur ein individuell theoretisches Konstrukt. Alles was wir wahrnehmen wird auf dieses Konstrukt bezogen. Das Phänomen der unterschiedlichen Wirklichkeiten und ihrer Beziehung zu Kommunikationsvorgängen beschreibt die folgende Parabel:
Es gibt keine absolute Wirklichkeit. Stattdessen gibt es nur subjektive, zum Teil völlig widersprüchliche Auffassungen von der Wirklichkeit. Die Annahme, dass die eigene subjektive Wirklichkeit der "wirklichen" Wirklichkeit entspricht, ist ebenso unergiebig wie riskant. Watzlawick hat die wahrnehmbare Wirklichkeit in 2 Ordnungen eingeteilt:
- Wirklichkeit 1. Ordnung
- Es handelt sich um Wirklichkeitsaspekte, die auf dem Konsens der Wahrnehmung der Beteiligten und auf experimentellen, wiederholbaren und daher verifizierbaren Nachweisen beruhen. Die Wirklichkeit 1. Ordnung ist mit naturwissenschaftlichen Methoden in physikalischchemischen Kategorien eindeutig beschreibbar.
- Wirklichkeit 2. Ordnung
- Welche Bedeutung und welchen Wert im weitesten Sinne Tatsachen, Fakten oder Gegenstände, der Wirklichkeit 1. Ordnung einzunehmen haben, ist von deren Wirklichkeit 1. Ordnung völlig verschieden und keineswegs eindeutig festgelegt. Die Bedeutung ist in hohem Maße subjektiv und arbiträr. Insofern gibt es von ein und derselben Sache sehr viele Wirklichkeiten 2. Ordnung, von denen jede subjektiv und für sich gesehen "wirklich" ist. Die subjektive Wirklichkeit dieser Ordnung ist so überzeugend wirklich, dass die Tatsache mehrerer verschiedener Wirklichkeiten schnell geleugnet wird.
Da die subjektive Wirklichkeit der 2. Ordnung ausschlaggebend für die Bedeutung der Wahrnehmungen ist, wird diese Wirklichkeit auch die Bedeutungswirklichkeit genannt. Das Herausarbeiten der hinter den Aussagen der Medianden verborgenen, unterschiedlichen Bedeutungswirklichkeiten ist eine der wichtigsten Aufgaben des Mediators.
Was ist wahr?
Viele Menschen, die in Verhandlung miteinander treten, gehen davon aus, dass nur die eigene Wirklichkeit, also die subjektive Sicht, der (wahren) Wirklichkeit entspricht und die Wirklichkeit der Verhandlungspartner unwahr ist. Ja es ist schwer, das nicht Sichtbare zu akzeptieren.
So lautet die ungläubige Reaktion der Parteien, wenn die ersten Zweifel bei der Auseinandersetzung mit anderen Sichten aufkommt. Die Aussage kennt wahrscheinlich jeder Mediator. Die eigene Wahrnehmung sugeriert immer die Vollständigkeit. Es ist deshalb schwer das nicht sichtbare für wahr zu halten. Geht es aber wirklich um das real Sichtbare oder lediglich um die Bedeutung, die der Wahrnehmung zugeschrieben wird? Wann ist eine Lüge eine Lüge und wer entscheidet überhaupt darüber, was wahr ist und was nicht?
Die Bedeutungswirklichkeit
Der Mediator muss die feststehende reale Wirklichkeit der 1. Ordnung von der Bedeutungswirklichkeit unterscheiden können. Es ist keinesfalls seine Aufgabe darüber zu entscheiden was wahr ist oder nicht. Wohl mag er hinterfragen, wozu es wichtig ist die Wahrheit zu kennen. Wenn er das Motiv kennt, kommt es auf die Wahrheit möglicherweise gar nicht mehr an. Dann besteht die Aufgabe des Mediators darin, die unterschiedlichen Sichtern herauszustellen, das Feststehende vom Nichtfeststehenden zu differenzieren, um dann, in einem weiteren Schritt, eine gemeinsame Sicht auf die Realität zu finden oder zu ermöglichen. Konstruktivistisch gesprochen geht es darum, ein gemeinsames Konstrukt der Realität herzustellen.
Diese Herangehensweise ist ein wesentlicher Schritt der Verstehensvermittlung. Er verhindert, dass die Partei den Konflikt aus nur einer als real empfundenen Sicht sieht, sodass sie die jeweils andere Partei von ihrem Standpunkt als dem einzig wahren zu überzeugen versucht. Ein solcher Versuch wird stets misslingen, solange die andere Partei deren Sicht als die einzig wahre versteht.
Ein Streit über die Fakten lohnt sich nicht, weil die Fakten nachweisbar sind. Ein Streit über die Bedeutungswirklichkeit lohnt sich aber genauso wenig, weil es sich letztlich um Einschätzungen, Interpretationen oder Bewertungen, also um Meinungen handelt.
Die Bedeutung von Fakten, Meinungen und Emotionen
Konflikte lassen sich nicht durch Argumente oder durch das Überzeugenwollen der anderen Person von der Wahrheit des eigenen Konstrukts lösen, sondern nur durch das Verstehenwollen des Konstrukts der anderen Person. Unterstellen Sie also Behauptungen einer Partei über die Bedeutungswirklichkeit einfach immer als wahr. Das spart Zeit und Kraft. Die Mediation unterstützt Sie in diesem Prozess. Ihr kommt es, anders als im juristischen Denken, nicht darauf an, die Richtigkeit eines Konstruktes zu begründen. Sie stellt die Konstrukte einfach nebeneinander, weil es sich nur so herausfiunden lässt, wo es Übereinstimmungen und Abweichungen gibt.
Die Bedeutungsklärung
Es ist (nicht nur in der Mediation) außerordentlich wichtig, den Bedeutungen auf den Grund zu gehen. Wir neigen dazu, Bedeutungen zu verschleiern. Beim Framing zum Beispiel werden andere Worte benutzt, um die wahre Bedeutung des Gesagten mit positiven oder negativen Assoziationen zu verknüpfen. Ein Mediator sollte auf derartige Manipulationen nicht hereinfallen. Schon die Semiotik beweist die Relativität einer Aussage, indem Sie die Übereinstimmung von der Sache (also das was bezeichnet werden soll, das Bezeichnete oder das „Signifikat“) mit dem bezeichnenden Wort (also das Bezeichnende oder das „Signifikant“) und die Position (von der aus diese Übereinstimmung betrachtet wird) hinterfragt.4
In der Mediation findet die Klärung der Bedeutungen schwerpunktmäßig in der dritten Mediationsphase statt. Um der Bedeutung einer Aussage, einer Nichtaussage oder einer nonverbalen Äußerung auf den Grund zu gehen, kann die Technik der Bedeutungserhellung angewendet werden. Sie deckt sich mit der Motiverhellung, sweil sich die Bedeutungen letztlich aus den Motiven ableiten lassen. Die heraqusgearbeiteten Bedeutungen geben Hinweise auf die Vorstellungswelt der Parteien und deren Sicht auf die Wirklichkeit. Zusammen mit der Technik des Dimensionierens, genauer gesagt mit der Unterscheidung von Fakten, Meinungen und Emotionen lassen sich die valiierbaren Fakten herausstellen, die gegebenenfalls für die Wahrheitsfindung eine Rolle spielen. In der Kommunikation wird die Synchronisation über das Loopen hergestellt, das die Bedeutungserhellung und das Dimensionieren zusammenführt..
Bedeutungserhellung Dimensionieren Loopen
Der Realitätsverlust
Wie verhält sich der Konstruktivismus bei einem Realitätsverlust, gibt es das dann überhaupt noch? Von einem Realitätsverlust ist die Rede, wenn der Mensch aufgrund seines geistigen Zustandes nicht mehr in der Lage ist, die Situation, in der er sich befindet, zu begreifen. Die Sicht auf die Wirklichkeit und unsere Vorstellung davon, sind also abhängig von der Fähigkeit, die Situation, in der wir uns befinden korrekt einzuschätzen. Es kommt darauf an, das eigene Handeln mit der Objektivität der realen Welt und der Denkweise seines Umfeldes in Einklang zu bringen. Ist diese Fähigkeit nicht mehr gegeben, ist eine psychiosche Erkrankung indiziert.
Bedeutung für die Mediation
Zwei Parteien sind zwei Wirklichkeiten, die sich im Widerspruch erleben. Der Mediator kann nachvollziehen, dass jede Partei in ihrer Wirklichkeit "recht hat", ohne dass sich die Parteien widersprechen. Bezieht sich der Widerspruch auf Fakten, lässt sich erheben, was wirklich ist. Sie betreffen die Wirklichkeit 1. Grades, weil Fakten messbar und evaluierbar sind. Lediglich die Bedeutungswirklichkeiten können Konstrukte sein, die voneinander abweichen. Der Mediator versucht, dies den Parteien zu vermitteln, indem er die Bedeutungen hinterfragt und als Meinung identifiziert. Das präzise Zuhören ist sein Werkzeug. Die unterschiedlichen Konstrukte müssen verstanden werden, um die Parteien zu verstehen. Die Bedeutungszuschreibung erlaubt einen Rückschluss auf die Person und letztlich ihre Persönlichkeit und Bedürfnisse. Hier findet der Mediator wichtige Anhaltspunkte in Phase 3, mit denen sich die Kriterien für eine Lösung ermitteln lassen. Zunächst werden die Konstrukte nur nachvollziehbar gegenübergestellt. Ob sie geklärt werden müssen, um die Wahrheit zu ergründen, ist eine andere Frage. Die Mediation kann diese Frage übergehen, indem sie das Bild von der anzustrebenden heilen Welt erzeugt,5 wo es auf die (zu überwindende) Wirklichkeit gegebenenfalls nicht mehr ankommt. Streitige Fakten, die dann noch entscheiodungserheblich sind, werden erst in der 4.Phase geklärt.
Was tun wenn ...
- Die Partei hat eine einseitige Wahrnehmung
- Die Partei beruft sich auf alternative Fakten
- Die Partei lügt
- Weitere Empfehlungen im Fehlerverzeichnis oder im Interventionenfinder
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Aliase: Bedeutungswirklichkeit, Wirklichkeit, Bedeutung
Siehe auch: Konstruktivismus, Lügen
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