Epiktet war ein bedeutender Philosoph der späten Stoa. Für ihn war Philosophie eine Lebensweise und nicht nur eine theoretische Disziplin. Seine Lehre liefert wertvolle Impulse für die Bestimmung der Haltungsanforderungen eines Mediators. Sie betont die Selbstreflexion, die emotionale Kontrolle und sowohl die Fokussierung als auch die Bestimmung von dem, was in unserer Macht liegt. Generell würde die stoische Philosophie nicht nur helfen, aktuelle Krisen der modernen Welt zu überwinden.1 In ihrer epiktetischen Prägung bietet sie auch Aspekte, die für Mediatoren elementar sein sollten und sich sogar in einem eigenen Mediationsstil wiederfinden.2

Der Werdegang des Philosophen

Der Lebenslauf von Epiktet mag determinierend sein für den philosophischen Gedanken. Epiktet wurde etwa um das Jahr 50 n. Chr. in Hierapolis (heutiges Pamukkale, Türkei) in der römischen Provinz Phrygien geboren. Er war von Geburt an ein Sklave und wurde nach Rom gebracht, wo er im Haus von Epaphroditus, einem einflussreichen Freigelassenen und Sekretär Kaiser Neros, lebte. Trotz seines Sklavenstatus erhielt Epiktet eine hervorragende Ausbildung in Philosophie. Er durfte die Vorlesungen des stoischen Philosophen Musonius Rufus besuchen, der ihn entscheidend prägte. Epiktet zeigte früh eine tiefe innere Überzeugung von der stoischen Lebensweise. Nach seiner Freilassung begann Epiktet, selbst als Philosoph und Lehrer zu wirken. Etwa um das Jahr 93 n. Chr. wurde er, wie viele andere Philosophen auch, unter Kaiser Domitian aus Rom verbannt. Er ließ sich daraufhin in Nikopolis in Epirus (im heutigen Griechenland) nieder, wo er eine eigene philosophische Schule gründete. Seine Lehre war stark von der praktischen Ethik der Stoa geprägt. Er selbst hinterließ keine Schriften. Seine Philosophie ist durch die Mitschriften seines Schülers Flavius Arrian überliefert. Sie findet sich in den "Diatriben" (Gespräche) und im "Encheiridion" (Handbüchlein der Ethik) wieder.

Die Philosophie von Epiktet

Epiktet entwickelte eine Philosophie der inneren Freiheit und Selbstbeherrschung. Resilienz und Eigenverantwortung stehen im Mittelpunkt. Die Kontrolle über eigene Urteile und die Akzeptanz des Unkontrollierbaren wird betont. Die Reduktion auf das Machbare wird als bereicherndes Potenzial gesehen und nicht als Einschränkung. Seine Philosophie stellt die Zweigliedrigkeit der Kontrolle heraus. Die Kontroll-Dichotomie ist ein fundamentale Prinzip. Sie teilt alle Aspekte der Existenz in die folgenden beiden Kategorien ein:3

Von den Dingen in der Welt sind manche in unserer Macht, andere sind nicht in unserer Macht. In unserer Macht stehen: Urteil, Streben, Verlangen, Ablehnung – kurz: alles, was unser eigenes Handeln ist. Nicht in unserer Macht stehen: Leib, Besitz, Ansehen, Macht – kurz: alles, was nicht unser eigenes Handeln ist.


Epiktet erkennt die Freiheit in der Kontrolle über sich und die Gelassenheit in der Akzeptanz des Unkontrollierbaren. Für ihn bedeutet Freiheit, zu erkennen, was nicht zu ändern ist. Freiheit ist nicht die äußere Unabhängigkeit oder politische Selbstbestimmung, sondern die Fähigkeit, über die eigenen Gedanken, Einstellungen und Handlungen selbst zu bestimmen. Damit ist die innere Freiheit gemeint. Sie geht mit Selbsterkenntnis, Vernunft und Selbstbeherrschung einher. Die Unterscheidung zwischen Freiheit und Akzeptanz ist ein praktischer Kompass für ein gelassenes, tugendhaftes Leben. Demzufolge spielt die Unterscheidung was wir kontrollieren können und was wir nicht kontrollieren können, eine ganz entscheidende Rolle:

Was wir kontrollieren können Was wir nicht kontrollieren können
Unsere Urteile (Hypolēpseis)
Wie wir Ereignisse bewerten und welche Bedeutung wir ihnen geben
Äußere Ereignisse
Naturkatastrophen, Krankheit, Tod
Unsere Impulse (Hormai)
Unsere Reaktionen auf Reize, unser Streben oder Ablehnen
Handlungen anderer Menschen
Meinungen, Entscheidungen, Fehler anderer
Unsere Werte (Prohaireseis)
Wonach wir streben und was wir für "gut" oder "schlecht" halten
Vergangenes und Zukünftiges
bereits Geschehenes, ungewisse Zukunft
Unser Charakter (Ēthos)
Tugendhaftigkeit, Integrität, Selbstdisziplin
Körperliche Gegebenheiten
Schönheit, Stärke, ererbte Eigenschaften

Um der Frage nachzugehen, ob und inwieweit Epiktet die Gegenwart und insbesondere die Mediation beeinflusst hat, fällt ein Zitat von André Martens auf, der Epiktet als den Vorläufer der kognitiven Verhaltenstherapie des 20. Jahrhunderts ansieht. Er stellt heraus, dass Psychotherapeuten wie beispielsweise Albert Ellis, Aaron T. Beck, Donald Meichenbaum oder Harlich Stavemann stoisches Gedankengut und nicht zuletzt Epiktets Glückslehre in ihren eigenen Therapiekonzepten aufgriffen hätten.4 Den ausschlaggebenden Beleg dafür liefert das folgende Zitat:5

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen über die Dinge beunruhigen die Menschen. (…) Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen oder beunruhigt oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen.


Der Schritt von der kognitiven Verhaltenstherapie in die kognitive Mediationstheorie ist nicht groß, wenn die Meinung an die Erkenntnis gekoppelt wird, was sich ebenfalls auf die Philosophie Epiktets zurückführen lässt.

Die Verbindung zur Mediation

Es ist immer wieder erstaunlich, zu erfahren, was die alten Philosophen vor 2000 Jahren schon alles wussten. Speziell die auf Resilienz aufbauende Philosophie Epiktets war und ist so inspirierend, dass aus dem stoischen Denken ein Mediationsstil entstanden war, der die Metaebene hervorhebt. Die Philosophie inspiriert aber nicht nur die Haltung des Mediators. Sie gibt auch Hinweise auf die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Parteien. Wir finden in der Philosophie Epiktets keine technische Anleitung, wohl eine ethische Richtschnur, die es ermöglicht, die Mediation als "Kunst der inneren Freiheit" zu begreifen, bei der der Mediator durch Selbstkontrolle den Raum für fremde Lösungen öffnet. In einer Zeit der zunehmenden Polarisierung bietet sein Denken ein zeitloses Werkzeug, um jenseits von richtig und falsch zu agieren. Epiktet führte aus:

Der Weg zum Glück besteht darin,
sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht


Anders formuliert lautet der Grundsatz, keine Verantwortung für etwas zu übernehmen, was man nicht kontrollieren kann und nicht in den Köpfen anderer zu denken. Die nachfolgende Gegenüberstellung mag die mediative Relevanz der Primärzitate im Überblick abbilden:

Stoisches Prinzip Epiktet-Zitat Mediative Anwendung
Urteilsenthaltung "Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen, sondern die Ansichten, die wir von ihnen haben" Vermittlung von Perspektivwechsel, Wahrnehmung der Metaperspektive
Selbstverantwortung "Überlege dir, was du bist! ... ein Wesen, das keine wichtigere Fähigkeit besitzt als seinen freien Willen" Zurückhaltuing des Mediators und Empowerment der Parteien
Gelassenheit "Ruin und Wiederaufbau liegen dicht beieinander" Deeskalation in Krisenmomenten. Ausrichtung auf den Nutzen
Neutralität "Bleibe deinen Vorsätzen wie gewöhnlichen Gesetzen treu" Konsistente Verfahrenstreue
Selbstkontrolle und Gelassenheit „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern unsere Meinungen über die Dinge.“ Die Bedeutung der inneren Einstellung gegenüber äußeren Umständen
Akzeptanz des Unveränderlichen „Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.“ Konzentration auf das, was in unserer Macht liegt, positiv denken
Empathie und Rücksichtnahme „Der Mensch hat zwei Ohren und eine Zunge, damit er doppelt so viel hören kann, wie er spricht.“ Das Zuhören als eine zentrale Fähigkeit in der Mediation.

Wertvolle Erkenntnisse für die Mediation

Die Kontroll-Dichotomie unterteilt die Verantwortung in einen Bereich der unter der eigenen Kontrolle steht und einen, der sich dieser Kontrolle entzieht. Welche Auswirkungen diese Unterscheidung nach sich zieht, belegt die Regierung in ihrer Begründung zum Mediationsgesetz. Dort wird die Aufassung vertreten, dass der Mediator für die gelingende Kommunikation verantwortlich sei.6 Wenn dem so wäre, würde ihm die Verantwortung für einen Bereich auferlegt, der nicht unter seiner Kontrolle steht. Der Mediator kann nur den Teil der Kommunikation kontrollieren, der auf ihn entfällt. Also kann er auch nur für diesen Teil die Verantwortung übernehmen. Der korrespondierende Teil der parteilichen Kommunikation unterliegt seiner Kontrolle nicht. Dafür trägt die Partei die Verantwortung. Somit trägt sie auch eine Mitverantwortung für die gelingende Kommunikation. Nach dem Grundsatz der Kontroll-Dichotomie lassen sich viele Fragen in der Mediation beantworten. Auch die Frage, wie der Mediator mit schwierigen Situationen umzugehen hat. Er sollte sich klar machen, dass er "lediglich" die Verantwortung trägt, die Verwirklichung des Prozesses zu ermöglichen, soweit dies unter seiner Kontrolle liegt. Er ist nicht für das Verhalten der Parteien verantwortlich, das er nicht kontrollieren kann. Mithin konzentriert er sich auf den Prozess, nicht auf die Parteien. Besonders in Fällen der politischen Mediation, wenn es um Diskriminierung geht, finden sich Anleitungen bei Epiktet, wie die Zurückhaltung Fragen erlaubt, die den Widerspruch im Denken des anderen sichtbar machen, ohne ihn bloßzustellen. Auf die Frage, wie mit Menschen umzugehen ist, die "falscher Ansichten" überführt werden sollen, sagt Epiktet:

Die einzige Person, die du "bessern" kannst und musst, bist du selbst. Alles andere ist Hybris. Doch durch deine eigene Transformation wirst du unwillkürlich zum Katalysator für andere ohne zu belehren.


Epiktet warnt vor selbstgerechtem Missionseifer. Er erwartet keine aufgedrängte Belehrung. Und weil die Meinung des anderen auch nicht unter seiner Kontrolle liegt erwartet er auch keinen Erfolg. Und genau darin liegt das Geheimnis des Erfolgs.

Wenn jemand irrt, sage dir: Er sieht die Wahrheit noch nicht – genau wie ich oft im Irrtum war.


Mit dem erkenntnisbasierten Vorgehen muss der Mediator auch in der politischen Mediation keine Position beziehen, denn sie Position ergibt sich aus der Erkenntnis. Die Anwendung dieser stoischen Philosophie Epiktets erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Mediators. Sie konkretisiert den Fokus bei den Fragetechniken und die Freiheit der Gedanken. Sie hilft bei der Entkoppelung von Emotion und Handlung, bei der Förderung der Eigenverantwortung, der Relativierung von äußeren Umständen, der Stärkung der inneren Stabilität, der Vermeidung von Urteilen und Zuschreibungen, bei der Öffnung des Raums für neue Narrative und bei der Gelassenheit, mit der sich das Vertrauen in unsichere Konfliktsituationen herstellen lässt.

Bedeutung für die Mediation

Mit der Frage, ob und inwieweit die Philosophie Einfluss auf die Mediation nimmt oder nehmen sollte, setzt sich auch der Beitrag über die Mediationsphilosophie auseinander. Weitere Berührungspunkte finden sich in den Beiträgen über die politische Mediation, die Haltung des Mediators und den Umgang mit schwierigen Situationen. Sie finden sogar nützliche Hinweise für das Marketing und die Frage der Selbstdarstellung eines Mediators in dem mehr als 2000 Jahre alten Zitat:

Wenn es dir einmal begegnet, daß du dich nach außen wendest, in der Absicht, irgend einem zu gefallen, so wisse, daß du deine innere Stellung verloren hast. Es genüge dir also durchaus, ein Philosoph (Mediator) zu sein. Willst du aber auch (von jemand) dafür angesehen sein, so sieh dich selbst dafür an. Dies vermagst du (wenn Du ein Mediator bist).


Tauschen Sie das Wort Philosoph mit dem Wort Mediator entsprechend der Klammerzusätze. Dann finden Sie die Antwort. Auch der Mediator verliert seine Rolle, wenn er sein Handeln auf die Außenwirkung statt auf die Bedürfnisse der Mediation abstellt.

Vielleicht sollte das Encheiridion zur Pflichtlektüre der Mediatoren gehören, denn es lohnt sich besonders für Mediatoren, sich mit den epiktetischen Weisheiten auseinanderzusetzen. Sie inspirieren nicht nur, wenn es darum geht, die Haltung des Mediators zu verstehen. Sie helfen auch dabei, die gebotene Haltung einzunehmen. Sie helfen bei der Krisenbewältigung ebenso wie bei der Positionierung in grenzwertigen Fällen, wie etwa bei der politischen Mediation. Sie helfen dabei, die Neutralität zu wahren, sowie bei der Bewusstwerdung der eigenen Urteile und der Kontrolle der eigenen Reaktionen.7 Sie leisten einen Beitrag zum Empowerment der Konfliktparteien, fördern die Selbstreflexion und helfen, die Eigenverantwortung zu übernehmen, was sich nicht als eine Last, sondern als eine Befreiung darstellt. Schließlich tragen sie dazu bei, die emotionale Stabilität zu bewahren, indem sie akzeptieren helfen, was nicht zu ändern ist. Epiktet hat übrigens auch gesagt:

Nicht Sprüche sind es, woran es fehlt; ...
woran es fehlt, sind Menschen, die sie anwenden


Es lohnt, sich sowohl das Encheiridion wie die Zitatensammlung näher anzusehen. Beide Quellen sind in den Fußnoten zitiert. Das ein oder andere Zitat aus der Zitatensammlung8 lässt sich auch sicher in der Mediation verwerten.

Arthur Trossen


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3 Epiktet (Ethik) - 2019-11-17 Kapitel I, 1
5 Encheiridion Kapitel V
7 Die Technik Fakten, Meinungen und Emotionen hilft bei der Umsetzung.