Ich habe schon die abenteuerlichsten Argumente gehört, mit denen eine Mediation abgelehnt wird. Einige der Argumente werden in dem Beitrag Startprobleme zusammengestellt und kurz besprochen.1 Eine Begründung höre ich jedoch sehr oft. Es wird behauptet, dass die Mediation zu spät komme. Das ist eine Anspielung auf den Kairos.2 "Das hätte man mal früher machen sollen", lautet die fast wehmütige Bekräftigung. Sie wird dann mit dem Hinweis versehen: "Jetzt macht das keinen Sinn mehr". Die Sinnfrage wird jedoch nicht weiter hinterfragt.
Ich möchte verschiedene Szenarien vorstellen, auf die sich das Zeitargument bezieht und untersuchen, ob und inwieweit es zutreffend ist. Auffällig ist, dass das Zeitargument oft benutzt wird, wo soziale Beziehungen bestehen oder sich anlässlich des Streites herausgebildet haben. Also überall dort, wo die Parteien schon länger in einen Streit verwickelt sind. Deshalb beginne ich das erste Beispiel mit der naheliegenden Beziehung von getrennt lebenden Ehegatten.
Trennung / Scheidung
Eigentlich ist es nie zu spät zum Verhandeln. Allerdings setzt das Verhandeln etwas guten Willen voraus. Und genau dafür kann es tatsächlich zu spät sein. Möglicherweise ist das auch mit dem Verspätung Hinweis gemeint. Der gute Wille ist irgendwo auf der Strecke geblieben.
Ob ein Verhandeln, unabhängig von der emotionalen Lage, in einer Ehekrise Sinn macht, hängt natürlich davon ab, was erreicht werden soll. Jeder Mediator muss die Geeignetheit der Mediation prüfen und er sollte die Mediation ablehnen, wenn sie das nicht geeignete Verfahren darstellt.3 Die Mediation kann Scheidungsfolgen regeln. Sie kann sich aber auch mit der Beziehung auseinandersetzen. Gerade in Familienangelegenheiten trägt eine Mediation dazu bei, alle Aspekte des Konfliktes ins Kalkül zu ziehen und eine Regelung zu finden, die - wie sie auch immer aussieht - den Parteien einen nachhaltigen Frieden einbringt. Sie kann Beziehungen heilen, muss es aber nicht. In jedem Fall sollte die Verfahrensweise berücksichtigen, dass die Mediation letztlich das einzige Verfahren ist, das sich mit der gesamten Komplexität des Konfliktes auseinandersetzt und eine bewusste und kontrollierte Zukunftsgestaltung ermöglicht.
Ob die Ehe gerettet werden kann, ist eine Frage, die sich auf die Beziehung einlässt. Der Mediator sollte sich immer dann mit der Frage auseinandersetzen, wenn die Parteien über den Zustand ihrer Beziehung nicht einig sind. Die Parteien denken, die Beziehung sei beendet. Sie ist es offensichtlich nicht. Sonst müssten sie nicht im Streit verbunden bleiben. Die Frage der Beziehung erstreckt sich also nicht unbedingt auf die Ehe aber durchaus auf die Beziehung in der Zeit des Getrenntlebens und natürlich auch auf die nacheheliche Beziehung. Auch wenn es scheinbar nur um finanzielle Fragen geht, spielt es eine entscheidende Rolle, wie die Trennung gesehen wird und ob darüber ein Einvernehmen besteht. Die Beantwortung dieser Frage wirkt sich unmittelbar auf die Scheidungsfolgen aus.
Ein Paar, das in Freundschaft auseinandergeht, regelt die Scheidungsfolgen anders als ein Ehepaar, das in Feindschaft auseinandergeht. Ein Familienmediator sollte deshalb das gesamte Konfliktszenario im Blick haben. Mit diesem Hintergrund zeigt sich auch der Vorteil einer Mediation gegenüber der juristischen Praxis, die sich auf Fakten und Rechtsfolgen konzentriert und eben nicht den Hintergrundkonflikt im Blick hat.4
Grundsätzlich erfordert eine Mediation in einer Familienangelegenheit, dass alle Dimensionen des Streitkontinuums bearbeitet werden.5 Wenn das nicht passiert, führt der Streit um Folgesachen oft zur Eskalation. Die Mediation ist lösungsoffen. Er wird also niemanden dazu drängen, die Beziehung fortzusetzen oder nicht. Hier könnte sich auch ein unterschied zur Eheberatung oder zur Ehetherapie herausstellen, wenn diese das Ziel verfolgt die Ehe zu erhalten. In der Mediation ergibt sich diese Lösung aus der Situation heraus. Es kommt häufig vor, dass auch bei einer entschiedenen Trennung eine Wiedervereinigung der Eheleute stattfindet. Sie wird sie Ihnen nicht aufgezwungen. Sie ergibt sich einfach. Dass vorher eine Therapie stattgefunden hat oder eine gescheiterte Eheberatung hat nicht unbedingt etwas zu sagen. Es bedeutet auch nicht, dass der Therapeut oder der Eheberater einen schlechten Job gemacht hat. Möglicherweise war lediglich der Zeitpunkt der falsche oder die Parteien haben die Chancen und Konsequenzen nicht gegeneinander abwägen können.
Umweltmediation
Die Behauptung, dass es zu spät sei für die Mediation, hängt nicht nur mit den Erfahrungen zusammen, die die streitenden Parteien miteinander gewonnen haben, sondern auch mit strategischen Überlegungen. Streitparteien bilden eine soziale Beziehung. Man lernt voneinander. Man lernt auch, ob sich der Gegner auf Argumente einlässt oder nicht. Was oft übersehen wird ist die kommunikative Interpunktion.6
Jeder meint, auf den anderen zu reagieren und übersieht dabei, dass er selbst die Bedingung setzt, auf die wiederum sein Gegenüber reagiert.
Wenn es nicht mehr möglich ist, miteinander zu reden und das Problem aber trotzdem gelöst werden muss, gerät der Konflikt in die Eskalation. Die Konfrontation verdichtet sich. Weil man nach dem subjektiven Eindruck mit den Gegner nicht reden kann, bildet die Konfrontation den einzigen Ausweg.
Strategisch betrachtet schließt eine Konfrontation tatsächlich eine Kooperation aus. So gesehen ist also folgerichtig, wenn behauptet wird, dass es für die Mediation zu spät sei. Andererseits ist die Schlussfolgerung aber unzutreffend, weil die Mediation das Phänomen kennt. Sie schafft eine strategische Exklave, in der Verhandlungen trotzdem möglich sind.7
Am Ende steht eine Einigung, die der rechtlichen Qualität eines Vertrages entspricht oder die einen Rechtsakt vorbereitet, der allerdings widerspruchslos angenommen wird. Auch hier gibt es Möglichkeiten, die spätere Vollstreckung und Durchsetzung zu erleichtern. Man könnte also sagen, dass es für die Mediation gerade nicht zu spät ist, weil die Alternative, also die Eskalation der Konfrontation anders als die Mediation nicht auf den Nutzen achtet. Sie achtet auf den Sieg, auf die Durchsetzung und nicht auf den Gewinn und die Möglichkeiten, die mit dem Sieg verbunden werden.
Gerichtsverfahren
Es ist oft wirkungslos, eine Mediation vorzuschlagen, wenn der Streit schon hoch eskaliert ist. Der Streit hat eine Vorgeschichte, die sich auf den Umgang der Parteien miteinander bezieht. Sie wissen aus dieser Vorgeschichte, dass ein Verhandeln wenig Sinn macht. Möglicherweise haben sie auch die Anwälte in dieser Ansicht bestärkt. Sicher haben die Anwälte aber auch gesagt, dass sie vor Gericht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit obsiegen werden.
Wenn der Richter eine Mediation vorschlägt, haben die Parteien beides im Sinn. Einmal die Chance zu gewinnen und zum anderen die Chancenlosigkeit des Verhandelns. Warum also sollten Sie dem Vorschlag einer Mediation zustimmen, wenn sich nicht die Verhandlungsbedingungen verändern. Für sie kommt es darauf an, dass die Verfahren Strategie mit der Konfliktstrategie einhergeht.
Der erste Schritt in ein strategisches Umdenken besteht darin, dass der Richter beiden Parteien vor Augen führt, dass sie mit dem Gerichtsverfahren ihr strategisches Ziel nicht erreichen können. Es ist ein Vorteil der Position des Richters, dass er die Chancen des Gerichtsverfahrens aus seiner Position heraus ziemlich genau definieren kann. Er kann am Besten einschätzen, unter welchen Bedingungen ein Obsiegen möglich ist, wie das Verfahren zu führen ist, um dorthin zu kommen, welche Kosten auf die Parteien zu kommen und mit welcher Verfahrensdauer sie zu rechnen haben. Er kann die Parteien auffordern, zu überlegen, welcher Nutzen Ihnen ein Obsiegen einbringt.
Ein letztinstanzliches Urteil ist kein Garant für Frieden und Ruhe zwischen den Parteien. Nach der Lehre der Konfliktevolution kommt es allerdings erst dann zu einem Strategiewechsel, wenn die Konfliktparteien merken, dass keine von ihnen das von Ihnen vorgestellte strategische Ziel mit der Konfrontation erreichen kann. Genau das muss der Richter ausloten.
Er hat viele Möglichkeiten, die Parteien zu einer Kooperation zu bringen. Im Altenkirchener Modell wurde die Mediation methodisch von dem erkennenden Richter einfach begonnen.8 Die Parteien haben sich auf das Denken eingelassen, womit die Bereitschaft für eine Mediation auch mit einem externen Mediator gewachsen war.
Es macht wenig Sinn, wenn der Richter die Parteien einfach zu einem Mediator schickt. Er hat die Möglichkeit, zumindest in Familiensachen, die Parteien sogar zu einem kostenlosen Infogespräch über die Mediation zu zwingen. Wenn die Parteien jedoch die kooperative Verhandlung vom Grunde ihres Herzens aus ablehnen oder wenn Sie den Termin wahrnehmen, ohne für eine Mediation bereit zu sein, werden an das Infogespräch hohe Anforderungen gestellt. Jetzt liegt es an dem Mediator, den Parteien die Konsequenzen des einen oder anderen Verfahrens vor Augen zu führen. Statt zu versuchen, die Parteien von der Mediation zu überzeugen, sollte er sie nach den Erwartungen befragen, um dann mit Ihnen gemeinsam zu überlegen, ob und wie sich ihre Erwartungen erfüllen lassen. Es ist wichtig, dass mit den Erwartungen nicht die mögliche Entscheidung gemeint wird, sondern der damit bezweckte Nutzen.
Konsequenz
Der häufigste Grund, warum eine Mediation abgelehnt wird, ist die Unkenntnis über die Mediation verbunden mit den Emotionen, die eine Konfrontation nahelegen. Das Titelbild dieses Artikels entspricht den Befindlichkeiten der Parteien. Die Chancen auf eine einvernehmliche Regelung wurden verpasst. Jetzt muss gehandelt werden. Das Bild entspricht jedoch nicht der Realität des Lebens. Denn es gibt immer Chancen und es gibt immer eine Option und eine Wahl. Zutreffender wäre es also, wenn beide Hinweisschilder für Chance und Change auf die Gegenwart verweisen. Denn in der Gegenwart ist die Entscheidung zu treffen. Die Frage, ob oder was geändert werden muss, hängt nicht davon ab, ob eine Chance verpasst wurde, sondern davon, dass sie ergriffen wird und davon, was man erreichen will. Da stehen oft die Emotionen im Weg.
Wer Rache will, denkt nicht an Verhandlung. Wenn der Konflikt hoch eskaliert ist, könnte es sogar sein, dass es bereits zur Kompetenzamnesie gekommen ist,9 sodass die Partei möglicherweise gar nicht mehr in der Lage ist, ihre Situation korrekt einzuschätzen.
Das sind nur Beispiele, warum es so schwer ist, die Partei von einer Mediation zu überzeugen. Sie verdeutlichen, dass schon der Versuch, die Partei von irgend etwas überzeugen zu wollen, in einer solchen Situation misslingen wird, wenn sie mit der Vorstellungswelt der Partei kollidiert. Erfolgversprechender ist es deshalb, sich auf die Befindlichkeiten der Partei einzulassen. Dazu zählen auch und insbesondere die Gefühle und die bisher miteinander gemachten Erfahrungen. Mit einer derartigen Herangehensweise gelingt es auch in einem hoch eskalierten Konflikt, die Vorteile der Mediation herauszuarbeiten. Sie ist deshalb nicht zu spät. Es ist aber durchaus schwieriger, die Parteien darauf einzustimmen.
Ein Fehler den ich oft beobachte ist der Versuch, die Parteien zu bedrängen. Man redet auf sie ein. Das hat auf mich den Eindruck, wie die Warnung an das Kind, dass es die Herdplatte nicht anfassen soll. Statt auf die Parteien einzureden, sollte man sich auf ihre Situation und die Gefühle einlassen und versuchen, an Erfahrungen anzuknüpfen, die ihnen weiterhelfen. Es geht darum, herauszufinden, was die Bedürfnisse sind und wo die Parteien ihre Befriedigung finden. Damit richtet sich der Fokus nicht auf die Lösung oder das Ergebnis, sondern auf den Nutzen. Selbst in einem aussichtslosen Streit findet sich in dem Nutzen die gemeinsame Brücke. Denn was die Parteien trotz aller Widrigkeiten gemeinsam haben, ist meistens der Wunsch ein Ende in dem unseligen Streit zu finden. Die Vorstellung, dass dies mit einem Gerichtsurteil erreicht werden kann, ist besonders in den Fällen zu kurz gedacht, wo die Parteien noch nach dem Urteil irgendetwas miteinander zu tun haben.
Oft behindert auch eine fehlerhafte Vorstellung von der Leistungsfähigkeit der Mediation die Einsicht, dass die Mediation trotz des hochentwickelten Konfliktes der richtige Weg zur Konfliktbeilegung sein kann. Hier spielen das Mediationsverständnis und die Einschätzung der Fähigkeit des Mediators eine wichtige Rolle. Um beide Fragen nicht miteinander zu vermischen, empfiehlt es sich deshalb zunächst über die Möglichkeiten der Mediation zu sprechen, und dann erst zu überlegen, welcher Mediator in Betracht kommt.
Das Wiki versucht bei all diesen Fragestellungen eine Hilfe anzubieten.10 Wichtig ist es, einen kühlen Kopf zu bewahren, um alle Möglichkeiten und Chancen auszuloten. Es wäre doch schade, die Chance der Mediation zu vertun, nur weil die Ausgangslage oder ihre Möglichkeiten im Vergleich zu anderen Verfahren falsch eingeschätzt werden.
Arthur Trossen
Bild von Geralt auf Pixabay dl am 13.10.2022