Die Politik ist für die Menschen da

Der Grundsatz, dass die Politik für die Menschen da ist und nicht umgekehrt, klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Er scheint nicht allgemein gültig zu sein. Ein Politikwissenschaftler kann sicher mehr dazu sagen, ob und inwieweit er zutrifft. Ungeachtet dessen interessiert es mich, ob auch ein Herr Biden, ein Herr Putin, ein Herr Kim Jong-un, ein Herr Xi Jinping, ein Herr Erdogan oder wie sie alle heißen mögen, dieser Devise zustimmen. Sie würden es wahrscheinlich behaupten. Immerhin müssen sie altruistische Motive in den Vordergrund stellen, um sich ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu sichern. Heißt das aber auch, dass sie wirklich dahinter stehen? Würden sie es zugeben, wenn sie die Menschen für ihre Politik benutzen oder gar für ihr persönliches Weiterkommen oder ihre Machterhaltung missbrauchen? Falls sie dem Grundsatz nicht zustimmen, kommen wir zu der ersten grundlegenden Frage, mit der sich die Politik auseinandersetzen sollte. Es ist die Frage nach ihrem Zweck und ihrer Existenzberechtigung.

Selbst wenn Politiker, wozu ich natürlich auch Staatenlenker und Regenten zähle, dem Grundsatz aus vollem Herzen zustimmen, kommt die Frage auf, welchen Menschen sie ihre Politik widmen. Die Realität erweckt in mir den Eindruck, dass sie in keiner Gesellschaft für alle Menschen ihres Landes da ist und keinesfalls für uns Menschen, also die Gesamtheit der Menschen und die Menschheit schlechthin. Ich möchte einräumen, dass sich die Politiker bemühen. Zumindest einige. Sie stehen vor einer schwierigen Herausforderung, bei der sie jede Unterstützung gebrauchen können. Damit werden auch die Bürger und die Bevölkerungen angesprochen, wo Spaltungen sichtbar werden. Auch hier ist ein feindliches Denken zu beobachten, wenn es darum geht, eigene Interessen durchzusetzen oder um auf sich aufmerksam zu machen. Zu einer Spaltung gehören immer zwei Seiten. Es wäre zu einfach, die Verantwortung dafür nur einer Seite zuzuschreiben. Deshalb sind auch die politischen Gegner in der Pflicht, sich konstruktiv auseinanderzusetzen, soweit das möglich ist. Würde es der Politik tatsächlich gelingen, dafür einen Rahmen zu schaffen und für alle Menschen da zu sein, ließen sich die Spaltungen überwinden. Jeder würde sich in ihr wiederfinden. Die Kräfte wären ausgewogen. Es gäbe keine Kriege. Es gäbe mehr soziale Gerechtigkeit und ein besserer Schutz der Welt in der wir leben und von der wir alle abhängig sind. So lautet meine These.

Jenseits dieser Vision kennzeichnet die von Kriegen und kleingeistigem Denken geplagte Welt die feindselige politische Landschaft. Sie beschreibt nicht nur den Zustand der Politik, sondern auch den der Menschheit. So wie es scheint, weiß die Menschheit gerade nicht, was sie ist und wo sie hingehört. Diese Beobachtung führt zu einer weiteren grundlegenden Frage, mit der sich die Politik auseinandersetzen sollte. Aus meiner Sicht liegt das Kernproblem nicht nur der internationalen Politik in ambivalenten Grundeinstellungen, in divergierenden Sichtweisen und Vorstellungen, einem nationalistisch geprägten Kontext und der Frage, wie die Politik mit der Komplexität, den veränderten Lebensbedingungen und den Konflikten umgeht. Ich frage mich, ob die Politiker das auch so sehen und ob es gegebenenfalls einen Plan gibt, wie die Divergenzen aus der Welt geschafft werden. Die Mediation jedenfalls kennt ein Rezept. Sie kennt zwar nicht die Lösung, aber den Weg dorthin. Für diese Behauptung trete ich gerne den Beweis an. Es ist ein anderer Weg.

Die Mediation hat bereits erwiesen, dass sie nicht nur in der Lage ist, Feindschaften zu vermeiden, sondern auch zu überwinden. Sie kann Gegner einbeziehen und kommt ohne Ausgrenzung aus. Sie führt den Streit in eine konstruktive Auseinandersetzung, weshalb sie zu einer guten Politik beiträgt und den Weg in eine Friedenspolitik ebnet. Ich will versuchen, die markanten Unterschiede zur erlebten Politik am Beispiel der internationalen Spannungen darzustellen. Mein Versuch unterliegt natürlich Einschränkungen. Als Zeitungsleser verfüge ich nur über begrenzte Informationen. Trotzdem genügen meine Eindrücke, um die Möglichkeiten der Mediation aufzuzeigen und ihre Schnittstellen zur Politik darzulegen.

Wenn ich im folgenden von der Mediation spreche, meine ich in erster Linie ihre Kompetenz im Verständnis der kognitiven Mediationstheorie,1 nicht notwendigerweise das formelle Verfahren. Ich beginne mit einer Art Bestandsaufnahme, aus der sich die Anforderungen an eine Friedenspolitik und einige ihrer Hindernisse ableiten lassen.

Die Guten und die Bösen

Obwohl wir in einer globalen Welt leben, wo alle Menschen ein Wir sein sollten, richtet sich unser kleinlicher Blick nicht auf das Wir einer Weltgesellschaft. Die Weltgesellschaft erfordert ein Zusammenrücken und den Zusammenhalt der Menschen, um das beste aus den immer schwieriger werdenden Lebensbedingungen herauszuholen. Ich frage mich, ob auch über diese Einsicht Konsens besteht. Falls nicht, sollte die Bedeutung der Menschheit und ihre Möglichkeiten als eine weitere grundlegende Frage eingebracht werden, mit der sich die Politik auseinanderzusetzen hat.

In der Realität beobachte ich, wie wir den Fokus statt auf das "Wir" in einer Weltgesellschaft auf das Wir einzelner Nationen, Gruppierungen oder Gesellschaften reduzieren. Dabei grenzen wir nur äußerst ungenau die Gesellschaften des Westens gegenüber denen des Ostens ab. Der gedankliche Kontext würde sich schon verändern, wenn wir uns trotz der Unterschiede als Teil einer einzigen Gesellschaft sehen könnten. Mit dem Blick auf die Weltgesellschaft werden die Beziehungen neu definiert. Auch die Bedeutung vom Wir bekommt einen anderen Hintergrund. Mit ihm verändert sich der Blick auf das, was wir brauchen, damit es uns gut geht. Der Mensch gerät automatisch in den Mittelpunkt des Denkens. Die Nationen werden zu Nachbarn.

Wenn wir nicht selbst darauf kommen, wird die Natur uns den gebotenen Perspektivenwechsel gewaltsam aufzwingen. Nur in einem Gedankenmodell frage ich mich manchmal, wie wir beispielsweise über die Frage der Migration denken, wenn Europa unbewohnbar wird und wenn wir die Flüchtlinge sind. Die Mediation könnte sich aller Zwänge entledigen, um die Ergebnisse der Politik so zu gestalten, dass sie nicht dem Zufall überlassen bleiben. Sie könnte helfen, die Bedürfnisse der Weltgesellschaft herauszustellen, um sie wie die Interessen einer fiktiven Konfliktpartei als ein Gemeinschaftsinteresse einzuführen. Wenn das gelingt, lassen sich die Auswirkungen des nationalen Handelns besser überschauen.2 Die Probleme, wegen der wir uns gerade alle töten wollen, erscheinen dann in einem völlig anderen Licht.

Tatsächlich verengt der Blick auf die Nationen das Gesamtbild. Es gibt 195 davon. Nationen sind die von der UN anerkannten, unabhängigen Länder.3 Zu ihnen zählt zum Beispiel auch die Ukraine, wo sich Russland einmischt, nicht aber Taiwan, wo sich Amerika einmischt. Die Unabhängigkeit der Ukraine wurde im Jahre 1991 von der UNO und somit auch von Russland anerkannt. Das ist ein nachprüfbares Fakt.4 Es verwundert, wenn es geleugnet wird.

Aber was bedeutet schon die Unabhängigkeit einer Nation und was bedeutet die Verbindlichkeit des Völkerrechts, wenn sie mit den nationalen Interessen kollidiert und die UN-Regeln nicht viel mehr sind als eine good Will Erklärung? In einer Zeit des Paradigmenwechsels, in der ohnehin alles in Frage zu stehen scheint, bietet sich der Trend geradezu an, sich nicht an Abkommen zu halten, sie aufzukündigen oder sie einfach zu brechen. Die Frage drängt sich auf, was internationale Abkommen überhaupt noch nutzen, wenn wir Schritt für Schritt wieder das Faustrecht einführen? Wem kann man dann überhaupt noch trauen und worauf ist Verlass? Der sichtbare Vertrauensverlust führt zu einer weiteren, grundlegenden Frage, der sich nicht nur die internationale Gemeinschaft auf der Suche nach gemeinsamen Werten, Rechten und Gesetzen zu stellen hat. Recht und Gesetz sind definitionsgemäß eine Voraussetzung für den Frieden.5 Sie sind die Bedingung für eine Weltordnung. Die Vertrauensfrage geht darüber aber noch hinaus. Sie ist ein menschliches Phänomen und stellt sich auch im alltäglichen Miteinander.

Zumindest einige der Nationen stehen in einem erbitterten Wettbewerb. Je mehr die Globalisierung die Grenzen verwischt, umso größer wird der Bedarf, sich gegeneinander abzugrenzen. Warum brauchen wir zwei konkurrierende Seidenstraßen, statt einer, die die Welt verbindet? Die Antwort liegt auf der Hand.

Bisher haben sich noch keine Stereotypen und Redundanzen herausgebildet, die der Globalisierung gerecht werden. Vielleicht ist die verengte nationalistische Sicht der Grund, warum wir uns genötigt sehen, die vermeintlich guten Demokratien den bösen Autokratien gegenüberzustellen. Wir scheinen in einer Logik zu denken, die ohne ein Ihr kein Wir kennt. Möglicherweise liegt die damit einhergehende Ausgrenzung aber auch nicht nur an der Suche nach der Selbstfindung oder der feindlichen Denkweise. Sie wird sicherlich auch von dem geopolitischen Gerangel der Großmächte und all der Nationen geprägt, die es gerne wären. Spätestens jetzt kommen politische Interessen ins Spiel. Leider etabliert der Trend zur Ausgrenzung auch in den Köpfen der Bevölkerungen ein Bild, das aus Nachbarn Feinde werden lässt. Im feindlichen Denken übersehen wir allzu leicht, dass die Zuschreibungen von gut und böse nicht übereinstimmen. Ganz abgesehen davon, dass eine Herrschaftsform nicht per se gut oder schlecht sein kann, ist es keine Frage, dass die Nachbarn die Bewertung von gut und böse genau anders herum einschätzen. Aus deren Sicht sind wir die bösen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Lediglich bei der Frage der Feindschaft besteht Einigkeit.

Im Idealfall passt sich eine Herrschaftsform den gesellschaftlichen Bedürfnissen an. Schon deshalb ist die Vorstellung, dass alle Länder Demokratien sein müssen, zu relativieren. Es wäre also durchaus möglich, dass eine Autokratie das zur Gesellschaft passende Herrschaftssystem darstellt. Es hat Schwächen, genau wie die Demokratie. Die Form ist jedoch nicht entscheidend. Es kommt auf die Inhalte und darauf an, sich seinen Schwächen zu stellen. Hier gibt es auf allen Seiten einen Nachholbedarf.

Ändern sich die Lebensbedingungen und damit auch die Bedürfnisse der Gesellschaft, kommt es zu Irritationen im System. Der erste Reflex versucht, sie zu unterdrücken. Spätestens wenn die Irritationen so stark werden, dass sie die Funktionalität der Gesellschaft in Frage stellen, sind Veränderungen jedoch unausweichlich vorprogrammiert. Eine Unterdrückung der Symptome hilft dann nicht mehr weiter. Im Gegenteil; sie verschlimmert die Situation.

Die Signale, die eine Veränderung ankündigen, sind nicht zu übersehen. Wir finden sie überall. Sie machen sich besonders auf dem internationalen Parkett bemerkbar. Darauf haben wir uns einzustellen. Die Frage ist nur wie. Wollen wir sie steuern oder uns Ihnen ausliefern? Auch das ist eine der grundlegenden Fragen, mit der sich die Politik auseinandersetzen muss. Sie mündet in die Frage, wohin sich die Welt entwickeln soll.

In der Mediation hilft eine Imagination, um diese Frage zu beantworten: "Stellen Sie sich vor, alles wäre möglich. Wie soll die Welt in 10, 20 oder 30 Jahren aussehen?". Ich bin neugierig auf die Antwort. Gibt es wenigstens bei dieser Vorstellung einen Konsens? Sie könnte zu einem gemeinsamen politischen Ziel führen, das einen gemeinsamen Weg ermöglicht.6 Wenn die Signale der Veränderung rechtzeitig erkannt und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet werden, ist es möglich, den gesellschaftlichen Veränderungsprozess zu gestalten, ohne dass es zur Spaltung, zum Krieg oder zur Revolution kommen muss.7 Der Ukraine-Krieg ist für mich einer von vielen Beweisen für eine fehlgeleitete Steuerung. Es hätte nicht dazu kommen müssen. Jede Seite hätte dazu beitragen können, den Krieg zu verhindern.

Die bewusste Anpassung an veränderte Lebensbedingungen ist übrigens eine Fähigkeit, die sich der Mensch in Abgrenzung zum Tier zuschreibt. An der Kompetenz, den Veränderungsbedarf wahrzunehmen, zu benennen und sich gestaltend auf ihn einzulassen, erkenne ich also nicht nur den Menschen, sondern auch eine gute Politik.

Jenseits dieser Überlegungen bleiben Bewertungen natürlich nicht aus. Sie sollen helfen, die Komplexität zu reduzieren. Sie sind allerdings niemals in der Lage, die Komplexität auch nur annähernd zu erfassen. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Realität verfälschen und unterschiedliche Wirklichkeiten konstruieren. Auch das ist menschlich. Die Mediation weiß damit umzugehen. Sie würde sich beispielsweise dafür interessieren, was uns genau zu den Guten und die anderen zu den Bösen machen soll. Die Neugier soll uns lediglich bewusst machen, wozu wir diese Bewertungen überhaupt brauchen und was wir damit bezwecken wollen. Das Argument des Westens lautet wohl, sich exklusiv für irgendwelche Werte einzusetzen. Die Freiheit und die Menschenrechte werden in den Vordergrund gestellt. Natürlich gehen wir im Westen davon aus, dass diese Werte nur von den anderen verletzt werden. Das behaupten wir jedenfalls. Je mehr wir darauf bestehen, umso mehr lenken wir von den eigenen Unzulänglichkeiten und Motiven ab. Umso leichter etabliert sich in uns das Gefühl, dass wir doch die Guten sein müssen. Dass den Feinden, die ähnlich denken, hauptsächlich die Unzulänglichkeiten ins Auge fallen, die andere Motive nahelegen, ist fast schon eine logische Konsequenz.

Die nunmehr von allen Seiten eingesetzte Logik von gut und böse ist ebenso unzutreffend wie die Behauptung, dass jeder, der kein Aspirin nimmt, Kopfschmerzen hat. Ich bin nicht automatisch gut, nur weil der andere böse ist. Trotzdem schaffen wir uns Gegner, über die wir uns definieren. Weil wir das Gefühl haben, genau zu wissen, was gut ist, achten wir lehrmeisterhaft darauf, dass die anderen sich in unserem Sinne richtig verhalten und mit den Freiheits- und Menschenrechtsverletzungen aufhören. Wenn nicht, dann müssen wir eben einschreiten. Menschen verdienen Schutz und dass man sich für sie einsetzt. Das hört sich gut an. Es fällt jedoch schwer, diesen Anspruch konsequent umzusetzen. Wir müssen uns fragen, warum wir nicht gegen alle Kriege einschreiten und nicht alle unterdrückten Menschen befreien. Und was ist mit den Terroristen, den Nazis und den Feinden? Verdienen sie auch Schutz? An dieser Frage lässt sich messen, ob das mit den Menschenrechten wirklich ernst gemeint ist. Wir müssen in Kauf nehmen, dass die Glaubwürdigkeit jedes moralischen Anspruchs in Frage steht, wenn er nicht konsequent umgesetzt wird. Das Handicap wird spätestens dann erkennbar, wenn die Moral mit den eigenen Interessen kollidiert. Sie erfordert eine Abwägung, die nicht immer nachvollziehbar ist. Erst recht nicht vom Gegner. Verdächtigungen und Spekulationen finden in dieser Ambivalenz ihren Nährboden.

Ungeachtet dessen unterstellen wir unsere Legitimation als Hüter der Moral und gehen davon aus, dass das Recht auf unserer Seite steht. Dass weder über diese Autorität noch über die Frage der gegen andere Länder erhobenen Vorwürfe ein länderübergreifender Konsens besteht, scheint für niemanden ein Hindernis zu sein. Die Wahrheit wird durch ein Narrativ ersetzt. Es genügt schon, jemanden als Nazi oder Terrorist zu deklarieren, um ihm den Subjektstatus zu nehmen. Ob die Verurteilung einer neutralen Prüfung stand hält, ist ohne Belang, wenn nicht mit Konsequenzen zu rechnen ist. Es finden sich immer Anhänger, denen das Narrativ entgegen kommt. Das geht so weit, dass sogenannte alternative Fakten genügen, um selbst ein offensichtlich rechtswidriges Verhalten zu legitimieren. Meinungen werden über Fakten gestellt. Hauptsache, es passt in das Bild, das man von sich und der Welt zeichnen möchte.

Der Umgang mit der Wahrheit und der Wahrheitsfindung ist eine weitere Frage, die nicht nur der internationalen Auseinandersetzung bedarf. Der oberflächliche Umgang mit Informationen, an der die Wahrheit letztlich gemessen wird, führt in eine Problematik, der sich jedes Individuum zu stellen hat. Das Framing spielt dabei eine große Rolle. Die Bedeutung der Worte muss mehr und mehr hinterfragt werden, um nicht der Politpropaganda auf den Leim zu gehen. Ein sorgfältiger Umgang mit Informationen ist eine der wesentlichen Bedingungen für ein gesundes Miteinander und mithin für eine gute Politik. Mit dieser Feststellung kommen auch die Medien in die Pflicht. Auch sie haben einen Anteil am politischen Leben und eine Mitverantwortung für die Informiertheit der Bevölkerung. Die Bevölkerung wiederum steht in der Pflicht, die Verlässlichkeit der Informationen zu prüfen, die Fakten nach vorne zu stellen und fehlende Informationen zu hinterfragen. Wo das nicht möglich ist, fällt die irritierende Fehlinformation mit allen Risiken auf die eine oder andere Weise auf die Politik und ihre Verwender zurück. Es ist nur eine Frage der Zeit.

Von welcher Wahrheit geht eigentlich die (noch) nicht existierende Weltgesellschaft aus? Die Gemengelage verdeutlicht, dass sich der moralische Anspruch auf keiner Seite mit der bisher gewählten Strategie einheitlich, konsequent, oder effizient umsetzen lässt. Ein abgestimmtes Vorgehen erfordert eine zuverlässige, gemeinsame Basis, auf der die Politik aufsetzen kann. Die Mediation könnte und würde nicht nur dazu beitragen, ein gemeinsames Ziel zu finden. Sie würde auch die gemeinsame Basis herstellen können, auf deren Grundlage verlässliche Entscheidungen möglich sind. Sie würde die Wahrheit herausfinden, auf die sich alle einlassen können. Sie klärt die Unterschiedlichkeit der Grundannahmen und überlegt, wie die Unstimmigkeiten aus der Welt zu schaffen sind. Sie würde eine gemeinsame Sicht auf uns, auf die anderen und auf die Welt erarbeiten und diese zur Grundlage für eine Meinungsbildung machen. Die Auffassungen werden mit nicht über den Gegner gebildet, sodass ihre Verbindlichkeit eine Chance bekommt.

Das mit den Werten ist ohnehin so eine Sache. Leider haben sie keine absolute Gültigkeit und leider gibt es unterschiedliche Sichten darauf. Besonders bei der Frage ihrer Verletzung gehen die Vorstellungen weit auseinander. Bei der Frage ihrer Ahndung und den zugrunde liegenden Motiven erst recht. Ganz abgesehen davon, wird der Lehrmeister von den vermeintlichen Schülern gar nicht als solcher anerkannt. Viele der Schüler gehen nicht einmal in seine Schule. Somit steht also nicht nur seine Autorität, sondern auch die Deutungshoheit von gut und böse in Frage. Eine international legitimierte, überparteiliche Instanz, die diese Frage verbindlich klären und ein staatliches Fehlverhalten verurteilen könnte, gibt es nicht. Würde sie Sanktionen erlassen, wäre ein zentraler Konflikt aus der Welt geräumt. Somit ist die Errichtung einer über den Nationen stehenden, allseits anerkannten Autorität eine weitere zentrale Frage, mit der sich die internationale Politik auseinanderzusetzen hat. Gäbe es sie, hätte sicher auch der Westen unter ihren Verurteilungen zu leiden.

Das kritische Fragen verdrängende Fingerpointing verärgert nicht nur die Gegner. Es verhindert auch jede aufkommende Selbstkritik. Im Krieg verdichtet sich der Blick auf den Gegner so sehr, dass sich jede Selbstkritik schnell als Verrat abwürgen lässt. Die Kritik von Gegnern und Feinden muss ohnehin nicht ernst genommen werden. Wir unterstellen, dass die Gegner uns doch nur schaden wollen. Deren Vorwürfe können also leicht als reine Schutzbehauptungen abgetan werden. Mit diesen Einschätzungen wird auf allen Seiten nicht nur jede Kritik von innen, sondern auch von außen entkräftet. Sie verhindert die Korrektur der Sichtweisen. Dass damit auch eine Korrektur der Auffassungen all derer verhindert wird, deren Verhalten wir doch eigentlich verändern wollen, ist ein tragischer Aspekt, den wir im Auge behalten müssen. Nach den bisherigen Erfahrungen kann davon ausgegangen werden, dass die Politik in dieser Hinsicht keine Veränderung bewirkt. Sie hat lediglich erreicht, dass sich die gegnerischen Positionen verstärken. Es ist kaum vorstellbar, dass es auf diesem Weg zu einer Einsicht kommen kann, die ein Einlenken ermöglicht. Ich frage mich deshalb, ob es sein kann, dass eine Korrektur der Sichtweisen gar nicht erwünscht ist. Wenn sie erwünscht wäre, müsste eine Aufklärung angestrebt und Auseinandersetzungen eingefordert werden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieses Ziel mit Kriegen zu erreichen ist. Auf die Frage, wie mit uneinsichtigen Gegnern umzugehen ist, werde ich gesondert eingehen. Die Gewalt kann durchaus ein adäquates Mittel sein, wenn sie zur Deeskalation beiträgt.

Die Politik hinterlässt den Eindruck, dass sachliche Auseinandersetzungen eine größere Herausforderung darstellen, als die Herbeiführung eines Krieges. Mir fällt auf, dass auch die Sprache der Politik zu einer Sprache der Gewalt geworden ist. Die auch von der Presse verwendete Wortwahl erschreckt mich. Schließlich neigen auch viele nationale Politiker in den Debatten dazu, einer sachlichen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Sie reduzieren ihre Argumente auf Vorwürfe. Selbst die Beleidigung wird salonfähig. Die Aspirin-Logik scheint auch hier zu greifen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Aggression kein Beleg für eine Fähigkeit ist und dass nicht Recht hat, wer am lautesten schreien kann. Eine destruktive Kritik beweist nicht, dass es der Angreifer besser kann oder gar ein Interesse an einer Verbesserung hat. Emotionen werden genutzt, um die Informationsdefizite zu verdecken. Sie können sie aber nicht kompensieren. Dessen ungeachtet konzentrieren sich viele Politiker akribisch auf das Fingerpointing, Sie suchen nach Fehlern bei den anderen, als gäbe es sonst nichts zu sagen. Damit die Kritik nicht überhört wird, lebt ihre Sprache von maßlosen Übertreibungen. Die Wortwahl polarisiert. Und wenn die Argumente ausgegangen sind, besteht immer noch die Möglichkeit, dem Gegner unlautere Motive zu unterstellen. "Das sagt der doch nur, weil er sich profilieren will" oder „Das Vorgehen ist politisch motiviert“ oder "Die wollen uns doch nur schaden". So oder ähnlich lauten die Scheinargumente. Die Kommunikation zeigt Wirkung. Der Angegriffene geht zum Gegenangriff über und lässt sich auf das destruktive Spiel ein. Die verbale Inkontinenz erreicht ihr Ziel.

In der Sprache der Mediation wäre der verbale Angriff lediglich eine Meinung oder gar nur eine Unterstellung, mit der die Kommunikationsebene wie im Hase und Igel-Spiel gewechselt wird. Sie lenkt von dem eigentlichen Thema ab.8 Eine sachgerechte Auseinandersetzung wird verhindert. Die Mediation wäre in der Lage, die Auseinandersetzung jenseits des Streits zu ermöglichen. Sie verhindert den Ebenenwechsel. Anders als dort gelingt das Hase und Igel Spiel jedoch vortrefflich in der Realität des politischen Lebens. Hier verschafft das emotional geprägte Feindbild dem Angreifer sogar eine gewisse Komfortzone. Es lenkt von den eigenen Schwächen ab. Und nicht nur das. Es verhindert sogar, sie einzugestehen. Wen verwundert es also, wenn die moderne Sprache der Politik von Vorwürfen, Beleidigungen, Hetze und Diffamierungen dominiert wird?

Politiker, die sich dieser Sprache bedienen, sollten sich überlegen, was sie uns Menschen eigentlich sagen wollen. Was sie von uns halten und was sie über sich selbst sagen. Polemik ist nicht sachlich. In der Mediation kommen deshalb die Ich-Botschaften nach vorne. Sie sind wichtiger als das, was über den anderen gesagt wird. Es ist immer wieder interessant zu beobachten, dass die Vorwürfe, die anderen gemacht werden, auf den Vorwerfenden selbst zu treffen. Auch wenn nicht jeder gegen die Gewaltbereitschaft in der politischen Kommunikation aufbegehrt, entfaltet sie eine emotionale Wirkung. Sie befeuert die Spaltung. Leider können Emotionen nicht denken. Ist das beabsichtigt? Die Kommunikation wirft Fragen auf, mit der sich nicht nur die Politik auseinanderzusetzen hat. Auch das Auditorium, dem diese Kommunikation zusagt, sollte über sich nachdenken und die Emotionen hinterfragen. Fragen sind wichtiger als Argumente.

Die Mediation führt in Fragen hinein. Sie bietet nicht nur Kommunikationstechniken an, mit denen verbale Angriffe ins Leere gehen und mit denen eine sachliche Auseinandersetzung möglich wird. Sie liefert auch den dazu passenden Denkansatz. Die Mediation kennt keine Komfortzone. Sie nimmt jede Kritik ernst, ohne (zunächst) darauf zu schauen, von wem sie kommt und wer was falsch macht. Sie achtet stattdessen darauf, wie sich alle und jeder für sich gesehen richtig zu verhalten hätte. Falls ein Streit darüber aufkommt, was richtig oder falsch ist, werden die auf den Idealfall bezogenen Kriterien abgestimmt. Möglicherweise stellt es sich dann sogar heraus, dass die Wertvorstellungen und die Interessen des Ostens und die des Westens so weit gar nicht auseinanderliegen. Wenn die Politik für die Menschen da ist, würde sich spätestens auf dieser Ebene ein gemeinsamer Nenner finden lassen. Jeder Konsens erleichtert die Suche nach Lösungen, wenn sie sich aus einer ausbalancierten Grundeinstellung ergibt, wenn sie sich an abgeglichenen Sichtweisen und an gemeinsam erarbeiteten, am allseitigen Nutzen ausgerichteten, verbindlichen Maßstäben und Werten ausrichtet.

Selbst bei den existenziellen Frage des Zusammenlebens auf der Welt scheinen wir von einem grundlegenden Konsens noch weit entfernt zu sein. Ein Konsens beschreibt die Übereinstimmung. In der Mediation wird er von der Mehrheit (Legitimation) und dem Kompromiss (Resignation) unterschieden. Aus der Sicht der Mediation gab es für den BREXIT zum Beispiel eine knappe, formale Mehrheit, also eine Legitimation, aber keinen Konsens. Die BREXIT Problematik kommt deshalb auch nicht zur Ruhe. Nur ein Konsens bildet die breite Basis für einen gemeinsamen, konstruktiven und nachhaltigen Weg.

Es würde mich schon interessieren, welche Anstrengungen die internationale Politik konkret unternimmt, um die Völker und Nationen zusammenzubringen. Wie macht sie es möglich, dass die Nationen einen gemeinsamen Weg gehen können? Wie gedenkt sie, die Hindernisse zu überwinden, damit die unterschiedlichen Sichten nicht über, sondern mit dem Gegner abgeklärt werden. Solange es keine Instanz gibt, die diese Fragen verbindlich für die Nationen klären kann, ist die konsensbildende Verhandlung der einzige und durchaus sinnvolle Weg. Um Gräben zu überwinden, müssen Brücken gebaut, nicht eingerissen werden. Es kommt darauf an, den Weg zu zeigen, nicht ihn zu versperren. Die Aufgabe der Politik wäre aus meiner Sicht, dafür einen Rahmen zu schaffen. Ich hoffe sehr, dass daran gearbeitet wird.

Der Hintergrund des Konflikts

Müssen wir uns nicht wundern, wenn ausgerechnet die östlichen Autokratien einfordern, ...9

dass sich die internationale Gemeinschaft der Hegemonie und Machtpolitik widersetzen müsse, dass die Länder mehr Verantwortung übernehmen und sich für Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt einsetzen müssen?


Entspricht das nicht auch unseren Vorstellungen? Vielleicht liegen Ost und West gar nicht so weit auseinander? Als naiver Zeitungsleser frage ich mich: Worüber streiten die dann eigentlich? Ich komme zu dem Schluss, dass es wohl um etwas anderes gehen muss.

In der Mediation würde jeder Auseinandersetzung eine Konfliktanalyse vorangestellt werden. Sie würde auch der Politik weiterhelfen. Die Konfliktanalyse relativiert das Problem. Sie achtet mehr auf die Befindlichkeiten und die Hintergründe des Streits, als auf die jeweils vorgetragenen Meinungen und Argumente.

Mit diesem Fokus sticht mir eine Bemerkung Dimitri Medwedews ins Auge. Er soll auf einem der Höhepunkte des Kriegsgeschehens in der Ukraine gesagt haben: "Russland wird wieder ernst genommen".10 Diese Äußerung könnte auf den eigentlichen Konflikt hindeuten. Sie macht mich nachdenklich. Keine Ahnung, was Medwedew damit gemeint hat. Vielleicht war es ein Übersetzungsfehler. Trotzdem kommt mir der Gedanke auf, dass es Russland vielleicht wirklich nur darum geht, bei den Großen mitreden zu können. Gerade weil der Ukraine-Krieg als ein Stellvertreterkrieg bezeichnet wird, ist der Gedanke nicht abwegig, dass dieser Krieg eine Ausprägung des dahinter liegenden Ost-Westkonfliktes darstellt. Offenbar wird davon ausgegangen, dass sich dieser Konflikt nur durch die Unterwerfung des Gegners austragen lässt. In dem Fall wäre es brandgefährlich, wenn die eigentlichen Konfliktparteien die Waffen selbst gegeneinander richten, weil sie nicht zu einem Dialog in der Lage sind. Dann wäre der globale Krieg tatsächlich die wahrscheinliche Folge. In dieser Logik scheint man zu glauben, dass sich der Krieg zwischen den Großmächten verhindern ließe, wenn er von Stellvertretern ausgeführt und regional begrenzt wird. Man mag darüber diskutieren, ob diese Sicht, wenn sie zutrifft, schlau, feige oder hinterhältig ist. In keinem Fall scheint sie aufzugehen. So lassen sich keine Konflikte lösen. Sind sich die Konfliktparteien eigentlich im Klaren darüber, was geschieht, wenn die Stellvertreter versagen? Ist der Konflikt dann gelöst? Wahrscheinlich bricht er an einer anderen Stelle erneut aus, bis keine Stellvertreter mehr zur Verfügung stehen. Die Delegation eines Konfliktes gelingt nur, wenn sie an eine höhere, nicht wenn sie an eine niedrigere Instanz erfolgt.11 Demzufolge können die Stellvertreterkriege, von denen es einige gibt, nicht das Problem lösen. Sie verhindern nur die gebotene Auseinandersetzung.

Wieder hilft die Mediation weiter. Sie kann die fehlende, höhere Instanz ersetzen. Ihr Ausgangspunkt wäre eine genaue Identifikation der Konflikte, um sie voneinander zu unterscheiden und auseinanderzuhalten. Die Unterscheidung trägt zur Konfliktlösung bei. Auf die Ukraine bezogen gibt es, sehr vereinfacht ausgedrückt, zum einen den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Das ist die eine Ebene. Zum anderen gibt es den Konflikt zwischen der östlichen und der westlichen Welt. Das ist die andere Ebene. Beide Konflikte bedingen sich gegenseitig. Die Konfliktanalyse würde noch weitere Konflikte und Spannungen ausmachen, die damit im Zusammenhang stehen und die Komplexität der Konfliktlage spiegeln. In der Mediation würden die Konfliktebenen sauber von einander getrennt werden. Der Ost-West Konflikt würde als der Konfliktmotor identifiziert und nach vorne gestellt werden.

Als Konfliktmotor wird ein treibender Konflikt bezeichnet. Wenn er gelöst wird, verlieren auch die Folgekonflikte ihren Sinn. Mit der Unterscheidung der Konflikte lässt sich nicht nur eine Strategie zur Konfliktbeilegung erarbeiten. Sie erlaubt es auch, die jeweiligen Konfliktparteien zu identifizieren und gezielt anzusprechen. Die Realität hingegen verwischt das Bild. Da scheint alles drunter und drüber zu gehen. Die EU beispielsweise macht sich den Ukraine-Konflikt zu eigen, ohne selbst als aktive Konfliktpartei in Erscheinung treten zu wollen. Das gleiche gilt für die USA, die sogar Verhandlungen mit Russland ablehnt. Auf der Ebene des Ukrainekrieges ist diese Haltung nachvollziehbar. Auf der Ebene des Konfliktmotors jedoch nicht. Aber auch China und andere Nationen nutzen den Ukrainekrieg als Trittbrettfahrer für den Konfliktmotor, um sich gegen die Dominanz des Westens zu positionieren. Das Tohuwabohu erlaubt es, trefflich am eigentlichen Problem vorbeizureden. Fehlinterpretationen werden nicht nur genährt, sondern auch genutzt. Wenn die Konfliktanalyse zutrifft, lässt sich die gebotene Strategie im Umgang mit den Konflikten herleiten. Sie mündet entweder in einen noch größeren Konflikt und weiteren Kriegen oder in die Mediation. Ich frage mich, warum die Option einer Mediation nicht ergriffen wird.

Die Mediation hätte den Vorteil, dass sie den Nationen entgegenkommt. Denn sie bietet die Möglichkeit, die Befindlichkeiten aller Konfliktparteien ernst zu nehmen. Sie geht davon aus, dass sich die Interessen aller Konfliktparteien auf der Nutzenebene verwirklichen lassen. Wollen wir nicht alle Frieden? Ich hoffe nicht, dass darüber ein Streit aufkommt. Der Streit bezieht sich auf das Wie, also auf die Lösungen und die Bedingungen, unter denen ein Frieden möglich sein soll. Die politischen Verhandlungen scheinen auf den Nutzen nicht einzugehen. Ich hoffe insgeheim, dass die politischen Gespräche jenseits der Presse stattfinden und anders verlaufen, als sie dort kolportiert werden. Ich frage mich oft, ob die Politiker nicht mehr direkt miteinander reden, sondern nur noch über die Presse.

Wie kann es sein, dass ein Land oder vielleicht auch nur seine Regenten das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden? Das ist eine weitere grundsätzliche Frage, mit der sich die internationale Politik auseinandersetzen muss. Die Kriegstreiber müssen sich fragen, wie sich ihre durchaus berechtigte Forderung nach mehr Respekt mit der Strategie eines Krieges vereinbaren lässt. Respekt lässt sich nicht erzwingen. Ein Krieg ist also nicht der zielführende Weg. Ein Krieg will Unterwerfung. Mithin beweist der Ukraine-Krieg, dass ausgerechnet die Nation, die selbst ernst genommen werden will und Respekt einfordert, die Interessen anderer, nicht einmal eigenen Bevölkerung, weder ernst nimmt noch respektiert. Erkennt Medwedew den Widerspruch? Kann es sein, dass er wirklich glaubt, ein Mensch oder eine Nation wird nur respektiert, wenn sie groß ist und zeigen kann, wo der Hammer hängt? Müsste er dann nicht auch anfangen, die Ukraine ernst zu nehmen? Sie zeigt gerade, dass sie auch einen Hammer hat. Kommt es jetzt tatsächlich nur noch darauf an, wer den längeren hat?

Mehr Sinn bekommt das widersprüchliche Verhalten der Parteien des Konfliktmotors, wenn der Blick auf die Frage der Weltherrschaft gelenkt wird. Die gibt es nicht wirklich. Insbesondere gibt es keine Weltregierung. Sie würde festlegen, was erlaubt ist und was nicht und wie Verstöße gegen Verbote geahndet werden. Sie wäre überflüssig, wenn sich die nationalen Strategien koordinieren ließen. Offenbar funktioniert die Kooperation der Nationen nicht. Sie sind nicht in der Lage, Differenzen zu überwinden und Defizite auszugleichen. Es ist offensichtlich, dass sich die Großmächte über grundlegende Fragen nicht einig sind.

Großmächte sind alle Staaten, die einen geopolitischen Einfluss haben. Unter ihnen versucht gerade jede Nation, diesen Einfluss direkt oder indirekt über ein unseliges Taktieren zu vergrößern. Die Weltpolitik fühlt sich inzwischen an wie ein Nullsummenspiel, das nicht aufgehen wird. Trotzdem werden Fakten geschaffen, um die geopolitische Macht zu verstärken. Wenn diese Bemühungen unter ein Konfliktverhalten eingeordnet werden sollen, helfen die Erkenntnisse der Soziologie. Sie spiegeln zumindest einen Aspekt des Hintergrundkonfliktes wider. Dann denken wir an eine strukturelle Irritation, die sich auf der internationalen Plattform in einer sich zwangsläufig bildenden Weltgesellschaft unter anderem aus einer unklaren Hierarchie und einem Machtvakuum speist.

In jeder Gruppe, wozu auch Nationen zählen, bildet sich eine Rangordnung heraus. Die Soziologie ordnet die Ränge Positionen zu, die von Alphas, Betas, Gammas und Omegas besetzt werden. Die Alphas beanspruchen die Führung. Die Omegas sind die Außenseiter oder die Extremisten. Die Omegas12 haben es nicht gerade leicht im Kampf um die Hierarchie. Sie werden gerne übersehen. Das wissen auch die Terroristen, die NYMBYs und alle, die nicht mit den Wölfen heulen wollen oder können. Und weil es das Establishment auch weiß, kommt ein Außenseiter nur schwer gegen die Wölfe an.

Das ebenso antiquierte wie unsoziale Programm folgt dem Gesetz der Macht. Wer die Macht hat, der hat das Sagen. Also müssen die Omegas an der Macht rütteln, wenn sie mitreden wollen. Anders scheint das nicht zu funktionieren. Wenn legale Mittel nicht zur Verfügung stehen, finden sich schon andere Wege, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Wenn es keine Alternativen gibt, ist der Weg in die Gewalt vorprogrammiert. Umgekehrt müssen die, die das Sagen haben, ihre Macht festigen, damit sie sich das Sagen nicht aus der Hand nehmen lassen. Wer will sich am Ende noch mit gewaltbereiten Extremisten auseinandersetzen, zu denen die Außenseiter geworden sind. Kann es sein, dass sich Terror und Gewalt erübrigen, wenn die Signale rechtzeitig erkannt und auch die Omegas ernst genommen werden?13 Bei der Schwarmintelligenz wäre das der Fall. Hier bilden die Extremisten als Außenposten eine wichtige Position aus. Ganz abgesehen davon, dass sie in einem Vogelschwarm ständig ausgetauscht werden, helfen sie, die Flugrichtung zu korrigieren. Zimmermann unterscheidet das rationale Verhalten der Tiere vom emotionalen Verhalten des Menschen. Tiere wählen den kürzesten Weg. Menschen wählen den schönsten, den politisch korrekten, den empfohlenen, den naheliegenden, den billigsten oder den zufälligen Weg. Auf dem emotional geprägten Weg neigen wir Menschen dazu, die Extremisten auszublenden. Damit werden Kurskorrekturen verhindert. Zimmermann erkennt in dem Verhalten der Menschen eine irrationale Schwarmdummheit.14 Dass die Omegas ernst genommen werden sollten, ist nicht nur eine Frage des rationalen Verhaltens in einer komplexen Gesellschaft. Es ist auch ein Gedanke, der sich in dem Narrativ des Ostens wiederfindet.

Im Kampf um die Macht verdichten sich die gegensätzlichen Positionen. Aus den Positionen werden Fronten. Ein möglicher Ausgleich wird verhindert oder wenigstens erschwert. Leider führt dieser Kampf in der postmodernen Welt in die falsche Richtung. Das zeigt sich daran, dass die Kämpfer ihre Ressourcen vergeuden, indem sie lieber in die Aufrüstung investieren, anstatt in die Rettung der Welt und somit ihrer eigenen Existenz. Was haben sie nicht verstanden?

Die Frage, wer wozu auf der Welt welche Macht ausüben und besitzen soll, ist eine wesentliche Frage, auf die sich die Nationen und deren Vertreter auf gleicher Augenhöhe verständigen sollten. Die Frage drängt sich auf. Die östliche Welt bekennt sich inzwischen offen dazu, die Welt neu ordnen zu wollen.15 Immerhin sagte die
chinesische Außenamtssprecherin Mao Ning auf dem Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, dass über den Dialog ein Weg gefunden werden solle, der die legitimen Sicherheitsinteressen aller Parteien in Einklang bringe. Die internationale Gemeinschaft sollte daran arbeiten, die Bedingungen und den Raum für den Dialog zu ermöglichen. Der Dialog wäre ein richtiger Weg. Wenn die Machtverhältnisse neu geregelt sind, wird sich auch das Interesse der Großmächte an den regionalen Kriegen und damit auch an dem Ukraine-Krieg verschieben. In einer Welt ohne Bündnisse wäre Russland tatsächlich auf sich alleine gestellt. Mit einer Neuausrichtung der globalen Machtverhältnisse würde auch die Frage geklärt werden, wie Verstöße gegen die Weltordnung zu ahnden sind. Ein Dialog über diese Fragen würde also den Konfliktmotor aushebeln. Es klingt jedoch wie ein sinnloses Unterfangen, wenn sich diese Bemühungen nur auf einen Teil der Welt beschränken und dazu führen, den Widerstand gegen die westliche Welt zu vergrößern, wie auch vermutet wird.

Die internationale Gemeinschaft kann sich die Arbeit erleichtern, wenn sie sich auf eine Mediation einlässt. Sie würde aufdecken, ob die Forderungen Chinas ernst zu nehmen sind oder ob sie nur ein Lippenbekenntnis darstellen. Auch die narrative anderer Nationen insbesondere auch das von Russland, stünden auf dem Prüfstand. Die Mediation würde all das in einem vertraulichen Rahmen hinterfragen, um die wahren Motive auszuloten. Sie würde den Dialog mit allen Nationen ermöglichen und wäre der ideale Rahmen, um ein wechselseitiges Verstehen zu ermöglichen. Das gilt zumindest dann, wenn sie als ein Prozess der Verstehensvermittlung begriffen wird.16

Das Spiel mit der Macht

Eine Auseinandersetzung über die eigentlichen, weltpolitischen Konflikte ist dringend erforderlich. Der alternative Weg, die Macht zu erschüttern oder zu erhalten, löst nicht das Problem in der komplexen Weltgesellschaft. Er führt zu Verlusten, die schon jetzt auf allen Seiten spürbar sind. Welchen Nutzen die Kriegstreiberei jenseits der Machfrage bewirken könnte, ist weder angesagt noch in Sicht. Die Auffassung Medwedews, dass Russland durch den Krieg wieder ernst genommen werde, könnte durchaus ein erhoffter Nutzen sein. Er stellt sich jedoch schon jetzt als Trugschluss heraus. Mein Eindruck ist, dass der Ukraine-Krieg für Russland eher das Gegenteil bewirkt. Der Westen hat jetzt endlich einen triftigen Grund geliefert bekommen, Russland aktiv in die Omegaposition der Welthierarchie zu manövrieren. Trotzdem bleibt die Frage, wie sich der Krieg auf die Hierarchie der Völker und Nationen in Zukunft auswirken wird, für alle Seiten mehr als offen. Sicher ist nur, dass er eine Auswirkung haben wird. Die Vorzeichen deuten auf eine Spaltung der Welt hin. Dann geht der Schuss in dem Vabanquespiel für alle nach hinten los. Aber die Hoffnung auf einen Sieg stirbt bekanntlich zuletzt. Leider nimmt ihr Tod auch den Tod von zig-tausend Menschen und unsäglichen Verlusten in Kauf. Wie wäre es, wenn die tödliche Hoffnung auf den Sieg gegen eine überlebensfähige Hoffnung auf das Leben ausgetauscht wird? Sie orientiert sich am Nutzen und nicht an der sich aus der Gesetzmäßigkeit eines Pyrrhussieges ergebenden Lösung. Die Nutzenausrichtung wäre die Perspektive der Mediation.

Was Russland in jedem Fall erreicht hat, ist Furcht. Furcht ist auch ein Zweck des Terrors und der Gewaltherrschaft. Ob es sich im Einzelfall um Terror handelt oder nicht, ist nicht nur eine Frage der Gewaltausübung, sondern auch der dahinter liegenden Absichten. Auch dazu gibt es keine übereinstimmenden Sichten. Die widersprüchlichen Informationen und unstimmige Narrative erlauben viele Spekulationen, was in der Sprache der Mediation nur Meinungen sind. Fakt ist lediglich, dass Russland die Welt in Atem hält. Es findet definitiv mehr Beachtung als zuvor. Das zeigt sich schon an seiner Präsenz in den Nachrichten. Die ganze Welt schaut auf Putin und seine Schergen. Das bedeutet aber weder, dass er geachtet, noch, dass er ernst genommen wird. Auch wenn es sich für ihn ähnlich anfühlen mag. Das DWDS definiert "ernst nehmen" übrigens mit "jemandem etwas glauben, abnehmen oder etwas für bare Münze nehmen".17 Wen kann man in einer Kriegssituation überhaupt noch ernst nehmen? Ich persönlich nehme jeden ernst, dem ich vertraue, mit dem ich mich austauschen und auseinandersetzen kann und will. Das ist jemand, der etwas zu sagen hat, nicht unbedingt einer, der das Sagen hat. Jemand den ich ernst nehme, den verstehe ich oder den will ich zumindest verstehen. Der ist einschätzbar und verlässlich. Russland könnte durchaus ein ernst zu nehmender Partner sein, genau wie China und andere Staaten, die glauben, Atombomben bauen zu müssen, um ernst genommen zu werden.

Offenbar ist Russland mit dem Ansinnen, ernst genommen zu werden, nicht alleine. Es ist auffällig, dass Länder wie beispielsweise auch China und der Iran vom Westen ständig Respekt einfordern. Wer Respekt einfordert, will beachtet werden. Die Forderung wird jedoch beflissentlich überhört. Auch wird deutlich, dass Respekt nicht nur ein Bedürfnis des Ostens ist. Wir erinnern uns, dass Donald Trump forderte: "Make America great again". Keine Ahnung was er damit gemeint hat. Ist "groß" gleichzusetzen mit mächtig? Amerika beansprucht für sich eine ebenso umstrittene, wie bröckelnde Führungsrolle.18 Woran macht es diese Rolle eigentlich fest? Mangels Ernennung kommt der Hammer ins Spiel. Schließlich kann und darf ein Alpha den Hammer schwingen, scheint man zu glauben. Wieder verdeutlicht die Aspirin-Logik, dass der Besitzer eines Hammers nicht automatisch den Alphastatus erwirbt.

Es ist gar nicht so leicht, mit dem Hammer umzugehen, ohne gleichzeitig die eigenen Werte zu zerschlagen. Je nach dem zugrunde gelegten Narrativ scheint der Zweck jedoch alle Mittel zu heiligen. So werden Präventivkriege möglich. Sie stellen den Rechtfertigungsversuch für einen Krieg jenseits der konkreten Verteidigungslage dar. Der Begriff wurde übrigens genau wie der Blitzkrieg von den Nazis erdacht, um einen Angriffskrieg zu kaschieren. Es ist schon bemerkenswert, wer sich die Nazi-Terminologie heute zu eigen macht. Mit dem Hammer in der Hand wird es auch möglich, erklärte Feinde in den Territorien von wehrlosen Ländern zu töten, ohne dass eine vorherige Verurteilung oder eine Abstimmung mit dem betroffenen Land stattgefunden hat. Auch auf dieses Mittel greifen alle Seiten auf unterschiedlichste Weise zurück. Die Grenzen der Menschenrechte, des Kriegsvölkerrechts und der durchaus bestehenden Regeln über die Anwendung von Gewalt zwischen Staaten werden verwischt und systematisch ausgeweitet.19 Wen wundert es, wenn das Verhalten Schule macht?

Ein Hammer fragt nicht nach der Erlaubnis zur Zerstörung. Er schaut nur darauf, wer ihn schlagen kann. Und wer ihn schlagen kann, sieht jedes Problem als einen Nagel. Er übersieht, dass weder die Menschen noch die Ethik Nägel sind. Deshalb stellen die sich aus der Diskrepanz zur Ethik ergebenden Spannungen eine auf Werten basierende Politik durchaus in Frage. Auch das gilt für alle Konfliktparteien. Sie schürt das Misstrauen, riskiert die Nachvollziehbarkeit der Politik und büßt ihre Glaubwürdigkeit ein. Die Glaubwürdigkeit ist eine weitere grundsätzliche Frage, mit der sich die Politik auseinandersetzen muss. Lippenbekenntnisse und schöne Worte sind dafür nicht genug. Die Authentizität ist das Merkmal, worauf es ankommt.

Ausgerechnet Xi Jinping hat aus meiner Sicht völlig zu Recht erkannt, dass Staaten in Not geraten, ...20

... wenn sie blindes Vertrauen in ihre Stärke setzen, Militärbündnisse erweitern und ihre eigene Sicherheit auf Kosten anderer suchen.


Ist das eine Anspielung auf die Rücksichtslosigkeit des Westens? Auch diese Eigenschaft findet sich bei allen Konfliktparteien also auch im Osten wieder.
Xi Jinping bezieht die Warnung auf den Westen. Erkennt er, dass der Osten jetzt die gleiche Strategie einsetzt und dass seine Warnung besonders vor dem Hintergrund des Ukraine Krieges auch an Russland zu richten wäre? Besonders nachdenklich macht mich jedoch die Frage, woher eigentlich das Bedürfnis nach Sicherheit im Osten wie im Westen kommt? Woher kommt das Misstrauen? Beruht es auf Projektionen, Scheinargumenten oder auf der wirklichen Sorge vor Übergriffen? All das ist möglich.

Übergriffe gibt es tatsächlich genug auf der Welt. Damit ließe sich das Misstrauen durchaus erklären. Es ist aber sicher nicht der einzige Grund dafür. Hat sich irgend jemand überhaupt einmal dafür interessiert, warum sowohl der Osten wie auch der Westen das Bedürfnis haben, sich voreinander zu schützen? Gibt es Überlegungen, wie sich ein Vertrauen unter den Nationen herstellen lässt? Wahrscheinlich nicht, denn sonst würden die Mahnungen des Ostens, dass die NATO als Bedrohung wahrgenommen werde und dass sie dem Osten zu nahe komme, nicht einfach mit dem Hinweis auf freiheitliche Werte vom Tisch gewischt werden. Die Begründung ist jedenfalls kaum in der Lage, Sorgen zu zerstreuen. Die Kommunikation würde ihr mangelnde Empathie bescheinigen. Diese Bescheinigung stellt sie allen Nationen aus. Deshalb sind die Allianzen, die sich jetzt in der östlichen Welt bilden, zwar eine mögliche strategische Reaktion. Sie sind, wie die NATO aber ebenso wenig vertrauensbildend. Auch diesen Effekt würde die Mediation vermeiden. Sie ließe sich auf die Sorgen aller ein. Sie würde sie verstehen wollen und interessiert sich dafür, was erforderlich ist, um sie zu zerstreuen. Die Antwort liegt auf der Hand.

Ich frage mich auch, was Xi Jinping meint, wenn er von Stärke spricht? Was ist das überhaupt, wozu braucht man das und woraus leiten die Nationen ihre Stärke her?

Die Stärke ist nur eine Illusion

Was ich sehe ist lediglich, woraus die Völker und Nationen ihre Stärke nicht herleiten. Mir scheint, für sie ist Stärke lediglich ein Synonym für wirtschaftliche oder militärische Macht und ein Symbol für den Hammer. Es kommt darauf an, wer das Sagen hat. Selbst die vermeintlichen Werte des Westens sind nicht genug ausgeprägt, um als eine Stärke erkannt zu werden. Ohne den Ukraine-Krieg wäre das sehr deutlich zu spüren. Denn die Einigkeit des Westens beruht nicht auf einem Konsens. Sie wird auf eine unterstellte Not zurückgeführt. Das ist etwas anderes. Es ist absehbar, dass die Einigkeit wieder bröckeln wird, wenn die Not vorüber ist oder wenn sie sich durch andere Nöte relativiert. Das gleiche gilt für die Einigkeit in den Bündnissen, die der Osten jetzt herausbildet. Sie sind aus der Rivalität gegenüber Amerika motiviert. Würde China Russland weiterhin unterstützen wenn die Rivalität zwischen China und den USA überwunden ist? Davon abgesehen stellt sich die Frage, was von einer Politik zu halten ist, in der die Angst geschürt und die Not der Menschen strategisch ausgenutzt oder sogar herbeigeführt wird? Diese Politik wäre für alles und jeden da, nur nicht für die Menschen. Sie benutzt die Menschen, die sich bereitwillig dafür hergeben. Die Emotionen sind der Schlüssel für den Missbrauch.

Wie dem auch sei. Für mich steht fest, dass es gute Nachbarn nicht nötig hätten, Ängste voreinander zu schüren, Macht zu demonstrieren und sich über ihre Sicherheit zu sorgen. Sie würden sich abstimmen, wenn Probleme auftreten. Sie akzeptieren einander und können einander vertrauen. Es gibt immer wieder einen der aus der Reihe tanzt. Es wird ihm nicht gelingen, wenn die Nachbarn zusammenhalten. Ihr Gefühl von Sicherheit entsteht aus dem Respekt und einem Verständnis heraus, das die Nachbarn füreinander entwickeln können. Sie müssen keine Freunde sein. Sie müssen nur wissen, dass sie keine andere Wahl haben. Ich gehe davon aus dass ein ähnlicher Effekt entsteht, wenn sich die Nation als Nachbarn und nicht als Feinde begreifen.

Verständnis entsteht aus Empathie. Warum geht die Politik nicht den emphatischen Weg, wenn ihr die Sicherheit am Herzen liegt? Wieder kommt mir in den Sinn, dass es vielleicht um etwas anders geht. Vielleicht fehlt es einfach nur am Selbstvertrauen, das dem Respekt im Wege steht. Der Mangel an Selbstvertrauen ist weit verbreitet.

So wie es scheint, mangelt es auch den Amerikanern daran. Wie sonst kann es sein, dass die Parole "Make America great again" eine Mehrheit im Land gefunden hat? Offenbar empfanden sich die Amerikaner in der Vergangenheit einmal great. Es ist auffällig, dass sie den Vergangenheitstraum mit anderen Nationen teilen. Das klingt fast so, als gäbe es nur die Erinnerung an eine verlorene Größe, an der sich die eigene Bedeutung festmachen lässt. Allerdings ignoriert die an der Vergangenheit gemessene Illusion von Größe, dass und wie sich die Welt und die Lebensbedingungen um sie herum verändert haben und noch verändern werden. Auch was groß ist, hat heute eine andere Bedeutung.

Wieder führt die Aspirin-Logik in die Irre. Man ist nicht groß, nur weil der andere klein ist oder klein gemacht werden kann. Was heißt "great" überhaupt? Das Wort kann mit groß, großartig und tatsächlich auch mit bedeutend übersetzt werden. Kann es sein, dass Amerika seine Bedeutung mit seinem Traum von "America first" an einem verlustigen Alphastatus in der Welthierarchie festmacht? So wie es scheint, leiden viele Nationen unter diesem Defizit. Auffällig ist auch ihre Suche nach der Identität. Sie ist eine natürliche Folge der zunehmenden Komplexität einer globalen Welt. Wir finden sie auch bei Individuen, die ihre Identität mehr und mehr über andere definieren oder in Äußerlichkeiten suchen, statt in sich selbst. Ihr Selbstwert leidet darunter. Da kommt ein Feindbild gerade recht. Es kompensiert die Suche nach der Identität, auch wenn es sie nicht ersetzen kann.

Im Deutschen geht das Wort "groß" übrigens auch mit Großzügigkeit, Großmütigkeit und Großherzigkeit einher. In diesen Wortkombinationen bekommt die Größe eine andere Bedeutung. In ihr lässt sich auch die Identität wiederfinden. Sie zollt meinen Respekt. Wer fähig ist, seine Bedeutung in sich zu finden und anderen Raum geben kann, ohne die Angst zu haben, sich sonst in der Bedeutungslosigkeit zu verlieren, der ist wirklich groß. So groß, dass ich ihn ernst nehmen kann und will. Die Großmannssucht hingegen, die andere unterdrückt, um sich selbst zu erheben, verursacht bei mir, trotz ihrer Gefährlichkeit, eher ein Gefühl des Bedauerns. Sie hinterlässt den Eindruck der inneren Schwäche und der Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Sie beweist nur ein kleines Herz.

Was würde passieren, wenn die Staaten, die Staatenlenker und die Despoten an der Größe ihres Herzens gemessen werden? Was würden sie antworten, wenn sie gefragt werden, was ihnen wichtiger ist, gefürchtet zu sein oder geachtet zu werden? Tatsächlich kaschieren die verzweifelten Machtdemonstrationen und die wilden Drohungen lediglich, wer wirklich mächtig ist. Das sind längst nicht mehr einzelne Nationen und erst Recht keine Militärbündnisse. Das ist die Natur. Sie zeigt uns gerade, wo der Hammer hängt. Interessanter Weise kommt sie ohne wilde Drohungen aus. Sie warnt lediglich und ist einfach nur konsequent.

Was können wir tun?

Eine Indianerweisheit sagt:

Wenn Du merkst dass das Pferd stirbt, das Du reitest, steig ab!


Es ist Zeit zum Absteigen. Gemeint ist, die Strategie zu ändern. Die Strategie ändern heißt, andere Wege zu gehen. Der Weg in die Freundschaft ist ein anderer Weg. Verhandlungen sind dafür kein Garant, solange ihr Ergebnis von der Zahl der Atombomben abhängt oder solange sie die Abhängigkeit Schwächerer ausnutzen, um Erpressungen oder Unterwerfungen zu kaschieren. Das sind keine Verhandlungen im Verständnis der Mediation. Sie setzen die Konfrontation nur auf einer anderen Ebene fort. Verhandlungen ändern ihren Charakter, wenn sie im Rahmen der Kooperation auf gleicher Augenhöhe geführt werden oder dazu führen. Deshalb kommt es darauf an, die Voraussetzungen für eine Kooperation der Nationen herzustellen. Das gelingt bei Freundschaften und Partnerschaften.

Das Verfahren der Mediation könnte den Rahmen für eine Partnerschaft der Nationen herstellen. Das förmliche Verfahren stellt eine strategische Exklave her, in der die Kooperation möglich wird. So wird es möglich, Ergebnisse jenseits der Konfrontation auszuloten. Die Mediation ist also auch in einem Krieg möglich. Das setzt allerdings voraus, dass sie in der dazu geeigneten Variante angeboten und verstanden wird.

Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Staatenlenker auf ein derartiges Verfahren einlassen. Im konventionellen Denken löst die Vorstellung sich auf ein derartiges Verfahren einzulassen eher ein Unbehagen aus. Russland dürfte kein Interesse daran haben, wenn die aus dem Gedanken der Rivalität entstandenen Bündnisse des Ostens ihre Rechtfertigung verlieren. Auch wenn die NATO obsolet wird, wäre Putin auf sich selbst gestellt. Die USA könnten befürchten, ihre Vormachtstellung aufzugeben, wenn sie mit den Omegas auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Anders als in der Mediation werden im konventionellen Denken die Ergebnisse der Verhandlung vorweggenommen. Dabei wird übersehen, dass es völlig offen ist, wie sich die zu gründende Weltgesellschaft letztlich orientiert. Es gibt viele soziologische Modelle, die der Bedeutung des einzelnen auch jenseits der Hierarchie eine tragende Rolle zukommen lassen. Die Mediation jedenfalls geht davon aus, dass sich der Nutzen aller Nationen optimieren lässt, ohne dass jemand zurücktreten muss.

Wir müssen uns von dem konventionellen Denken befreien, um diese Möglichkeiten in Betracht ziehen zu können. Jenseits des Kriegsgeschehens gibt es viele Gelegenheiten, damit zu beginnen. Schon wenn das geopolitische Interesse an lokalen Konflikten keine Rolle mehr spielt, ändert sich das Bedürfnis zur Einflussnahme. Dann könnten sich die Großmächte darauf beschränken, sicherzustellen, dass die regionalen Konflikte lokale Konflikte bleiben und gewaltfrei gelöst werden. So könnte ich mir eine neue Weltordnung sehr gut vorstellen. Ich frage mich, welche Vorstellung der Osten hat, wenn er eine neue Weltordnung einfordert. Geht das in die gleiche Richtung?

Der politische Schritt in diese Richtung ist jedoch nicht leicht. Solange Verhandlungen und Freundschaftsangebote nicht als Stärke, sondern als Schwäche ausgelegt werden, ist ein Umdenken erforderlich. Auch hierfür gibt die Mediation eine Anleitung. Sie führt automatisch in ein Umdenken, weil sie anders ist. Sie schaut auf den Menschen und sein Bedürfnis, sich zu verwirklichen. Sie nimmt Emotionen ernst, stellt den Verstand und die Besonnenheit aber darüber. Was wir also tun können ist, von der kognitiven Herangehensweise der Mediation zu lernen.

Der Frieden beruht auf der Fähigkeit, auftretende Differenzen zwischen Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten auf gewaltfreier Basis zu lösen. Er lebt von der Fähigkeit zur konstruktiven Auseinandersetzung. Wenn ich diese Fähigkeit in der Politik wiederfinde, erkenne ich eine gute Politik, die nicht nur den Frieden praktiziert, sondern ihn auch herbeiführt.

Arthur Trossen


Bild von Tumisu auf Pixabay dl am 28.6.2022