Die Geschichte beginnt wie in einem Märchen. Es gab einmal ein Forum für Mediation, wo sich die Pioniere der Mediation und ihre Protagonisten zusammengesetzt haben, um über die Einführung und Verwendung dieser neuartigen Methode zu diskutieren. Das geschah in einer Phase der Selbstfindung der Mediation. Wir haben die Mediation als einen Import vom Ausland übernommen und uns bemüht, sie auch hier in Deutschland zu etablieren. Vieles war unklar. Auch die Frage was Mediation überhaupt ist und wie damit am besten umzugehen ist war noch mehr oder weniger offen. Das Forum bestand aus ca. 15 Protagonisten, wozu die damals bereits gegründeten Verbände aber auch ein Verlag und eine Hochschule zählten. Damals war die Verbindlichkeit der Beschlüsse und Empfehlungen wie im Code of Conduct for Mediators nur durch eine Selbstunterwerfung sichergestellt. Die Mitglieder des Forums trafen sich etwa zwei Mal im Jahr und haben über alle Fragen diskutiert, die die Mediation betrafen.
 
Ein Märchen endet üblicherweise mit dem Satz: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie glücklich bis an ihr Lebensende. Die Mediation ist alles andere als gestorben und sie hat auch kein Lebensende. Sie ist nicht einmal ein Lebewesen. Leider, möchte ich fast sagen. Denn wäre sie ein Lebewesen, könnten wir sie fragen, ob sie glücklich ist. Sie könnte für sich selbst sprechen, was Mutmaßungen über ihr Wohlbefinden erübrigt. Wenn die Mediation eine Märchenfigur wäre, gäbe es, wie in jedem anderen Märchen auch, einen König und eine böse Hexe. Es gäbe einen Zauberer, einen Prinzen als Thronanwärter und seine wunderschöne Prinzessin. Es gäbe ein Aschenputtel, ein Rumpelstilzchen, Dämonen, Trolle und alle möglichen Kreaturen, die in dem Königreich ihr Unwesen treiben. Und wie in jedem Märchen, gewinnt das Gute. Sonst wäre es kein Märchen. Das einzige was es in dem Märchen der Mediation nicht gibt, ist das Königreich. Es gibt nur eine nicht näher bestimmte Welt, in der das Märchen spielt.
 
Das Konzept der Selbstunterwerfung der ersten Stunde mag in das Bild der Mediation passen. Es passt aber nicht in das Bild einer staatlichen Verwaltung. Dort gibt es eine hierarchisch angelegte Organisationsstruktur mit Regularien und einem Apparat. Dieser Gedanken kam auch den Protagonisten des Forums für Mediation in den Sinn, als es darum ging, die Frage der Ausbildung verbindlich zu regeln. Die Notwendigkeit einer staatlichen Regelung lag auf der Hand. Es sollte sichergestellt werden, dass sich nur Mediator nennen darf, wer über eine ausreichende Ausbildung verfügt. Die Ausbildung wurde zum Garant für die Qualität der Mediation deklariert. Tatsächlich interessierte sich der Staat zunehmend für das Aufkommen der Mediation. Es war der Moment als das Forum aufgelöst wurde. Nicht ausgesprochen aber möglicherweise ausschlaggebend mag dabei die Vorstellung gewesen sein, dass der Staat als Königsmacher benutzt werden könne. Und wenn ein Königsmacher gesucht wird, muss es auch einen Thronanwärter geben, der seine Führungsposition unter Beweis stellen kann. In dem Forum wäre er nur einer unter vielen. Da gibt es keine Anwärter. Nicht ausgesprochen, aber möglicherweise durchaus ausschlaggebend mag auch der Gedanke gewesen sein, dass nur, wer die Regularien der Ausbildung definiert und die Hand über die Vergabe von Berechtigungen hält, in der Welt der Mediation eine Vorrangstellung bekommt. Er bekommt die Kontrolle über den Markt.

Zumindest in Deutschland ist die Welt der Mediation noch keinem König zugetan. Es gibt viele Anstrengungen. Weil sich die Regierung bisher nicht zum Königsmacher missbrauchen ließ, sind die Protagonisten auf sich selbst gestellt. Aber es muss doch einen König geben, glauben viele. Das Königreich soll doch beschützt werden und gedeihen. Deshalb suchen auch die Mediatoren oder zumindest einige der Protagonisten nach einer Struktur, die der staatlichen Verwaltung entspricht. Also steht die Frage im Raum, wer denn der König sein kann.

Die Frage wird nicht explizit gestellt. Denn die Gefahr, dass sich das Volk nicht hinter den selbsternannten Thronanwärter stellt, ist groß. Das Volk ist sich seiner ja nicht einmal bewusst. Unklar ist schon, wer überhaupt dazu gehört und mitreden kann. Wie sich herausgestellt hat sind das nicht nur fünf, sondern weitaus mehr Verbände und Institutionen wie Kammern und Schulen, die sich der Mediation längst bemächtigt haben und sie auch nicht mehr hergeben wollen. Als die Regierung versucht hat, das Volk zusammenzurufen, wurden die unterschiedlichen Vorstellungen jenseits der fünf Verbände sichtbar. Es hat sich gezeigt, dass das Königreich der Mediation viel größer ist als es sich die Elite vorgestellt hat.

Anders als in den herkömmlichen Märchen gibt es wohl in dem Königreich, nicht jedoch in der Welt der Mediation nicht wirklich eine böse Hexe. Es gibt auch keinen Zauberer und leider auch niemanden, den man als den Helden identifizieren kann, wenigstens nicht solange, bis die Mediation die Rolle der Heldin übernimmt. Das hat sie unbemerkt längst getan. Ihre Heldenhaftigkeit besteht darin, dass sie dem Volk vertraut. Sie weiß, welche Wirkung sie hat. Und wenn es das Volk dies auch versteht, muss sie gar nichts unternehmen, damit ihre Welt gedeiht.

Und hier beginnt das eigentliche Märchen der Mediation.

Die Mediation basiert auf dem Gedanken, dass Menschen in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst und eigenverantwortlich zu regeln. Ihre Vernunft schafft es, einen Konsens zu finden, der den Nutzen aller herbeiführen kann und die Welt der Mediation vereinigt. Sie weiß, dass für dieses Happy end ein Weg geschaffen werden muss, der einen Rahmen vorgibt, in dem sie ihren Weg verwirklichen kann. Nun stoßen wir auf ein Problem, das wir auch aus den Mediationen kennen. Der Weg, den die Mediation anbietet, führt nämlich durch feindliches Gelände. Er ist oft nicht gut erkennbar. Um ihn dennoch zu ermöglichen, schafft die Mediation eine strategische Exklave. Man könnte sie als das Mediationsland bezeichnen. In diesem Land ist es einerseits möglich, den Weg der Mediation zu gehen. Andererseits erlaubt es aber auch, den Weg zu umgehen oder ihn jederzeit wieder zu verlassen, um Helden zu finden, die das Volk durch den eingefahrenen Weg im feindlichen Gelände führen.

Zwei Welten begegnen sich. Die konventionelle Welt der staatlichen Verwaltung und die Welt der Mediation, die eine Welt der konsensorientierten Selbstverwaltung propagiert. Für welche Welt entscheiden wir uns, wenn wir die Mediation fördern und in ein System wie den Staat oder die Gesellschaft integrieren möchten?

Im Zweifel entscheidet sich der Mensch immer für den Weg, den er kennt. Es ist der Weg, der ihm die beste Lösung verspricht. „Wenn ich das mache oder bin, dann ..." ist die naheliegende Art des Denkens. Wir suchen nach Strukturen, die Entscheidungsprozesse jenseits der Mediation ermöglichen. Der eingefahrene Weg hat sich doch bewährt oder etwa nicht?

Deshalb wird die Entscheidungsbefugnis in einer Demokratie auf eine durch Wahlen legitimierte Institution delegiert. Schon hier kollidiert die konventionelle Welt mit der der Mediation. Die Mediation würde eine solche Instanz nicht kennen. Auch die Demokratie ist ein Herrschaftsformat. Sie geht zumindest ideell von der Herrschaft des Volkes aus. Der Konsens bezieht sich deshalb bestenfalls auf die Legitimation der Entscheider. Sie erfordert lediglich eine Mehrheit, und keinen Konsens im Einzelfall. Die Delegierten werden mit Befugnissen ausgestattet. Die legitime Macht erlaubt ihnen einen dominanten Einfluss, wenn nicht sogar die Entscheidungsgewalt. Das konventionelle Denken will, dass dieser Einfluss auch in der Mediationslandschaft für Recht und Ordnung sorgt.

Die Gedankenwelt der Mediation und die darauf basierenden Entscheidungsprozesse funktionieren jedoch anders. Die Mediation kennt keine Delegation. Alle entscheiden auf gleicher Augenhöhe. Es gibt also auch keine Hierarchie. Alle werden gehört und können sich einbringen. Die Vorstellung, dass dies zwar in dem Verfahren der Mediation, nicht aber in einer Gesellschaft möglich sei, sollte überdacht werden. Es ist eine spannende Frage, der sich die Mediationslandschaft zu stellen hat. Sie erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis der Mediation ein und macht sie lebendig. Je mehr die Mediation zur Anwendung kommt, umso deutlicher wird ihre Kompetenz und umso mehr löst sie sich aus dem Korsett des Mediationsverfahrens heraus.

In dem Märchen der Mediation überlegen sich die Protagonisten also, wie sich die Mediation in die Struktur einer Gesellschaft integrieren lässt, ohne sich selbst zu verraten oder irgendwelchen Thronanwärtern zu unterwerfen. Sie überlegen sich, wie ihre Vielfalt zur Geltung kommen kann und wie sie der Gefahr der Selbstreferenzialität entgehen. Sie werden auf den Gedanken kommen, dass die Organisation der Mediationslandschaft möglicherweise völlig neu gestaltet werden muss, dass sie zwar mit den staatlichen Strukturen kompatibel ist, sich ihnen aber nicht unterwirft. Es braucht wohl eine Mediation, damit dieser Spagat gelingt.

Die moderne Gesellschaft verändert die Welt. Die Bedürfnisse verschieben sich ebenso wie die Möglichkeiten. Es kommt darauf an, beides zu erkennen, Bedürfnisse und Möglichkeiten. Moderne Unternehmen lassen sich bereits auf die Veränderung ein. Sie haben erkannt, wie wichtig es ist, die Ressourcen im Unternehmen nicht auf eine Führung zu konzentrieren. Sie haben auch erkannt, dass sich weder das Wissen noch die Verantwortung auf einen Punkt konzentrieren lässt. Von einer flachen Hierarchie ist die Rede und davon, dass Mitarbeiter mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet werden. Auch die Tierwelt kennt Strukturen, die sich aus der Hierarchie herauslösen. Sie nutzen die Schwarmintelligenz. Ein Vogelschwarm beispielsweise hat keinen Führer. Die Entscheidungen werden in kleinen Kommunikationszellen getroffen die aber durch den Schwarm alle miteinander in Verbindung stehen. Die Extremisten sind die Korrekturposten. Sie werden ebenso wie der vorausfliegende Vogel ständig ausgetauscht. Die Entscheidungen werden im Schwarm getroffen, wo es nur zwei Regeln gibt: fliege so dicht wie möglich an dem nächsten Vogel und berühre ihn nicht.

Das klingt fast wie einen Modell das gut zur Mediation passt. Ein Schwarm der sich selbst organisiert. Leider steht der Schwarmintelligenz auch die Schwarmdummheit gegenüber. Sie zeigt sich beispielsweise bei den Kriegerameisen, die aus der selbstbezogenen Fährte nicht mehr herauskommen und sich zu Tode rennen. Ein Schwarm, der sich selbst überlassen bleibt, könnte also durchaus in die falsche Richtung laufen. Es bedarf also eines Kompromisses, der hilft den Weg zu definieren, denn der Schwarm zurückzulegen hat und der gleichzeitig kontrolliert, ob der Schwarm sich noch auf dem gewollten Weg befindet.

Auch hierzu gibt es Ansätze in der Gesellschaft, in denen die Entscheidung des Individuums in einer Art und Weise nach vorne gestellt wird, dass sie den Interessen der Gesellschaft nicht zuwiderläuft. Ob die konventionellen Strukturen dafür geeignet sind, erscheint fraglich. Wir sehen, dass sich die Demokratien in Spannungen verrennen, die sich konventionell nicht auflösen lassen. Wir sehen, dass sich der Kampf um Vorrang und Anerkennung in Rosenkriegen und realen, verlustreichen Kriegen aufzulösen versucht.

In einem Streit kann das Verfahren der Mediation oder auch ihre Methodik aus dem Teufelskreis herausführen. Warum sollte es der Mediationslandschaft nicht gelingen, sich so zu organisieren, dass es erst gar nicht zu Konfrontationen kommt? Wenn ihr das gelänge, wäre sie ein Vorbild für die Gesellschaft, in der die Spannungen und die Aggression zunehmen. Die Gesellschaft ist dringend auf ein Umdenken angewiesen. Wir sehen gerade in der Ukraine was passiert, wenn das nicht gelingt. Wir sehen den Abgrund und rennen immer schneller darauf zu. Was wir nicht sehen, ist die Heldin, die das verhindern kann. Wir können sie nicht sehen, weil es sich nicht um eine Person handelt.

Die Mediationslandschaft hat die Möglichkeit, ihre Heldin sichtbar zu machen. Bisher ist es ihr nicht gelungen. Es braucht also eine Steuerung von außen, die es ihr möglich macht. Wäre ein Dachverband in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen?

Definitionsgemäß handelt es sich bei einem Dachverband um einen übergeordneten Verband, in dem mehrere Verbände zusammengeschlossen sind. Jede Überordnung erfordert eine Unterordnung. Schon dieser Gedanke passt nicht in das Märchen der Mediation, das von einer Gleichordnung ausgeht. Die Idee eines Zusammenschlusses passt schon eher dazu, je nachdem was darunter verstanden wird.

Erst wenn die Frage der Über- und Unterordnung von Personen und Institutionen gelöst wird, löst sie sich aus der Hierarchie heraus. Ideell betrachtet gibt es ein übergeordnetes Ziel, das den Weg bestimmt, dem wir gemeinsam folgen können und wollen. Ein gemeinsames Ziel wurde zumindest nach meinem Verständnis bisher in der Mediationslandschaft noch gar nicht ausgerufen. Da ist von Förderung der Mediation die Rede. Aber es wird nicht einmal klar, ob damit das Mediationsverfahren, der Mediationsmarkt oder die Idee und die Gesellschaft gemeint sind.

Und was bedeutet schon ein Zusammenschluss? Dahinter könnte sich die Ausgrenzung derer verbergen, die nicht zusammengeschlossen sind. Auch dieser Gedanke passt nicht zur Mediation, die alle Protagonisten einbezieht, die ein Interesse am Ergebnis haben und deren Beteiligung nicht von der Zugehörigkeit abhängig gemacht wird. In der Mediation wäre deshalb besser von einer Gemeinschaft die Rede.

Im Grunde sind wir wieder am Anfang.

Auch die Frage, ob es nicht doch wieder ein Forum geben sollte, wie zu Beginn des Märchens, wird wieder laut. Der Gedanke passt zur Mediation. Anders als damals haben wir heute wesentlich mehr Erfahrungen mit der Mediation gewinnen können. Vielleicht ist sie inzwischen auch so groß, dass es gelingt, das Konzept der Mediation auch auf sich selbst zu beziehen. Dann liegt eine Selbstorganisation nahe, die eine gesunder Entwicklung jenseits der Politik und wettbewerblichen Interessen ermöglicht. Das Modell der Coopetition bietet sich an. Es garantiert eine gemeinsame Entwicklung, die losgelöst vom Wettbewerb und politischen Interessen erfolgen kann. Auch dieses Konzept legt den Gedanken eines Forums nahe. Natürlich braucht es eine Instanz, die organisiert und umsetzt. Wie wäre es mit dem Konzept der EU, die auf ein Rotationsprinzip setzt. Wichtig ist, dass über diese Fragen eine Auseinandersetzung stattfinden kann. Wichtig ist auch, das hat die bisherige Geschichte gezeigt, dass es keinen Sinn macht, wenn sich nur einige selbsternannte Statthalter der Mediation berufen fühlen. Im Gegensatz zu den vermeintlich großen Mediationsverbänden hat das Ministerium der Justiz alle Protagonisten eingeladen, um über Änderungen an der Ausbildungsverordnung und am Mediationsgesetz zu diskutieren. Plötzlich hat es sich gezeigt, dass die Verbände in eine Minderheit geraten sind, weil die Mediationslandschaft schon viel größer geworden ist, als sie erwartet haben. Sie wird noch weiter wachsen. Dafür sorgt schon unsere Heldin. Sie empfiehl übrigens, einfach so zu tun, als wäre die anstehende Frage ein Streitfall, für den die Mediation eine kontrollierte Emergenz herausbilden soll. Sie verspricht eine Zukunft, die der Gemeinschaft davon betroffenen Menschen Rechnung trägt und eine Balance der Interessen herbeiführt. Das sollte für Mediatoren doch eigentlich kein Problem sein, oder?

Die Eingangs gestellte Frage, ob die Mediation einen Dachverband braucht, beantwortet sich eigentlich aus sich selbst heraus. Die Mediation braucht ganz sicher keinen Fachverband. Wenn, dann sind es die Menschen und Organisationen, die sich um die Einführung der Mediation bemühen. Ob sie einen Dachverband brauchen, hängt davon ab, welche Kompetenz sie der Mediation zuschreiben. Wenn sie an ihre Heldin glauben, brauchen sie keinen Dachverband. Wenn nicht, brauchen sie einen.

Arthur Trossen


Bild von Ralph auf Pixabay dl am 24.9.2022

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