Der Artikel von Felix Stephan in der Zeit1 , wurde geschrieben, nachdem die Gesellschaft für deutsche Sprache "postfaktisch" zum Wort des Jahres gekürt hat2 . Zur Begründung der Philologen wird ausgeführt, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten gehe. Immer größere Bevölkerungsschichten seien aus Widerwillen gegen "die da oben" bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Insofern stehe das Wort für einen tief greifenden politischen Wandel.
Jemand, der das präzise Zuhören gelernt hat, will diese Einschätzung konkretisieren. Ihm fällt zunächst auf, dass Fakten Emotionen gegenüber gestellt werden. Er fragt sich jedoch, wo die Meinungen bleiben. Ein Mediator3 unterscheidet stets zwischen Fakten, Meinungen und Emotionen (und noch mehr).
Leider geht es in den politischen und gesellschaftlichen Diskussionen gerade nicht um Emotionen. Würden sie angesprochen, dann würde man unter anderem über Vertrauen reden und wie man es herstellen kann. Man würde über Ängste reden und über Wertschätzung und was sie ausmacht. Tatsächlich wird weder über das eine noch über das Andere geredet. Stattdessen wird über Meinungen gestritten. Ein Mediator weiß, dass es sich nicht lohnt, darüber zu streiten. Man darf andere Meinungen haben. Das Problem in unserer politischen und sozialen Gesellschaft ist allerdings, dass wir uns viel zu schnell eine Meinung erlauben und die Meinung anderer verbieten und kritisieren und emotional mit Ablehnung, Entrüstung und Empörung reagieren. Man sollte darüber nachdenken, wo das Verhalten herrührt4 . Eine mögliche Hypothese wäre, dass Empörungen Komplexität reduzieren und eine rationale Problemverarbeitung verhindern helfen.
Ein Mediator hat gelernt, dass es sich lohnt die Meinung des Anderen zu verstehen und nachzuvollziehen. Jetzt fragt es sich: Wer macht sich die Mühe, das zu tun? Geht das überhaupt, wenn die Auseinandersetzung auf der Grundlage von gegenseitiger Ablehnung stattfindet? Ein Mediator weiß:
Die Emotionen geben das Motiv zur Diskussion,
Fakten geben den Anlass,
Meinungen ergeben die Lösung!
Einem Mediator fällt es auch auf, wie über Meinungen gestritten wird. Die Anlässe und Motive jedenfalls werden nicht offengelegt. Markant ist schließlich, dass darüber gestritten wird, was wahr ist und was nicht. Genauer gesagt wird darüber gestritten, was Fakt ist und was nicht. Was wahr ist, ist eine Frage der Beurteilung und Bewertung. Was Fakt ist ist eine Frage der Beweisführung. Der Mediator erinnert sich an die 2 Grade der Wahrheit Watzlawicks, nämlich die faktische Wahrheit5 und die Bedeutungswahrheit. Ein Mediator weiß, dass dieser Streit keinen Sinn macht - nicht, wenn es darum geht, einander zu verstehen. Wohl aber, wenn es darum geht Verstehen zu vermeiden. Warum sagen die Politiker (Streithähne) nicht einfach: "Du meinst Fakt (ein Ereignis) sei dies und Du meinst (das gleiche Ereignis) sei jenes. Wie stellen wir fest ob das Ereignis so oder so stattgefunden hat?".
Beispiel: Es wird behauptet, die Briten zahlten 350 Millionen Pfund wöchentlich an die EU. Das ist ein behauptetes Fakt, das sich leicht durch Zahlen belegen lässt. Das Fakt stimmt. Es relativiert sich allerdings wenn man die Gegenzahlungen der EU an Groß Britannien subtrahiert. Dann reduziert sich die Zahlung auf nur noch 136,5 Millionen Pfund pro Woche. Worüber wird also gestritten, wenn über Zahlungen an die EU gestritten wird?
In der präzisen Kommunikation des Mediators werden die Fakten stets von Meinungen getrennt. Es wird darauf geachtet, dass Meinungen nicht als Fakten dargestellt werden. Gleichzeitig wird herausgestellt, auf welche Fakten sich die Meinungen beziehen.
Beispiel: Die Aussage, dass Großbritannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht brauche ist eine Einschätzung, also eine Bewertung. Das ist eine Meinung. Es gibt verschiedene Standpunkte dazu. Man kann alles Mögliche vertreten und trefflich streiten, solange die Kriterien nicht abgestimmt sind, was "brauchen" bedeutet. Die Kriterien ergeben sich aus der Frage nach dem Wozu.
In der öffentlichen Diskussion fällt auf, dass über Meinungen gestritten wird, ohne dass die Kriterien, an denen die Meinung zu messen ist abgestimmt werden.
Felix Stephan vertritt in dem zitierten Beitrag die Auffassung, das Postfaktische habe innerhalb von neun Monaten eine steile Karriere hingelegt. Der Begriff habe sich von einem Intellektuellenbegriff zur Allzweckwaffe entwickelt und umschreibe letztlich den Begriff "falsch". Postfaktisch ist die Übersetzung von "post-truth". Der Begriff wurde von Jill Lepores geprägt, um das Phänomen zu erklären, warum der Rationalismus von politischen Interessengruppen diskreditiert wird. In ihrer frühen Analyse des US-Wahlkampfes bestimmte sie das Internet als Netz, das vom Ende der Fakten kündet. Forscht man weiter nach dem Ursprung des Begriffs, landet man bei Hannah Arendt und ihrer Unterscheidung von Tatsachenwahrheiten und Meinungswahrheiten. Das kommt dem Wirklichkeitsverständnis von Watzlawick entgegen und der in der Mediation allseits bekannten Differenzierung zwischen der Wirklichkeit 1. und 2. Grades.
Statt zu beklagen, dass die Vernunft dem Postfaktischen geopfert wird, könnte die Bedeutung der als falsch identifizierten Argumentation hinterfragt werden. Was bedeutet es, wenn die Einen behaupten die Wahrheit zu sagen und die Anderen Lügner nennen wobei die Anderen frech behaupten, dass sie diejenigen sind, die die Wahrheit sagen und dass die Einen die Lügner sind. Fakten sind evaluierter, Meinungen sind diskutierter, Bedeutungen bedürfen der Abstimmung. Es wird Zeit über die Motive zu verhandeln statt über Behauptungen. Es wird Zeit für die (integrierte) Mediation, denn sie kann sich über die wenig zielführenden und am Verstehen vorbeiführenden Streitereien hinwegsetzen - mit einem Staunen statt mit Empörung.