Wer sich in einer modernen Gesellschaft auf eine Schatzsuche begibt, wird wahrscheinlich zunächst das Internet bemühen. Ich gebe also in der Suchmaschine die Begriffe ein: Mediation, Wahrheit, Schatz. Das Ergebnis lautete:1
Bitte beachten Sie, dass die Wahrheit nach diesem Zitat kein Schatz ist. Hier wird das Potenzial der Konfliktparteien als Schatz angesehen. Die Wahrheit ist nur ein Hindernis, den Schatz zu heben. Das Hindernis kann jedoch beseitigt werden, wenn es gelingt, die Wahrheit nicht als eine objektive Tatsache, sondern als individuelle Sichtweise zu begreifen.2
Das klingt nach einer abenteuerlichen Meinung, was der Schatzsuche entspricht. Ungewöhnlich erscheint auch, dass der Mediator der Schatzsucher sein soll. Sollten das nicht die Parteien sein? Was wir aus dem Zitat lernen, ist jedoch, dass der Umgang mit der Wahrheit in der Mediation gar nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Die These lautet
Auf die (reale) Wahrheit kommt es gar nicht an, aber darauf, dass nach ihr gesucht wird. Der Schatz ist die (visionäre) Wahrheit, also eine Wahrheit, die es noch gar nicht gibt.
Das klingt wirr und paradox, sodass ich auf die Hintergründe näher eingehen und die These hinterfragen will. Immerhin wird die Wahrheit als Schatz gesehen. Warum und wie, soll in den folgenden Kapiteln dargelegt werden.
1. Begriffliches und Verständnis
2. Philosophische Betrachtungen
3. Wahrheit und Wirklichkeit
4. Die fachliche Bedeutung
5. Die Wahrheit in der mediativen Kasuistik
6. Zusammenfassung / Fazit
Begriffliches und Verständnis
Das Thema dieses Beitrages enthält zwei markante Begriffe, nämlich: Schatz und Wahrheit.
Beide Wörter sind reich an Bedeutung und Assoziationen. Wenn es also darum geht, in der Mediation einen Schatz zu heben, fangen wir auch damit an.
Was ist ein Schatz?
Eine gängige Assoziation bei dem Wort "Schatz" ist der materielle Reichtum, wie z.B. Gold- und Silbermünzen, am liebsten in einer Truhe und als Piratenschatz. Dann wird mit dem Wort auch eine emotionale und zwischenmenschliche Wertschätzung verknüpft. Schatz wird als Kosewort oder als Metapher für einen Menschen verwendet, der einem unendlich viel bedeutet. Hallo Schatzi! Schließlich assoziiert der Schatz etwas Verborgenes oder Verlorenes. Ein Geheimnis, das es zu entdecken gilt und das am Ende nicht leicht zu finden ist.
Natürlich wäre es ein Schatz, wenn die Mediation nach einer Erbauseinandersetzung beispielsweise zu Reichtum führt oder, wenn eine Beziehung geheilt wird und der Partner wieder zum Schatz wird. Die Frage ist nur, was das mit der Wahrheit zu tun hat. Eine Wahrheit kann auch vernichtend sein. Ist es ein Schatz, wenn die eine Partei wahrheitsgemäß zur anderen sagt:
Müssen wir ihr jetzt gratulieren, dass sie einen Schatz gehoben hat?
Und was ist, wenn der Schatz gehoben wurde, ist er dann immer noch ein Schatz?
Juristisch ist ein Schatz nach § 984 BGB übrigens eine Sache, die so lange verborgen gelegen hat, dass der Eigentümer nicht mehr zu ermitteln ist. Wird sie gefunden, wird das Eigentum zur Hälfte dem Entdecker und zur anderen Hälfte dem Eigentümer der Sache zugesprochen, in welcher der Schatz verborgen war. Ein Schatz kann also seine Eigenschaft nach dem Fund durchaus verlieren. Auch die gefundene Wahrheit muss kein statischer Wert sein. Damit kommen wir zur Frage, was Wahrheit ist.
Was ist Wahrheit?
Gängige Assoziationen bei "Wahrheit" sind zunächst Objektivität und Fakten. Wahrheit ist das Gegenteil von Lüge oder Täuschung, etwas, das wissenschaftlich zu beweisen ist oder unumstößliche Tatsachen beschreibt. Das ist das Gegenteil von der subjektiven Sichtweise, auf die das eingangs erwähnte Zitat die Wahrheit reduzieren möchte.
Die Herkunft des Wortes erlaubt Rückschlüsse auf seine Verwendung in der Mediation. Das Wort wahr kommt in der Wahrscheinlichkeit, der Wahrnehmung, der Wahrsagung und der Wahrheit selbst vor. Es geht zurück auf das althochdeutsche wâr, das verlässlich, echt, treu und glaubwürdig bedeutet. Die germanische Wurzel bedeutet „das Vertrauenswürdige“, „das Sichere“ und die noch tiefer gehende indogermanische Wurzel drückt damit „wahrnehmen, glauben, achten, vertrauen“ aus.3 Das Wort „wahr“ bedeutet ursprünglich also nicht „faktisch richtig“, sondern „vertrauenerweckend / verlässlich“.
Ich habe das Gefühl, dass die Wahrheit in der Mediation oft eher in dem überkommenen Sinn verstanden wird.
Um der Bedeutung des Begriffs Wahrheit auf den Grund zu gehen, steht natürlich die philosophische Betrachtung ganz vorne an. Die Auseinandersetzung mit der Wahrheit ist so alt wie die Philosophie selbst. Sie ist so wichtig, dass ihr ein ganzes Kapitel in dieser Abhandlung gewidmet wird. Um das Ergebnis jedoch vorweg zu nehmen: Wir wissen nicht was Wahrheit ist.
Weil das rationale philosophische Verständnis von Wahrheit auch nur bedingt in der Lage ist, den Umgang mit der Wahrheit in der Mediation zu erklären, bedarf es einer Auseinandersetzung mit dem psychologischen Verständnis von Wahrheit oder ihrem emotionalen Empfinden. Plötzlich bekommt die Wahrheit ein Gefühl. „Wie fühlt sich Wahrheit an?“ Und mit dem Gefühl bekommt sie auch einen Zweck. „Wozu brauche ich sie und was will sie mir sagen?".
Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Thema die Mediation ist. Deshalb soll ein Bezug der Wahrheit zum Verfahren der Mediation hergestellt werden. Das geschieht einmal, indem die fachliche Relevanz des Begriffs untersucht wird und zum anderen, indem die Frage, wie die Mediation mit Wahrheit umgeht, kasuistisch betrachtet wird. Dazu jedoch später. Damit wir dasselbe meinen, sollen vorher noch einige begriffliche Abgrenzungen helfen, die Wahrheit korrekt einzuschätzen.
Abgrenzungen
Viele Begriffe lassen sich leichter erklären, wenn sie gegen andere Begriffe abgegrenzt werden. Bei der Wahrheit ist die Abgrenzung besonders wichtig, weil viele Worte unscharf und sogar synonym genutzt werden. Ein Abgrenzungsbedarf ergibt sich zu Begriffen, die oft genannt werden, wenn über Wahrheit gesprochen wird. Die Abgrenzung soll anhand des Beispiels einer Flasche erläutert werden:
- Realität: Ist, was wirklich existiert – unabhängig von uns. In dem Beispiel also die konkrete, physische Flasche und gegebenenfalls der exakte Inhalt (z.B. Wasser, Saft, Sand oder ein winziger Schatz), der in ihr ist. Die Realität ist der unveränderliche, objektive Fakt. Sie ist einfach da. Ob wir hinschauen oder nicht.
- Wirklichkeit: Ist das, was wir wahrnehmen und erleben. Im Beispiel also die Flasche, wie wir sie sehen entsprechend der Sinneseindrücke: "Ich sehe eine undurchsichtige, Flasche." Die Wirklichkeit ist unsere subjektive Erfahrung der Realität. Sie ist das, was auf uns "wirkt".
- Erkenntnis: Ist der Prozess des Verstehens und das Ergebnis dieses Prozesses. Im Beispiel ist der Prozess das Betrachten der Flasche. Sie stellen Hypothesen auf ("Das könnte eine Ölflasche sein"). Dann vergleichen Sie die Annahmen mit Ihrem Wissen. Im Ergebnis kommen Sie zu einer Schlussfolgerung: "Ich erkenne, dass es eine graue Glasflasche ist, deren Inhalt ich nicht bestimmen kann." Oder: "Ich erkenne, dass ich den Inhalt nicht erkennen kann." Erkenntnis ist die Landkarte, die wir uns von der Wirklichkeit zeichnen.
- Fakten: Sind überprüfbare und beobachtbare Teile der Wirklichkeit. Im Beispiel sind Fakten: "Die Flasche ist grau.", "Die Flasche ist undurchsichtig.", "Der Inhalt der Flasche ist nicht sichtbar." Fakten sind die unbestreitbaren Bausteine unserer Wirklichkeit. Sie sagen uns das Was, aber nicht das Warum oder Wozu.
- Wahrheit: Das ist die ÜBEREINSTIMMUNG zwischen unserer Erkenntnis und der Realität. Laut Immanuel Kant kann ein Gegenstand oder eine Sache an und für sich nicht wahr sein. Ein Gegenstand rührt die Sinne und löst deshalb Erkenntnisse aus. Wahrheit entsteht also erst mit der Zuordnung des Gegenstandes zur Realität.
Jetzt verschiebt sich die Wirklichkeit, indem ihr eine Bewertung zukommt. Die Bewertung hat einen subjektiven Einschlag und entspricht (zunächst wenigstens) einer Meinung. Damit wird ein weiterer Begriff zur Abgrenzung eingeführt:
- Meinung: Die Meinung erlaubt eine Interpretation und eine Einschätzung. Sie ist subjektiv gefärbt. Auf das Beispielk bezogen sind die beiden möglichen Interpretationen folgende: in einer optimistischen Sicht ist die Flasche einmal als halb voll zu sehen und einmal in einer pessimistischen Sicht als halb leer.
Mit dieser subjektiven Note nähern wir uns dem eingangs erwähnten Zitat wenigstens zum Teil. Wir halten fest, dass es eine objektive und eine subjektive Wahrheit gibt.
Philosophische Betrachtungen
Die Philosophie ist wohl die einzige Wissenschaft, die sich mit der Wahrheit befasst. Sie ist auf der Suche nach der absoluten Wahrheit. Die Naturwissenschaften kennen den Begriff nicht. Dort ist von Falsifikation die Rede, womit jede Wahrheit durch den möglichen Gegenbeweis per se in Frage gestellt wird.
Dass die Wahrheit keine absolute Aussage zulässt, passt insoweit zur Philosophie, weil sie sich mit der Frage befasst, was Wahrheit ist, nicht mit der Frage, was wahr ist. Die zentrale philosophische Frage lautet somit: Wie genau ist unsere Erkenntniswelt und inwieweit entspricht sie tatsächlich der Realität, die unabhängig von unserer Brille der Wirklichkeit existiert? Mit dieser Frage nähern wir uns der Kantianischen „Kritik der reinen Vernunft“ und hinterfragen, wozu der Verstand überhaupt fähig ist und was wir ihm zumuten können.
Die überlagernde Wahrheit
Spätestens mit Schrödingers Katze begegnen wir dem Beobachter- oder dem Superpositions-Paradoxon. Mit diesem Gedankenexperiment der Quantenphysik, das der Physiker Erwin Schrödinger im Jahre 1935 entwickelte, wird die Wahrheit herausgefordert.
Das Experiment ist - stark vereinfacht - wie folgt aufgebaut: Man stellt eine Katze in eine verschlossene Kiste. In der Kiste befindet sich eine winzige Menge radioaktives Material, ein Geigerzähler und ein Giftfläschchen. Der Quanteneffekt besteht darin, dass das radioaktive Atom innerhalb einer Stunde eine 50:50-Chance hat, zu zerfallen. Wenn es zerfällt wird der Geigerzähler ausgelöst. Er zertrümmert das Giftfläschchen und die Katze stirbt. Wenn es nicht zerfällt, passiert nichts, und die Katze lebt.
Das Verblüffende an dem Experiment ist die „Superposition". Nach den Regeln der Quantenmechanik befindet sich das radioaktive Atom in einem Zustand der Überlagerung (Superposition) – es ist gleichzeitig zerfallen und nicht zerfallen, solange niemand nachschaut. Schrödinger argumentierte übertragend, dass die Katze in der Kiste gleichzeitig tot und lebendig sein müsste, wenn das Atom beides gleichzeitig ist. Und zwar so lange, bis jemand die Kiste öffnet und nachschaut. Erst durch die Beobachtung "entscheidet" sich der Zustand.
Das Beispiel ist eine Inspiration für die Mediation. Die Wahrheit realisiert sich mit der Betrachtung. Allerdings müssten wir, um diese Metapher auf die Mediation zu übertragen, in der Mediation davon ausgehen, dass wir mehr als eine Kiste haben. Dann hat jede Partei eine verschlossene Kiste, in der sich eine winzige Menge radioaktives Material, ein Geigerzähler, ein Giftfläschchen und eine Katze befindet und es gibt noch mehr Katzen und Zombies.
Die Wahrheit ist alles andere als eindeutig.
Wahrheitstheorien
Die Suche nach der Wahrheit gehört zu den zentralen Themen der Erkenntnistheorie und der Sprachphilosophie. Sie befasst sich mit der Frage, was es bedeutet, dass eine Aussage wahr ist. Bitte beachten Sie das Detail. Die Frage richtet sich nach der Bedeutung der wahren oder unwahren Aussage und nicht danach ob sie tatsächlich wahr ist oder nicht.
Die Wahrheitstheorien lassen sich in folgende Gruppen einteilen:
- Objektivistische Theorien: Wahrheit ist unabhängig von uns Menschen und unserem Denken in der Welt vorhanden (Korrespondenz).
- Kohärenz- und Konsenstheorien: Wahrheit entsteht im Zusammenhang unserer Überzeugungen oder im Diskurs mit anderen.
- Pragmatische und anti-realistische Theorien: Wahrheit ist das, was sich in der Praxis bewährt oder was wir für wahr halten können.
- Sonderfälle: Unterscheidung nach Kontext und der Funktion des Wortes wahr.
Die 10 Wahrheitstheorien im Überblick:
- Korrespondenztheorie: Gehört zu den objektivistischen Theorien. Die These lautet: Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. ("Wahrheit ist die Übereinstimmung von Urteil und Sache.") Ein Beispiel ist: Die Aussage "Der Schnee ist weiß" ist genau dann wahr, wenn der Schnee in der Realität tatsächlich weiß ist. Vertreter: Aristoteles, Thomas von Aquin, Bertrand Russell.
- Kohärenztheorie: Gehört zu den Kohärenz- und Konsenstheorien. Die These lautet: Eine Aussage ist wahr, wenn sie widerspruchsfrei in ein System von bereits als wahr anerkannten Aussagen (eine Theorie, ein Weltbild) passt. Ein Beispiel ist: Ein neues wissenschaftliches Experiment gilt als wahr, wenn seine Ergebnisse kohärent mit den bestehenden Naturgesetzen sind. Vertreter: Spinoza, Hegel, Hilary Putnam.
- Konsenstheorie: Gehört zu den Kohärenz- und Konsenstheorien. Die These lautet: Wahrheit ist das, worauf sich alle vernünftigen Teilnehmer in einem idealen Diskurs unter fairen Bedingungen einigen würden. Ein Beispiel ist: Eine ethische Norm (z.B. "Menschenwürde ist unantastbar") ist wahr, weil sie Ergebnis eines rationalen, demokratischen Prozesses ist. Vertreter: Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel.
- Pragmatische: Gehört zu den pragmatischen und anti-realistische Theorien. Die These lautet: Wahr ist, was sich praktisch bewährt, was nützlich ist und erfolgreiches Handeln ermöglicht. Ein Beispiel ist: Die Annahme, dass die Schwerkraft existiert, ist wahr, weil wir auf ihrer Grundlage erfolgreich Brücken bauen und Flugzeuge steuern können. Vertreter: Charles S. Peirce, William James, John Dewey.
- Deflatorische Theorie (Redundanztheorie) Gehört zu den Sonderfällen. Die These lautet: Der Begriff "wahr" ist überflüssig. "Es ist wahr, dass p" bedeutet nichts anderes als "p". "Wahr" ist nur ein sprachliches Werkzeug, um Zustimmung auszudrücken. Beispiel: Der Satz "Es ist wahr, dass es regnet" bedeutet einfach "Es regnet". Das Prädikat "...ist wahr" fügt keine neue Bedeutung hinzu. Vertreter: Frank P. Ramsey, Paul Horwich.
- Performative TheorieGehört zu den Sonderfällen. Die These lautet: "Wahr" zu sagen ist keine Beschreibung, sondern eine Handlung – ähnlich wie "Ich verspreche...". Man vollzieht den Akt der Zustimmung oder Bestätigung. Beispiel: Wenn ein Richter sein Urteil spricht, stellt er nicht nur eine Tatsache fest, sondern performt die rechtliche Wahrheit. Vertreter: J.L. Austin.
- EvidenztheorieGehört zu den Sonderfällen. Die These lautet: Eine Aussage ist wahr, wenn sie uns in unmittelbarer, zweifelsfreier Einsicht (Evidenz) gegeben ist. Beispiel: Mathematische Sätze (z.B. "2+2=4") oder der berühmte Satz von Descartes "Cogito ergo sum" ("Ich denke, also bin ich") werden als evident wahr empfunden. Vertreter: Descartes, Edmund Husserl (Phänomenologie).
- Konstruktivistische Theorie: Gehört zu den pragmatischen und anti-realistische Theorien. Die These lautet: Wahrheit wird nicht entdeckt, sondern aktiv durch den Menschen in sozialen und kognitiven Prozessen konstruiert. Sie ist abhängig von unserer Sprache, Kultur und Geschichte. Beispiel: Was in einer Kultur als "wahre" Geschichte gilt, wird durch die Sieger, durch Medien und gesellschaftliche Diskurse konstruiert. Vertreter: Heinz von Foerster, in abgeschwächter Form auch im Postmodernismus.
- Pluralistische Wahrheitstheorie: Gehört zu den Sonderfällen. Die These lautet: Es gibt nicht eine Wahrheitstheorie für alle Bereiche. Unterschiedliche Kontexte erfordern unterschiedliche Wahrheitskonzepte. Beispiel: In den Naturwissenschaften mag die Korrespondenztheorie angemessen sein, in der Ethik die Konsenstheorie und im Alltag die pragmatische Theorie. Vertreter: Crispin Wright, Michael P. Lynch.
- Skeptizismus: Gehört zu den pragmatischen und anti-realistische Theorien. Die These lautet: Eine sichere und endgültige Erkenntnis der Wahrheit ist für den Menschen unmöglich. Wir müssen an allem zweifeln. Beispiel: Radikale Skeptiker fragen: "Wie können wir sicher sein, dass wir nicht träumen oder dass es eine Außenwelt überhaupt gibt?" Vertreter: Antike Skeptiker (Pyrrhon von Elis), in Teilen David Hume.
Kennen wir jetzt die Wahrheit?
Die Antwort lautet: Es kommt darauf an. Wenn wir nach einem einzigen, allumfassenden Wahrheitsbegriff suchen, müssen wir wohl eingestehen, dass es ihn nicht gibt. Jede Theorie hat ihre Stärken und Schwächen. Die Korrespondenztheorie klingt intuitiv, aber: Wie können wir sicher sein, dass unsere "Übereinstimmung" mit der Wirklichkeit selbst zutrifft? Die Kohärenztheorie ist für Wissenschaften nützlich, aber: Ein in sich geschlossenes Märchen ist auch kohärent, aber deswegen noch nicht wahr. Die pragmatische Theorie ist praktisch, aber: Nützliche Lügen (oder Irrtümer) können auch "funktionieren".
Wenn in der Philosophie über Wahrheit geredet wird, sind manchmal einfach nur wahre Aussagen gemeint.
Die Wahrheitstheorien liefern somit kein endgültiges Rezept, sondern verschiedene Werkzeuge des Denkens. Sie helfen, präziser zu fragen, was gemeint ist, wenn wir sagen, etwas sei wahr. Ob in der Wissenschaft, im Recht oder im Alltag – wir bewegen uns immer in einem Spannungsfeld zwischen Fakten, Konsens, Nützlichkeit und Kohärenz.
Vielleicht ist die einzig wahre Erkenntnis, dass die Frage nach der Wahrheit uns zwingt, dialogbereit zu bleiben.
Die gefühlte Wahrheit
Während die Logik nach widerspruchsfreier Korrektheit und die Wissenschaft nach empirischer Belegbarkeit sucht, fragt die Psychologie, wie für einen Menschen das Gefühl von Wahrheit entsteht und welche Konsequenzen dieses Gefühl für sein Erleben und Verhalten hat. Dabei werden 4 Konzepte identifiziert:
- Wahrheit als subjektive Konstruktion: Individuell kohärente, sinnvolle Repräsentation der Welt.
Kernidee: Wahrheit ist das, was für das Individuum kohärent und sinnhaft ist.
Konstruktivismus (radikaler Konstruktivismus): Unser Gehirn ist kein passiver Spiegel der Realität, sondern ein aktiver Konstrukteur.
Kognitive Schemata: Wir haben mentale Modelle (Schemata) von der Welt (z.B. "Wie funktioniert eine Beziehung?", "Was ist gerecht?"). Informationen, die in diese Schemata passen, werden als "wahr" und stimmig empfunden. Was nicht passt, wird ignoriert, verzerrt oder vergessen (kognitive Dissonanz). - Wahrheit als funktionale Nützlichkeit: Eine Überzeugung, die Wohlbefinden und Handlungsfähigkeit fördert.
Kernidee: Manchmal ist das, was hilfreich ist, "wahrer" als das, was faktisch korrekt ist.
Selbsterfüllende Prophezeiung: Meine subjektive Wahrheit verändert die Realität.
Positive Illusionen: eine "unwahre" positive Überzeugung psychologisch oft "wahrer" (d.h. funktionaler) als eine deprimierende, aber faktisch korrekte Einschätzung.
Therapeutische Perspektive: Dysfunktionale "Wahrheiten" identifizieren und austauschen - Wahrheit als narrative Kohärenz: Eine sinnvolle und konsistente Lebensgeschichte.
Kernidee: Die Kohärenz der Geschichte ist ihre Wahrheit.
Narrative Wahrheit: Die "Wahrheit" einer Geschichte liegt in ihrer Kohärenz und Bedeutsamkeit für uns, nicht in ihrer historischen Präzision.
Glaubenssätze und Weltbilder: Glaubenssätze über uns selbst, andere und die Welt wirken wie Filter. - Wahrheit als soziale Übereinkunft: Ein innerhalb einer Gruppe geteilter Konsens über die Realität.
Geteilte Wahrheit (sozialer Konstruktivismus): Wahrheit wird in sozialen Gruppen ausgehandelt. Was in einer Kultur, einer Familie oder einem Freundeskreis als "wahr" gilt, ist oft ein Konsens, der das Zusammenleben regelt und Identität stiftet (z.B. politische Überzeugungen, religiöse Dogmen). Diese "soziale Wahrheit" kann sehr mächtig sein, auch wenn sie von außen betrachtet irrational erscheint.
Begriffliche Klarstellungen
Wenn wir die gesamte Spanne der objektiven und der subjektiven Wahrheiten erfassen, wird unklar, was eine wahre Aussage ist. Eine wahre Aussage ist sicherlich: "Koblenz ist eine Stadt am Rhein". Eine wahre Aussage ist auch: "Koblenz ist eine Stadt an der Mosel". Die Aussage: "Ich war gestern in Koblenz", kann wahr sein, wenn dem so ist. Wenn ich dachte, ich wäre in Koblenz gewesen, war es aber nicht, ist die Aussage subjektiv wahr, aber objektiv falsch. Ist die Aussage jetzt wahr oder unwahr?
In der Philosophie bezieht sich die "Wahrheit" einer Aussage stets auf ihre Korrespondenz zur Realität. Die subjektive, innere Wahrheit nennt man besser Überzeugung, Glaube oder Aufrichtigkeit. Die Verwirrung entsteht, weil wir im Alltag beide Konzepte mit demselben Wort – wahr – beschreiben. Weil die Verwechslung der beiden Ebenen eine Quelle unzähliger Konflikte darstellt, will Watzlawick den Unterschied mit der Begrifflichkeit einer Wirklichkeit 1. und 2. Grades erfassen:
- Wirklichkeit 1. Grades: Die Wirklichkeit 1. Grades ist die objektive, physikalische Realität. Sie ist (in der Theorie) messbar, überprüfbar und konsensfähig. Auf diese Ebene bezieht sich die Korrespondenztheorie der Wahrheit.
- Wirklichkeit 2. Grades: Das ist nach Watzlawick die Domäne der subjektiven Überzeugung, Bewertung und Interpretation. Sie "korrespondiert" nicht mit der physikalischen Realität, sondern mit der gedeuteten Realität im Kopf des Beobachters. Letztlich ist die Wirklichkeit 2. Grades eine andere Bewertung der gemeinsamen Tatsache, der Wirklichkeit 1. Grades.
Die folgende Aufstellung soll helfen, die Wahrheit differenziert und relational zu betrachten:
| Realität | Wirklichkeit 1. Grad | Fakten |
| Wirklichkeit | Wirklichkeit 2. Grad | Bedeutungen |
| Wahrheit | Anerkenntnis der Bedeutung als Fakt |
Die fachliche Bedeutung der Wahrheit
Wenn die Wahrheit als Anerkenntnis der Bedeutung als Fakt definiert wird, interessiert natürlich nur ein relevantes Anerkenntnis. Also eine Wahrheit, auf die es ankommt. Wenn es Sie nicht interessiert, ob ich gestern in Koblenz war oder nicht, müssen wir der Frage nicht nachgehen, ob die Aussage wahr ist oder nicht. Möglicherweise unterstellen Sie mir einfach, dass ich nicht lüge, sodass Sie ohnehin von der Wahrheit meiner Aussage ausgehen, auch wenn ich gestern ganz woanders war. Gehen Sie andererseits jedoch davon aus, dass ich ohnehin immer lüge, dann sieht Ihre Wahrheit, die zur Grundlage Ihrer Unterstellung wird, wiederum ganz anders aus. Dann ist alles falsch, was ich sage und entsprechend dem Lügnerparadoxon auch wieder richtig, wenn sich die Falschheit auch auf diese Einschätzung erstreckt.
Das Beispiel der projizierten Unwahrheit ("du Lügst ohnehin immer") soll die Frage der Verschränkung von Wahrheiten andeuten und zeigen, dass die Frage, was Wahrheit ist und wo ich der Frage nach der Wahrheit auf den Grund gehe, nicht nur eine punktuelle Bedeutung hat. Insbesondere beschränkt sich die Wahrheitsfrage in der Mediation nicht auf eine reine Faktensuche. Sie ist eher eine Suche nach Bedeutung. Die Berührungspunkte mit Mediation sind komplex. Sie stellen sich in einer konzeptuellen, prozessualen, persönlichen, konfliktbezogenen, rechtlichen, verstehenden und entscheidenden Relevanz dar.
- Konzeptuelle Relevanz: Die Wahrheit ist ein Fakt in der Vergangenheit oder in der Gegenwart. Wie passt die Suche nach ihr in das Konzept der Mediation, wenn es bei der Mediation um die Gestaltung der Zukunft geht. Ein relevanter Bezug zur Wahrheit würde sich demnach also nur insoweit herstellen, wo die zukünftige Wahrheit betroffen ist und gestaltet wird. Eine zukünftige Wahrheit gibt es aber nicht. Die Philosophie kennt unterschiedliche Ansätze, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Zumindest die logische Perspektive, die bereits von Aristoteles vertreten wurde und die existenzielle Sicht des Menschen im Weltbild von Karl Popper, sehen die Zukunft lediglich als eine Möglichkeit, nicht als Gewissheit. Mithin ist die zukünftige Wahrheit keine gegebene Tatsache. Sie bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen dem, was sein wird, und dem, was wir daraus machen. Für die Mediation bedeutet das, wir müssen nicht um die Wahrheit streiten. Wir können sie gestalten. Wir müssen lediglich den Weg finden, wie die Gestaltung möglich wird und wie man die (unbequeme, alte und reale) Wahrheit gegebenenfalls hinter sich lassen kann.
- Prozessuale Relevanz: Die prozessuale Relevanz setzt sich mit der Frage auseinander, wo und wie die Wahrheit im prozessualen Ablauf der Mediation vorkommt. Die Stellschrauben im Prozess werden am besten mit der Frage aufgedeckt, was zu manipulieren ist, damit eine Partei den größeren Vorteil aus der Mediation zieht. Schon die Fragestellung belegt, dass ein derartiges Ansinnen zum Scheitern verurteilt sein muss, weil es zu einem konfrontativen Vorgehen verleitet und deshalb weder mit dem Ziel noch mit den Prinzipien der Mediation vereinbar wäre. Davon abgesehen, müsste an den Interessen und Bedürfnissen angesetzt werden, weil sie letztlich bestimmend für das Ergebnis sind, wenn die Gegenseite (und der Mediator) auf die Manipulation hereinfallen.
- Persönliche Relevanz: Auch wenn die Klärung der Wahrheit für die Sachentscheidung bedeutungslos ist, kann beobachtet werden, dass die Parteien dennoch massiv um Recht und Unrecht oder darum streiten, was wahr ist und was unwahr ist. Der Streit hat einen emotionalen Grund. In seiner Auflösung stellt es sich meist heraus, dass es um Attributionen geht. Die Aussage: „Ich kann Dir nicht vertrauen, weil Du lügst. …“, verdeutlicht das Motiv. Die Einschätzung des Gegenübers könnte als Rechtfertigung für das eigene Verhalten dienen. Der Mediator sollte die Motive hinterfragen. Denn erst die Auflösung des Zweckes belegt, worum es bei der Wahrheitssuche wirklich geht.
- Konfliktrelevanz: Konflikte leiten in die Irre. Sie verleiten dazu, das Unwahre zu sagen. Trotz oder gerade wegen der dadurch ausgelösten Irritation fordern sie zur Wahrheitssuche auf. Die Wahrheit ist der wahre Name des Konfliktes, den wir als das Rumpelstilzchen bezeichnen. Es handelt sich nicht um eine faktische Wahrheit, wohl aber um eine reale Erkenntnis.
- Rechtliche Relevanz: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Allerdings taucht das Wort Wahrheit im Mediationsgesetz gar nicht auf. Das bedeutet nicht, dass die Wahrheit keine Rolle spielt. Sie tritt implizit (ohne Erwähnung) in Erscheinung, wo es eine Wahrheitspflicht gibt, die sich aus folgenden Regeln ableiten lässt: Ganz vorne steht der Informationsgrundsatz. Die volle und korrekte Bereitstellung von Informationen ist ein wichtiger Grundsatz der Mediation. Alle Informationen müssen korrekt sein. Der Mediator darf nicht lügen. Kurz: Wenn der Mediator Informationen einbringt, müssen sie stimmen. § 2 Abs. 6 Mediationsgesetz besagt: „Der Mediator wirkt im Falle einer Einigung darauf hin, dass die Parteien die Vereinbarung in Kenntnis der Sachlage treffen“. Schließlich fordert auch das Verständnis der Mediation als Verstehensvermittlung die Wahrheit ein. Sie erlaubt Orientierung und den zielführenden Erkenntnisgewinn.
- Verstehensrelevanz:Die Wahrheit dient als Kompass im Erkenntnis- und Verstehensprozess. Sie ist ein Orientierungspunkt und ein Korrektiv gegen die reine Beliebigkeit. Ohne das Konzept von Wahrheit wäre jede Meinung, jede Interpretation, jedes Gefühl gleichgültig. Wahrheit erlaubt uns die Unterscheidung zwischen fundierter Erkenntnis und bloßer Vermutung. Sie erlaubt auch das Korrektiv von Emotionen. Fakten helfen, Schuldfragen zu klären und Emotionen zu hinterfragen. Wahrheit ist schließlich die Brücke in der Verstehensvermittlung. Verstehen ist möglich, wo die Wahrheit als gemeinsame Basis angenommen wird. Die projizierte Unwahrheit bewirkt, dass Aussagen der anderen Partei grundsätzlich entwertet werden. Verstehen wird verhindert, die Interessenklärung kommt nicht voran. Lösungen werden als manipulativ interpretiert. Der Konflikt reproduziert sich selbst.4
- Entscheidungsrelevanz: Wahrheit ist auch die Grundlage für die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Wir handeln auf der Basis dessen, was wir für wahr halten. Eine brauchbare "Landkarte der Wirklichkeit" – also das, was wir für wahr erkannt zu haben glauben – ist überlebensnotwendig, um erfolgreich zu navigieren. Richtig verstandene und für wahr befundene Informationen ermöglichen es dem Gegenüber, fundierte Entscheidungen zu treffen – sei es in der Wissenschaft, im Alltag oder in der Ethik.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Wahrheit in der Mediation eine vielschichtige Rolle spielt, ohne dass sie als objektiver Maßstab für die Konfliktlösung im Mittelpunkt steht. Zwar bietet sie Orientierung, ermöglicht Verstehen und unterstützt fundierte Entscheidungen, doch ist sie häufig weniger ein feststehender Fakt als vielmehr eine subjektive Zuschreibung mit emotionaler Bedeutung. Wahrheit wirkt im Prozess als Kompass, nicht als Ziel: Sie hilft, Manipulation zu vermeiden, Motive offenzulegen, Attributionen zu erkennen und Klarheit für zukunftsgerichtete Lösungen zu schaffen. Während das Mediationsgesetz keine explizite Wahrheitspflicht formuliert, verlangt der professionelle Umgang dennoch korrekte Information und Transparenz. Letztlich zeigt sich: In der Mediation geht es nicht darum, um die Wahrheit zu kämpfen, sondern darum, einen gemeinsamen Umgang mit ihr zu finden – und die Zukunft aktiv zu gestalten.
Die Wahrheit in der mediativen Kasuistik
Um zu verhindern, dass der Umgang mit der Wahrheit den Prozess der Mediation gefährdet, soll es im folgenden Kapitel darum gehen, wie die Wahrheitsfindung in der Mediation zu realisieren ist.
Die Notwendigkeit zur Aufdeckung der Unwahrheit
Die Suche nach der Wahrheit beginnt mit dem Erkennen der Unwahrheit. Es ist wichtig, Unwahrheiten herauszustellen, damit die Wahrheit nicht von einer der Parteien einseitig kontrolliert werden kann. Wer die Wahrheit kontrolliert, hat die Macht. Mediation basiert auf dem Prinzip der gleichen Augenhöhe. Dieser Grundsatz verhindert eine einseitige Kontrolle der Wahrheit. Wenn die Kontrolle der Wahrheit ein Machtfaktor darstellt, muss sie auf alle Schultern verteilt werden. Es ist also wichtig, Lügen zu erkennen, erst recht, wenn sie von einer der Parteien genutzt werden, um Vorteile zu erschleichen. Wenn das Verhalten entdeckt wird, ist das Motiv, die Unwahrheit zu sagen, zu hinterfragen. Es könnte ein Indiz dafür sein, dass das Zielversprechen nicht eingehalten wird. Das bedeutet: Die Partei bewegt sich in einem anderen Verfahren und missbraucht die Mediation.
Wie sind Lügen zu erkennen und vor allem wer ist dafür zuständig?
Der Mediator ist kein Entscheider, Er ist jedoch die Metaebene, die sensibel auf Irritationen und Anomalien achtet. Wenn die Parteien die Unstimmigkeiten nicht selbst bemerken, sollte der Mediator darauf hinweisen. Er achtet deshalb auf Inkongruenzen, also Ungereimtheiten und Brüche in den Erzählungen aufkommen, auf Muster und Musterbrüche, auf Ambiguitäten, auf die rhetorischen Tilgungen, rhetorische Übertreibungen, Emotionalisierungen, irritierende und manipulierende Framings und Bewertungen. Neben der besonderen Aufmerksamkeit hilft die Technik des Dimensionierens, insbesondere die Aufdeckung von Fakten, Meinungen und Emotionen weiter.
Über den Umgang mit Lügen in der Mediation
Mediation ist anders.5 Ihre Andersartigkeit macht sich auch bei dem Umgang mit Lügen bemerkbar. Folgende Fallkonstellationen sind zu unterscheiden:
- Eine Partei lügt, aber niemand bemerkt es: Es könnte Probleme mit der Nachhaltigkeit der gefundenen Lösung geben. Deshalb wird der Mediator sehr genau auf Unstimmigkeiten achten und gegebenenfalls darauf hinweisen.
- Eine Partei lügt. Jedoch fällt lediglich dem Mediator die Unstimmigkeit auf: Der Mediator ist verpflichtet, darauf hinzuweisen.
- Dem Gegner fällt auf, dass die Partei lügt: Er wird darauf hinweisen und Klärung verlangen. Der Mediator muss dafür Gelegenheit geben.
- Zwar lügt die Partei nicht. Jedoch behauptet der Gegner wahrheitswidrig, dass sie lügt: Die Allparteilichkeit gebietet es dem Mediator auch in dem Fall auf die Unstimmigkeit hinzuweisen.
Problematisch wird die Situation, wenn die Partei dem Mediator auf den Hinweis der Unwahrheit wahrheitswidrig widerspricht und weiterhin behauptet, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn der Mediator die Lüge gehört hat. Wenn der Mediator jetzt selbst den Wahrheitsbeweis führt ("Ich habe genau gehört, dass Sie vorher etwas anderes behauptet haben"), begibt er sich möglicherweise in eine Konfrontation mit der Partei. Er begibt sich auf die operative Ebene des Prozesses. Spätestens wenn es zum Streit darüber kommt, verlässt er die Metaebene und riskiert seine Ablehnung. Statt mit der Partei zu streiten, kann er eine Evaluierung vorschlagen. Ein Streit über Fakten lohnt sich nicht.6 Auch kann er die Kräfte der Mediation nutzen. Jetzt kommt es ihm entgegen, dass er nicht zu entscheiden hat, wer lügt oder nicht und was die Wahrheit ist oder nicht. Er kann und muss die selbstregulierenden Kräfte der Mediation nutzen, indem er die Parteien befähigt, selbst die Wahrheit herauszufinden oder sich darauf zu verständigen. Die Freiwilligkeit motiviert und schützt vor einer Übervorteilung. Der Mediator wird darauf hinweisen und bitten, so (ehrlich) zu verhandeln, dass niemand abrechen muss. Er könnte also sagen: "Sie müssen sich am Ende ein Angebot unterbreiten. Sie müssen sich überlegen, wie Sie das dazu erforderliche Vertrauen aufbauen. Bitte haben Sie im Blick, dass jede Partei von der Freiwilligkeit Gebrauch machen kann".
Wahrheitswerkzeuge stets zur Hand
Die folgenden Werkzeuge sind nur eine exemplarische Auswahl, die bei der Wahrheitsfindung eingesetzt werden können. Im Mittelpunkt steht stets die Schlüssigkeitsprüfung. Sie wird verstärkt durch die sogenannte Anomaly Detection. Bei dieser Technik achtet der Mediator auf Unstimmigkeiten und alles, was nicht ins Bild passt. Wenn er eine Unstimmigkeit erkennt, stellt er sie heraus. Dabei benutzt er die Verifikation im Loop. Hilfreich ist die Dimensionierung, die zwischen Fakten, Meinungen und Emotionen unterscheidet. Eine Verifikation erfolgt über die Mäeutik und Fragetechniken, Realitätschecks, Beweiserhebungen und Interventionen.
Tragische Lügen
Tragische Lügen sind Unwahrheiten, die den Verfahrensablauf betreffen oder sich auf das Verfahren auswirken. Folgende Lügen bedürfen einer besonderen Beachtung:
- Zielvereinbarung: Lügen über die Bereitschaft, nach Lösungen zu suchen, liegen vor, wenn in Wirklichkeit nur Positionen vertreten werden. Die Lüge macht sich bemerkbar, indem die Partei konfrontiert oder zu manipulieren versucht.
- Prozesslage: Lügen über die Prozesslage liegen vor, wenn Parallelprozesse oder die Absicht sie zu führen, verschwiegen werden. Entgegen der Zusage geht die Partei zum Anwalt und treibt die Konfrontation voran. Falsche Angaben zur Prozesslage können wie ein Hinterhalt wirken.
- Sidekicks: Keine oder falsche Angaben zum Helfersystem können auch zu Fehleinschätzungen führen, die aus der Kontrolle geraten. Es fällt auf, dass die Partei ständig ihre Meinung wechselt (weil sie beeinflusst wird). Die Ursache kann nicht identifiziert werden, wenn der Geistberater nicht greifbar ist.
- Motivlagen: Lügen über Motive, Interessen und Bedürfnisse verschieben den Kontext in eine Richtung, die keine oder falsche Lösungen nahelegt. Es könnte mangelnde Authentizität festgestellt werden, die eine Kommunikation grundsätzlich erschwert und zum Abbruch führt.
- Fähigkeiten: Lügen über Fähigkeiten, wie z.B. Sprachunfähigkeiten, stellen überflüssige Hindernisse auf. Die strategische Inkompetenz bezeichnet das bewusste oder unbewusste Vortäuschen mangelnder Kompetenz , um sich einer bestimmten Aufgabe, Verantwortung oder Diskussion zu entziehen oder um soziale, psychologische oder situative Vorteil zu erlangen.
Phasenbezogene Lügen
Wann, welche Unwahrheiten und Lügen in den jeweiligen Phasen der Mediation vorkommen können, ergibt die nachfolgende Aufstellung:
| Phase | Mögliche Lügen über … |
|---|---|
| Phase 1 | Motiv und Bereitschaft zur Teilnahme an der Mediation, Bereitschaft, Lösung zu suchen (Lösungsoffenheit) Kooperationsbereitschaft Parallelprozesse |
| Phase 2 | Themen Konflikte Sachverhalt |
| Phase 3 | Interesse und Motive Bedürfnisse |
| Phase 4 | Fakten, die Bewertungen zugrunde liegen |
| Phase 5 | Verbindlichkeit und Rechtstreue |
Zusammenfassung / Fazit
Was ist jetzt wahr? Es gibt viele Wahrheiten mit unterschiedlichen prozessualen Anknüpfungspunkten. Bei der Lösungssuche kommt es auf die (reale) Wahrheit (meistens) gar nicht an. Wohl aber darauf, dass nach ihr gesucht wird, um sich selbst und die Grundlagen zu erkennen, mit denen eine neue Wahrheit zu schaffen ist. Der Schatz ist dann die Wahrheit, die es noch gar nicht gibt.
Um dahin zu kommen ist die einzige Wahrheit, auf die es ankommt, der Wunsch, ein Einvernehmen herzustellen.
Arthur Trossen
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