„Diesmal ist alles anders“, meinte Medi. „Wieso?“, fragte Ator erstaunt. „Es ist alles ziemlich besch … eiden“, jammerte die leidenschaftliche Mediatorin auf mittlerem Niveau. Ihr Blick war nach unten gerichtet. Sie rieb sich die Augen. Medi war irgendwie nicht gut drauf. Sie war definitiv sehr traurig. Insgeheim überlegte sie, die Mediation hinzuschmeißen. Sie hatte den Eindruck, dass ihr Projekt, das ihr so am Herzen lag, ebenso wie all ihre Bemühungen um die Mediation, chancenlos gescheitert seien. Das sollte aber niemand wissen. Noch nicht! Dazu war es noch zu früh. Selbst Ator kannte ihre geheimen Gedanken nicht. Er vermutete, dass Medi an einer Weihnachtsdepression litt.
Die kaputte Welt
„Das alles zieht fürchterlich runter“, schluchzte Medi. Sie versank in ihren düsteren Gefühlen. Das bemerkte Ator natürlich auch. Die sichtbaren Symptome bestätigten seine Diagnose. Also ließ der Psychologe den Fachmann raus: „Kannst Du mir mehr darüber erzählen, wie Du Dich fühlst? Fühlst Du Dich schon lange so? Hast Du das Gefühl, dass sich Deine Stimmung im Laufe des Tages oder in bestimmten Situationen verändert?".
Die schlauen Fachfragen prasselten wie die Salve eines Maschinengewehrs auf Medi ein. „Hör auf mit dem Psychogelaber!“, platzte es aus ihr heraus. „Das macht es nur noch schlimmer. Es ist halt alles extrem Sch …. e“. Medi holte tief Luft. Dann folgte ein langer Seufzer, der nicht nur ihre Stimme in die Tiefe zog. Aus dieser Tiefe heraus fragte sie Ator sichtlich erstaunt: „Kriegst Du das denn gar nicht mit? Spürst Du das nicht? Du musst doch nur die Nachrichten lesen. Schau mal hier“. Medi zeigte Ator ihr geöffnetes Notebook. Sie hat die Startseite von YouTube aufgerufen. Dort finden sich Schlagzeilen wie: „Habeck zerlegt Söders Genderwahn“. „So begann der Krieg wirklich“. „Die Regierung hat keine Ahnung“. „Wir sind geliefert“. „So schlimm ist die Lage“. „Der Handelskrieg beginnt“. „Der Techkrieg beginnt“. „The collaps has begun“. „Bearbock zu dumm zum Ablesen“. „Weidel zerreißt Habeck“. „AfD zerfetzt“. „Alles ist eine Lüge“. „Das wird unser Ende“. … Die orchestrierte Vernichtung befindet sich auf nur einem einzigen Screen. Man muss nicht einmal scrollen, um das alles mitzubekommen. Medi wollte die apokalyptische Sehnsucht dieses unsozialen Netzwerkes ganz und gar nicht teilen. Sie fürchtete, ein Teil des Problems zu sein. Immerhin konsumierte sie die Nachrichten. Damit bekräftigt sie den Stil und trägt zu deren Verbreitung bei. Ignorieren war für sie aber auch keine Lösung. Das bringt uns dem Frieden nicht näher, wusste sie. Das Falsche zu tun, war noch weniger eine Option. Aber welchen Informationen kann man heute noch vertrauen?
Nachrichten sind ok, wenn es um Fakten geht. Die Art ihrer Präsentation, die Selektion und die martialischen Titelaufmachungen sprachen jedoch mehr für sich als für die Fakten. Die Mediation kam natürlich nicht vor. Nicht einmal im Ansatz. Stattdessen zeichneten sich die Darstellungen durch ihre Sensationsgeilheit aus. Ein schweres Unwetter muss zum schlimmsten Hurricane des Jahrhunderts aufgepimpt werden, damit die Nachricht genügend Aufmerksamkeit erregt. Natürlich werden die dazu passenden, dystopischen Bilder gleich mitgeliefert. Die Autoren wissen, dass es auf die Assoziation ankommt. Ob das Footage real und vor allem aktuell ist, interessiert nicht wirklich. Wozu auch? Der Unterschied zwischen Wahrheit und Fälschung verwischt immer mehr. Das Fake wird salonfähig und in gewisser Weise sogar attraktiv. So werden Welten geschaffen. 21, 22, 23.1 Unmittelbar daneben passt die Shampoo-Werbung ins Bild. Wie dort ist alles ein Superlativ. Menschen, die sonst kaum auffallen, stellen sich in den Mittelpunkt. Ihr Plan gelingt, weil sie behaupten, als einzige über das geheime Wissen zu verfügen, wann und wie die Welt zugrunde geht. Das muss man sich natürlich anschauen. Ein derart wichtiges Ereignis will doch niemand verpassen. Und schon gibt es einen Klick. Dabei ist der Weg in den Abgrund auch ohne das vermeintliche Geheimwissen erkennbar. Wer die Konflikteskalation kennt, der kennt auch die Todesspirale.2 Dem fällt auf, wie sich die Kompetenz-Amnesie unter den Staatsoberhäuptern verbreitet und deren Anhänger wie ein Virus infiziert.3 Was die Nachrichten gemein haben ist, dass alles in eine Katastrophe mündet. Die Vernichtung turnt an. Die unendliche Dummheit und Brutalität beschleunigen den Effekt. Wo ist da noch ein Raum für Mediation? Medi ließ den Eindruck auf sich und Ator einwirken.
Es gab überhaupt keine gute Nachricht auf der YouTube Startseite. Das fiel auch Ator auf. Außer einer vielleicht, die letztlich aber auch nicht viel besser war. Hier war eine Influencerin zu sehen, die merkwürdig herum hüpfte und offenbar 1,7563215 Millionen Follower, Freunde oder wie das auch immer heißt, veranlasste, ihr hinterher zu klicken. Würden sie das auch tun, wenn diese Dame nicht mit einem assoziationsfreien Fremdwort, sondern als Einflussnehmerin bezeichnet wird? So lautet die korrekte Übersetzung. Würden Sie das auffällig unauffällig beworbene Produkt auch noch kaufen, wenn Sie sich eingestehen, dass sie der Suggestion einer Einflussnehmerin auf den Leim gehen? Worte haben Macht. Das wissen Mediatoren. Sie sind darauf trainiert, die Bedeutung der Worte zu hinterfragen. Deshalb fällt es ihnen auf, wenn Worte Fakten verschönern. Sie bemerken natürlich auch, wenn Worte Fakten entwerten. Mit Leichtigkeit befördern sie die Freundschaft in die Bedeutungslosigkeit, indem sie Hinterherklicker nicht als solche, sondern als Freunde bezeichnen. Welcher Begriff bleibt dann noch für die Freunde? Die in die Irre leitende Wortwahl zeigt, dass das Framing ein großes Problem in der unachtsamen Welt der verurteilenden Desinformation ist.4
Aber ja, die Einflussnehmerin hat sich ungewöhnlich bunt angemalt. Wahrscheinlich, damit sie aussieht wie eine Marsianerin. Vielleicht war sie ja auch eine, die sich für eine Frau ausgab. Offenbar ist da etwas Animalisches, was bis zur Selbstverleugnung führt. Nur so gelingt es, das letzte Stück Mensch über den Haufen zu werfen. Tatsächlich würde ein Mensch das neue Menschenbild stören. Auch wenn es ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist, sich so darzustellen und zu benehmen. Die sich einschleichende Paradoxie deutete eine Fähigkeit an, die Medi trotz allen Menschseins, in keinem Fall teilen wollte. Selbst dann nicht, wenn sie damit 1,7563216 Millionen Bewunderer anlocken könnte. Medi hat nicht vergessen, dass sie keinen Follower gewinnen will, sondern Klienten. Leider hat sie die wohl wichtigste Funktion des Internets, Einnahmen zu generieren, noch nicht wirklich verstanden. Dort ist das frei zugängliche Geburtsdatum oder das von den vermeintlich sozialen Medien künstlich errechnete und ebenso überraschende Firmenjubiläum nicht mehr, als eine Gelegenheit, die von der Internetplattform maschinell verfassten Glückwünsche mit einer Eigenwerbung zu versehen: „Herzlichen Glückwunsch zu Deinem Jubiläum. Ich habe übrigens gerade ein neues Produkt auf den Markt gebracht. Kostet nur 39,99 €. Hier der Link …“. Ator jedenfalls schien die YouTube-Seite zu gefallen. Für ihn war sie ganz normal. Er fand, sie war sogar recht ausgewogen. Schuld daran war allein die chice Influencerin. Oder war es ihre knappe Kleidung? Irgendwie gab sie den Schlechtmeldungen ein good looking Alibi. Möglicherweise ist Ator aber auch schon dermaßen abgestumpft, dass er den Horror gar nicht mehr mitbekommt.
„Überall ist Krieg“, betonte Medi. „Wo bleibt die Mediation? Die Kriegslust ist so groß, dass jetzt auch noch die Neuwahlen zum Krieg erklärt werden. Vom Wahlkampf ist die Rede. Keine Ahnung, gegen wen die Wahl den Kampf anzutreten hat. Kann es sein, dass die Politiker gegen die Bevölkerung kämpfen? Jedenfalls schreiben sich manche Parteien den Kampf auch noch auf die Fahne. Damit erklären sie die Weisheit zum Verlierer. Der Kampf wird ausgerufen, als ob wir nicht bereits genug sinnlose Kämpfe führten. Den absoluten Höhepunkt bildet der Kampf für den Frieden. Mit dieser Ausrichtung bekommt wenigstens auch der Frieden eine echte Chance, Verlierer zu werden. Warum werben Politiker nicht mit der Fähigkeit, konstruktiv und jenseits der überflüssigen Konfrontation, der entbehrlichen Kämpfe und der sinnlosen Kriege zu guten Ergebnissen zu kommen? Können sie es nicht oder wollen sie es nicht?". Medi legte eine philosophische Pause ein. Als müsste sie selbst über ihren letzten Satz nachdenken. Dabei kannte sie die Antwort. „Der Kampf macht vieles leichter", stellte sie fest. „Er verzichtet auf Bekenntnisse, die den wahren Grund des Kämpfens aufdecken und macht aus der Wahl ein Nullsummenspiel, das von eigenen Unzulänglichkeiten ablenkt.5 Das Benehmen der Politiker passt durchaus in das ausgerufene Spiel. Es verwundert kein bisschen. Das Nullsummenspiel legt es darauf an, dass ein Spieler den Kürzeren zieht. Es impliziert die Strategie, den Gegner zu diffamieren und zu beleidigen oder sonst irgendwie aus dem Weg zu räumen. Gewinner wird, wer das am besten kann und wer am unverschämtesten lügt. Das Amt bekommt, wer übrig bleibt, nicht wer dafür am besten geeignet ist“. Medi erkannte Ators fragenden Blick. Sie kam seinem Einwand zuvor. „Nein, die Bevölkerung ist kein Korrektiv, solange sie sich an der Schande ergötzt und vor den Karren spannen lässt. Sie könnte es sein. Aber möglicherweise erfordert dies einen weiteren Evolutionssprung“. Medi weiß, dass die Mediation dazu beitragen kann.6 Sie bedauert, dass Fakten beliebig geworden sind und sich nicht mehr durch einen Wahrheitsbeweis auszeichnen, sondern nur noch durch die Halbwertzeit ihrer Behauptung und die narzisstische Fähigkeit zu deren Aufrechterhaltung. Die Fähigkeit geht meist mit einer heuchlerischen Selbstdarstellung einher. Hier spielen die Hinterherklicker wieder eine wichtige Rolle, solange sie die Selbstdarstellung huldigen und applaudieren.
„Wow!“. Ator war sprachlos. „Meinst Du nicht, dass Du es ein wenig übertreibst?“, frag-te er vorsichtig. „Ich weiß doch was ich sehe“, insistierte Medi, als würde sich dadurch der Beweis erübrigen, dass ihre superreale, defätistische Weltsicht die wahre sei. „Es gibt auch positive Beispiele“, meinte Ator kleinlaut. Er versuchte, Medi gut zuzureden. Ein Mediator sieht eben immer die beiden Seiten der Medaille, dachte er. Bei Medi musste er gerade ein wenig nachhelfen. Seine Inspiration ging jedoch nach hinten los. Medis Gedankenwelt war einfach zu kaputt, um noch einen positiven Aspekt zuzulas-sen. „Apropos Beispiele“, sagte sie: „Letztens hat einer seinen Job gekündigt, nur weil der Flurfunk im Unternehmen unter seinem Niveau gewesen sei“. „Ja, und?“, fragte Ator. Er hatte den Zusammenhang mit diesem Beispiel nicht wirklich begriffen. „Ganz abgesehen von der Frage, mit welchen Antennen er den Funk überhaupt wahrnehmen konnte, war es sicher ein schlecht bezahlter Job“, vermutete Ator, um sich auf Medis Gedanken einzulassen. „Er war ein Mediator!“, antwortete Medi vielsagend und mit erhobenem Zeigefinger. Jetzt verstand Ator. Der Zusammenhang war die Selbstdarstellung. In Me-dis Beispiel ging es um die eines Mediators. Auf diese Interpunktion konnte sich Ator einlassen. „Offenbar war er kein guter“, fiel ihm dazu ein. Darüber musste er nicht nachdenken. Die Äußerung kam ganz spontan. Obwohl Medi zunächst ähnlich dachte, spürte sie plötzlich, wie demütigend das Urteil aus Ators Mund klang. Was sagte es über ihn? Wie überheblich war das denn? Und plötzlich traf die Diskriminierung den Urteilenden selbst. Medi fragte sich, warum sich nicht wenigstens die Mediatoren davon befreien, wie die Muggels unreflektierte Meinungen zu bilden. Sie sollten es doch besser wissen. Die Antwort lag auf der Hand. Meinungen erlauben es, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Darüber hinaus helfen sie, die Selbstsicht aufzupolieren und sie haben noch andere naheliegende Vorteile, besonders dann, wenn sie sich von den Fak-ten lösen. Um Ators Diskriminierung zurechtzurücken, sagte sie: „Was bei dem einen Wokeness ist, führt bei dem anderen zur Überheblichkeit“.7 Obwohl Medi wusste, dass dies auch auf sie zutraf, konnte sie sich den Seitenhieb einfach nicht verkneifen.
Medis süffisante Bemerkung wirkte wie ein Zünder. Ator hatte den Angriff sehr wohl verstanden. Er fand den Seitenhieb gar nicht witzig und auch sehr undankbar. Er bietet Hilfe an. Und was macht Medi? Anstatt ihm zu danken, greift sie ihn an. Jetzt ergab das eine Wort das andere. Ohne es zu merken, gerieten die beiden Mediatoren aus Leidenschaft in den heftigsten Streit des Jahrhunderts, nein des Jahrtausends. So viel Tuning muss schon sein, um die Ernsthaftigkeit der hitzigen Auseinandersetzung herauszustellen.8 Medi und Ator streiten sonst nämlich nie. Aber wie es scheint, ist die Mediation eben doch kein omnipotenter Rettungsschirm. Nicht einmal für Medi und Ator. Ihre Bezeichnung schützt vor rein gar nichts. Sie kommt einem nicht einmal in den Sinn, wenn es darauf ankommt.
Medi hatte gerade alles vergessen, was sie gelernt hat. Sie vergaß den Grundsatz: Erst verstehen, dann entscheiden!9 Anstatt nachzudenken, sich auf die Situation einzulassen und nach dem Rumpelstilzchen zu suchen,10 begann sie, über Ator herzuziehen. Es kam der Eindruck auf, als wäre da ein Ventil geöffnet worden. Wahrscheinlich, weil sich Medi in ihrem Beispiel selbst erkannt hat. Das war ihr Tropfen. Die schlechten Gefühle hatten einen Überdruck verursacht, der sich jetzt auf Ator entleeren musste. Auf wen auch sonst. Ator war nicht einmal zufälligerweise einfach da. Das muss schon einen schicksalhaften Grund gehabt haben. Bei Ator hatte sich wohl auch einiges angestaut. Jedenfalls fand auch er genügend Gründe, sich über Medi zu entladen. Und das geschah mit gleicher Münze. Nachdem die persönlichen Vorwürfe weitestgehend abgegrast waren, beschwerten sich die beiden über den Berufsstand, die Ausbildung, die Mediatoren, die Klienten, die Nachfragesituation, das Internet, den Dreck in der Küche, einfach über alles in wechselnder Reihung und gegensätzlicher Position. Ach ja, genau. Apropos Reihung, über die DB beschwerten sie sich auch. Bei diesem Thema waren sie erstaunlich einig. Ihr Weltschmerz übergenderte11 alles. Die Gedankenspirale drehte sich immer schneller. Sie wurde auch immer superlativer. Jetzt beklagten die Mediatoren die unendliche Dummheit der Menschen. In dem Punkt waren sie nicht nur untereinander, sondern auch mit Einstein einer Meinung. Sie drückten ihr Unverständnis über die augenscheinliche Brutalität und Rücksichtslosigkeit aus und klagten über die auch sie beeinträchtigende Ungerechtigkeit der Welt. So entstehen Verschwörungstheorien.
„Herabsetzung und Beleidigungen scheinen der neue Ton zu sein“, gab Medi zu bedenken. Die Allgemeingültigkeit der angedachten Metakommunikation sollte ein Angebot sein, aus dem Streit herauszutreten. Es war jedoch zum Scheitern verurteilt, weil sich Medi nicht explizit auf den eigenen Gesprächsverlauf bezog. Ihr Tonfall konnte noch als Vorwurf durchgehen. Der Allgemeinplatz ihres Gedankens ließ Ator eine Wahl, die er mit einem Gegenangriff parierte. „Für Dich als Anwältin ist das doch nichts neues. Du redest den Vater schlecht, damit die Mutter das Kind bekommt. Hurra. Noch ein Pyrrhussieg. Und der Richter fällt drauf rein, weil er keinen Durchblick hat. Nochmal Hurra“. Der Streit war mit viel Meinung auf der Metaebene angekommen. Ator gelang es trefflich, Medi auf jeder Ebene in den Streit zurückzuholen. Und Medi nahm all seine Geschenke an. „Aber DU hast den Durchblick“, spottete sie. Das DU war besonders spitz betont. Ihr Ton konnte nicht überheblicher klingen. „Was weißt DU denn schon. DU Superpsychologe!“. Medis Blick passte sich der Sprache an. Authentizität war ihr schon immer sehr wichtig. „Was bildest DU Dir eigentlich ein?", mit dieser Frage leitete sie ihre nächste Breitseite ein. „Du behauptest, dass Du das Unterbewusstsein Deiner Patienten besser kennst als sie selbst. Wie arrogant ist das denn. Zum Glück kaufen deine Patienten Dir das nicht ab. Deshalb kriegst Du Deine Therapien auch nicht zu Ende“. Medi war wirklich sauer. Und was sie sagte, war kaum geeignet, Ator freundlicher zu stimmen. Die Eskalation war vorprogrammiert. Medi wusste das. Und das war ihr auch bewusst. Andererseits tat es ihr auch unendlich gut, endlich mal den ganzen Frust und die ganze Wut rauszulassen.
Die Welt ohne Mediation
Während des Jahrtausendstreits der Mediatoren aus Leidenschaft, die sonst nie streiten, zogen immer dunklere Wolken auf. Aus ihnen erschien plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ohne anzuklopfen und erst recht, ohne den magischen 5-Tongong der Mediatoren zu benutzen, eine mystische Gestalt. Der Weihnachtsmann konnte es nicht sein. Der wäre durch den Kamin gekommen. Er wäre auch größer und vor allem dicker gewesen. Außerdem hätten Medi und Ator den Weihnachtsmann wiedererkannt. Sie hatten ja schon einmal eine Mediation mit ihm.12 Man hätte die Gestalt für ein Kind halten können, wäre sein Gesicht nicht so unendlich alt. So drängte sich der Eindruck auf, dass dieses Wesen viel erlebt haben muss und sicher noch erleben wird. Sein freundliches, rundes Gesicht, die rosigen Wangen und das breite Lächeln strahlten Wärme und Weisheit aus. Seine Augen waren groß und leuchtend, voller Neugier und Intelligenz. Sein Haar war lang, weiß und leicht zerzaust, was ihm ein weises und etwas exzentrisches Aussehen verlieh. Das einfache, aber elegante Gewand, das an eine Mönchskutte erinnerte, unterstich die Erscheinung. In der Hand hielt das merkwürdige Wesen eine ziemlich große, goldene Taschenuhr. Sie begann magisch zu leuchten, sobald sie berührt wurde.
„Wer bist denn DU?“, fragte Medi. „Wir hatten keinen Termin“, fügte sie launig hinzu. Auch Ator gefiel der Gedanke, dass es sich um Kundschaft handeln könnte. „Ich bin der Zeitenwichtel“, antwortete die zeitlose Gestalt. Medi, die als Weihnachtsmediatorin in der Wichtelkunde bestens bewandert war, wusste natürlich, dass Wichtel in der Weihnachtszeit heimlich kleine Geschenke an die Menschen verteilen. Ator hingegen wusste, dass Wichtel gerne Schabernack treiben. Von einem Zeitenwichtel hatten die beiden aber noch nie gehört und von einem Geschenk war nichts zu sehen.
„Du bist also der Zeitenwichtel“, sagte Ator. Er fiel in den Profimodus, wo er gelernt hat, bedächtig zu klingen, um seinen Aussagen eine gewisse Bedeutung beizumessen. Er wartete deshalb ein paar Sekunden, damit die bedeutungslose Bedeutung noch bedeutungsvoller rüberkommt, bevor er fortfuhr: „Und was können wir für Dich tun?“. „Ihr für MICH?“, wunderte sich die Erscheinung. „Ich helfe EUCH beim Suchen, denn dafür bin ich da“. „Wir suchen nichts“, antworteten Medi und Ator ebenso erstaunt, wie aus einem Mund. Plötzlich schienen sie sich wieder zu vertragen. Konfliktgegner verbünden sich eben, wenn sie sich angegriffen fühlen. Der Zeitenwichtel ließ sich nicht beeindrucken. Er sagte nur: „Oh doch!“ und drehte an seiner Uhr. In dem Moment verschwand er, wie er gekommen war.
Die Ablenkung war vorbei, also konnte der Streit zwischen Medi und Ator weiter eskalieren. „Jetzt behelligst Du mich auch noch mit Deinen paranoiden Wahnvorstellungen!“, schrie Ator Medi an. „Nimm zur Kenntnis, dass ICH nichts suche. Das habe ich gar nicht nötig. DU bist doch die mit der Insuffizienz. Lass DU Dir doch beim Suchen helfen. Ich kann Dir einen guten Psychiater empfehlen. Ich jedenfalls suche und brauche nichts. Ich bin es sowieso leid, Menschen meine Hilfe anzubieten, die sie gar nicht zu schätzen wissen“. „Das nennt man aufgedrängte Bereicherung“, spottete die Juristin. Medi machte sich über Ator lustig. „Wenn es denn auch nur eine Bereicherung wäre“, setzte sie noch obendrauf. „Darf ich mal fragen, wem Du überhaupt Deine vermeintliche Hilfe anbietest, Du hast doch gar keine Fälle“. Das hat gesessen. Das konnte so nicht stehen bleiben. Also schoss Ator zurück: „Und was Du machst, verdient den Namen Mediation nicht. Das ist Stochern im Nebel und dummes Rumgelaber mit der Garantie von Zufallstreffern“. Das ging auch recht tief. Die beiden hatten noch eine Menge Komplimente zur Hand, die sie auch alle loswerden konnten. Der gute Ton verbietet es, sie hier aufzuführen.
Plötzlich erschien der Zeitenwichtel wieder. Wie beim ersten Mal kam er völlig unangemeldet aus dem Wolkendunst, den sein Erscheinen verursachte. Es waren wieder dunkle Wolken. „Zanken könnt ihr gut“, lobte er die Mediatoren. „Da ist so viel Wut. Ich kann den Akuma sehen.13 Ich sehe den Weltschmerz aber auch persönlichen Frust, Verzweiflung und Unfähigkeit. Was ich nicht sehe ist, worüber Ihr eigentlich streitet. Aber das könnt Ihr Euch selbst anschauen. Der Zeitenwichtel drehte wieder an der Uhr und verschwand.
Sie haben sicherlich schon bemerkt, dass der Wichtel die Fähigkeit besitzt, die Zeit zu manipulieren. Er kann Vergangenheit und Zukunft abrufen und sogar die Zeit für kurze Momente anhalten. Immer wenn er an seiner Uhr dreht, verändert sich die Zeit. Dreht er die Zeiger gegen den Uhrzeigersinn nach links, geht es in die Vergangenheit. Dreht er sie im Uhrzeigersinn nach rechts, geht es in die Zukunft. Hält er die Zeiger der Uhr an, bleibt die Zeit stehen. Diesmal drehte er ein wenig nach rechts. Medi und Ator befinden sich jetzt ca. 3 Tage in der Zukunft.
Ator ist gerade dabei, seine Koffer zu packen. „Ich finde es gut, dass Du Dich endlich aus dem Staub machst“, zischelte Medi. Sie konnte Ator nicht kommentarlos ziehen lassen. „Die Rechnung schick ich Dir per Einschreiben“. Das war ihre Bombe. Bomben kann man heutzutage nicht genug haben. Mienen sind auch nicht schlecht. Drohnen werden gelobt. Hauptsache, es explodiert. Das hat sie im unsozialen Netzwerk gelernt. „Ja, ich finde es auch gut“, sagte Ator und meinte das aus dem Staub machen. „Hätte ich schon viel früher machen sollen. Unsere Mediationskanzlei war Deinetwegen eh‘ von vorne herein zum Scheitern verurteilt. Mediationsprojekt. Puh, dass ich nicht lache. Aber was soll’s. Aus Schaden wird man klug. Ich finde bestimmt eine Mediatorin, die es besser kann. So schwer ist das nicht“. Jetzt hat er es ihr gegeben. Das dachte Ator wenigstens, bis ihm zu fragen einfiel: „Was willst Du mir denn für eine Rechnung schicken?“. Kabumm, das war der Bombeneinschlag. „Wegen des Schadens, der mir durch Deine Täuschungen und vor allem durch Deine Unfähigkeit entstanden war. Deine Überheblichkeit ist unter meinem Niveau. Wir hätten viel erfolgreicher sein können. Aber Du …“.
Bevor Medi ausexplodieren konnte, erschien der Zeitenwichtel. Wieder kam er aus der dunklen Wolke, die sich über dem Streit gebildet hatte. „Ihr könnt Euch ganz schön in etwas hineinsteigern“, sagte er anerkennend. Was wie eine Wertschätzung klang, war aber keine. „Ich wusste gar nicht, dass Mediatoren so hemmungslos streiten können“, setzte er nach. „Ich frage mich, ob die selbsternannten Verstehensvermittler überhaupt etwas verstanden haben“. Der Zeitenwichtel drehte die Zeiger an seiner Uhr nach links und verschwand ohne ein Wort des Abschieds.
Die heile Welt
Und täglich grüßt das Murmeltier. Die jüngste Zeitverschiebung bewirkte einen Rücksprung zur Ausgangssituation. Jetzt befinden sich die Mediatoren in dem Moment, als Medi sagte: „Diesmal ist alles anders“. „Wie meinst Du das?“, fragte Ator mit anteilnehmendem Interesse. „Es ist alles ziemlich besch… eiden“, antwortet Medi. Sie war irgendwie nicht gut drauf. Sie erklärte Ator die deprimierende Situation und zeigte ihm einige Schlagzeilen in YouTube. „Es ist überall Krieg“, erläutert sie. „Die Brutalität nimmt zu. Der Wahnsinn lenkt uns in den Abgrund. Ich fühle mich total hilflos. Würde gerne etwas tun. Als Mediatorin denke ich, dass ich etwas tun muss. Aber was? Es ist zum Verzweifeln“. Ator verstand. „Manche reden sich ein, die Mediation sei weder gewollt, noch möglich“, versuchte er Medi zu trösten. „Du kannst also gar nichts tun. Immerhin geht es um hoch eskalierte Konflikte. Es gibt Machtgefälle. Die Parteien sind traumatisiert. Viele Experten meinen, die Mediation sei in solchen Fällen gar nicht möglich. Und wenn, dann nur als dunkle Mediation.14 Du willst doch nicht wie Darth Vader mit einem Helm rumlaufen. Du siehst, echte Profis geben sich mit solchen Fällen erst gar nicht ab. Erinnere Dich an Deinen woken Mediator, der gekündigt hat“. „Ja, das sehe ich. Aber die Welt kann man nicht kündigen“, fiel Medi ein, um zu unterstreichen, dass Mediatoren keine Wahl haben, als sich mit dem Übel auseinanderzusetzen und etwas zu unternehmen. Das war zumindest ihre Meinung. „Aber vielen Dank für den Versuch, mir Trost zu spenden. Das weiß ich zu schätzen. Auch wenn wir beide wissen, dass die Mediation in derartigen Fällen nicht nur möglich, sondern mehr als nötig und auch hilfreich ist“.
Während Medi und Ator überlegten, was Mediatoren in einer derart ausweglosen Situation tun könnten, kamen plötzlich Wolken auf. Wenigstens waren es keine dunklen. Aus dem hellen Dunst erschien wieder einmal der Zeitenwichtel. Er scheint ein Stammgast geworden zu sein, dachte Ator Als hätte der Zeitenwichtel den Gedanken gelesen, sagte er: „Ich habe Euch lieb gewonnen. Vielleicht kann ich Euch helfen. Überlegt doch einfach, was die Mediation machen würde“. Der Zeitenwichtel drehte die Uhrzeiger jetzt ganz weit nach rechts zur Denkhilfe.
Medi und Ator landeten in der Zukunft. Es ist Weihnachten 2034. Der berühmte 5-Phasengong ertönt. Vor der Tür des Mediationsbüros steht ein Ehepaar. „Wir brauchen Unterstützung“, sagte der Mann. „Kommen Sie doch bitte herein“, erwiderte Medi mit einer einladenden Handbewegung. Die Mediatoren trugen bequeme Kimonos. Im Mediationszimmer angekommen, servierte der KI-Butler die gewünschten Getränke. Die Videowand generierte eine entspannte Atmosphäre. Nachdem alle versorgt waren, fragte Ator die Besucher, was sie von dem bevorstehenden Gespräch erwarten. Der Ehemann und die Ehefrau schauten sich an, um sich abzustimmen, wer zuerst antwortet. Das Los fiel auf die Ehefrau. „Es läuft nicht mehr gut zwischen uns. Es gibt Probleme, die wir selbst wohl nicht lösen können. Die Situation verursacht schlechte Gefühle. Die wollen wir gerne loswerden. Die Probleme stehen dabei irgendwie im Weg“. Medi und Ator sind begeistert. Sie subsummierten sofort die Eignung der Mediation.15 Medi bestätigte die Geeignetheit und formulierte die Zielvorgabe: „Es geht darum, eine Lösung zu finden. Dass dabei die Probleme den Gefühlen im Weg stehen, ist ein interessanter Ansatz. Vielleicht ist es auch umgekehrt“. Nach einer kurzen Pause, in der sich ihr Gedanke setzen konnte, fuhr sie fort: „Was halten Sie davon, wenn wir erst einmal schauen, was Sie brauchen, um wieder zufrieden zu sein. Lassen Sie uns dabei ganz offen über alles sprechen. Sie finden die Lösung, sobald wir wissen, was die Zufriedenheit ausmacht“. „Das hört sich total gut an“, sagte das Ehepaar. Sie entschieden sich für die Mediation, die übrigens erfolgreich abgewickelt wurde. Es war zu schön, um wahr zu sein. Nicht nur weil es kein Problem mit der Nachfrage gab, sondern auch, weil die Parteien wussten, wofür sie die Mediation brauchten. Sie zogen die Auseinandersetzung dem Streit vor.16 Hat der Evolutionssprung inzwischen stattgefunden? Das konnte doch nur eine Utopie sein, dachten Medi und Ator bei sich.17 Die Parteien haben eine Lösung gesucht, die sich am Nutzen orientiert, ohne in einem, an der streitigen Position oder der Lösung ausgerichteten Streit auszuarten. In der Zukunft scheint man zu wissen, wofür die Mediation gut ist, fiel sowohl Ator wie auch Medi auf. Das war ein wirklich gutes Gefühl. Es passte in eine Welt des Friedens.
Ausgerechnet in dem Moment kamen wieder Wolken auf. Genauer gesagt war es ein weißer Rauch, wie beim Konklave.18 Aus dem Rauch materialisierte der Zeitenwichtel. Er war diesmal ganz und gar nicht willkommen. Darüber waren sich Medi und Ator sicher. Sie würden gerne in der Zukunft bleiben. Das sagten sie dem Wichtel auch. „Warum holst Du uns hier raus?“, beschwerten sie sich. „Hier scheint die Welt in Ordnung zu sein. Man begegnet sich mit Respekt und sucht bei Konflikten die Auseinandersetzung, nicht den Streit und keinen Kampf. Das friedliche Klima inspiriert. Hier können wir wertvolle Hilfe leisten und fühlen uns nützlich“. „Es ist nicht Eure Zeit“, antwortete der Zeitenwichtel. „Noch nicht. Sie könnte es werden“. Ihm war es verwehrt, die beiden Mediatoren in der Zukunft zurückzulassen. Das würde die Vergangenheit verändern, die ja eigentlich die Gegenwart ist. Außerdem würden evolutionsnotwendige Erfahrungen verhindert, die den Evolutionssprung ermöglichen, auf den die Menschheit dringend angewiesen ist. „Vergesst nicht, aus Schaden wird man klug", rief der Zeitenwichtel den Mediatoren grinsend zu, als er wieder an der Uhr drehte. Diesmal bewegte er die Zeiger nach links und alles war wie gehabt.
Die reale Welt
Medi und Ator waren wieder in dem Moment angekommen, in dem sie überlegten, was Mediatoren tun können, um sich und der Welt den Weg in den Frieden zu weisen. Sie haben die Botschaft des Zeitenwichtels verstanden. Es kommt immer zu der Lösung, die dem vorherrschenden Gedanken entspricht. Wenn ich an Krieg denke, habe ich Krieg im Kopf, selbst wenn ich nach dem Ende des Krieges suche. Wie bei dem 9-Punkte-Problem führt die Frage nach dem Ende des Krieges nicht in den gedanklichen Kontext hinein, der jenseits des Krieges liegt und der erforderlich ist, um die gewünschte Antwort zu finden.19 Um die gewünschte Antwort zu finden, müssen die Gedanken in den Frieden geführt werden. Und wenn der Frieden selbst die Lösung ist, müssen sie noch dahinter geführt werden, wo erkennbar wird, was den Frieden ausmacht. Das könnte die Freundschaft sein, die gute Nachbarschaft oder was auch immer. Die Frage lautet also nicht, wie beende ich den Krieg, sondern was brauchen wir, um Freunde oder Teile einer funktionierenden Weltgemeinschaft zu werden, wenn es um den Weltfrieden geht. Erst wenn das geklärt ist, lohnt es sich, über das Wie, also die Lösung nachzudenken, wie man dorthin kommt. Genau nach diesem Prinzip arbeitet die Mediation. Sie verändert die Logik im Entscheidungsprozess. Sie wickelt den Entscheidungsprozess rückwärts ab, wodurch das dringend erforderliche Umdenken herbeigeführt wird, das den Weg aus der Todesspirale weist.20 Das andere Denken öffnet den Blick auf die heile Welt jenseits des Problems. Sobald sich dieser Gedanke etabliert hat, kann die Lösung aus der unbelasteten Perspektive heraus gefunden werden und sich von dem Problem lösen. Es ist außerordentlich wichtig, die heile Welt nicht mit der Lösung zu verwechseln. Die Lösung beschreibt ein Wie. Sie ist ohne ein Wozu und die Kenntnis Was dazu nötig ist, bedeutungslos. Sie muss nach dem Wie-ist-es-dort und dem Wie-komme-ich-dahin unterscheiden.21 Die auf der kognitiven Mediationstheorie basierende Mediation22 vollzieht diese gedanklichen Schritte in korrespondierenden Strukturen.23 Unterwegs stimmt sie noch die Bedeutungen ab, die in der modern geframten Welt überhaupt nicht mehr klar sind.
Die beiden Mediatoren hatten durch den Zeitenwichtel die heile Welt nicht nur in eigenen Angelegenheiten kennen gelernt. Ihnen wurde durch die Zeitreise auch klar, was sie brauchten, um ihren Frieden zu finden. Medi hat das Potenzial erkannt. Sie fing sofort an, YouTube nach den Symptomen ihrer heilen Welt zu durchforsten. Sie wurde sogar fündig. Und plötzlich gelang ihr, was Ator zuvor erfolglos versuchte. Sie konnte die zwei Seiten der Medaille sehen. Dabei nahm sie eine Metaperspektive ein.24 Diese Perspektive erlaubt nicht nur, alles zu sehen. Sie schützt auch wie eine Sphäre, die das Inferno des Konfliktes auf Distanz hält. Der Konflikt kann beobachtet werden. Er kann aber niemanden mehr gefangen halten. Das liegt an der Semipermeabilität der Sphäre, die es schlechten Gefühle nur erlaubt, als Fragen durchzudringen. So funktioniert die Mediation.
Jetzt und aus der Distanz, konnte Medi sowohl sich wie auch Ator eingestehen, dass sie vor lauter Frust und Verzweiflung über die Erfolglosigkeit ihres Mediationsengagements die Mediation selbst nicht mehr gesehen hat. Sie hatte defätistische Lösungen im Kopf. Genauer gesagt, fielen ihr keine oder nur undurchführbare Lösungen ein, weshalb sie bereit war, das hinzuwerfen, was ihr am wichtigsten war. Medi erkannte die falsche Strategie. Sie weiß jetzt, dass es viel zu tun gibt, um sich und den Menschen zu helfen Bedeutungen zu klären, den Nutzen zu erkennen und Erkenntnisse zu gewinnen, die zu konstruktiven Lösungen führen. Es sind die Kleinigkeiten, die dazu beitragen. Die NIMBY-Strategie bewirkt mehr,25 als Bücher, die niemand liest, oder Aufträge, Fälle und Projekte, die unter dem Druck zusammenbrechen oder die niemand haben will. Wir sind die Kleinigkeit, auf die es ankommt. Damit sollte man sehr sorgfältig umgehen.
„Der Zeitenwichtel hat mir etwas klar gemacht“, erklärte Medi Ator. „Er hat mir gezeigt, dass ein Zeitenwichtel nicht klingeln muss, um hereinzukommen“. Ator verstand genau, was Medi sagen wollte. Es ist immer möglich, wie ein Mediator zu denken. Um seine Bereitschaft zum Ausdruck zu bringen, fragte er mit einem zwinkernden Auge: „Und wo werden WIR demnächst unangemeldet erscheinen?“. „Überall dort, wo sich die Gelegenheit ergibt, Erkenntnisse zu vermitteln, die zu einer guten Lösung führen“, erläuterte Medi spontan. „Unsere Geschenke sind die Zweifel, die wir beim Wichteln weitergegeben“. „Das klingt wie Schabernack“, ergänzte Ator das Wichtelbild. Aber Medi blieb ganz ernst. „Mehr müssen wir gar nicht tun“, erklärte sie. „Die Gedanken werden ihre Kraft entfalten. Sie sorgen für eine vernunftbasierte, mediative Zukunft“. Da war er wieder, Medis Enthusiasmus und ihre Begeisterung für Mediation.
Ator freute sich, dass Medi wieder die Alte war, auch wenn ihm schwante, dass es jetzt nicht mehr beim Alten bleiben kann. Vielleicht bekommt ihr Projekt auch einen neuen Namen. Aber darüber nachzudenken, hieße, an Lösungen zu denken. Das wäre die falsche Reihenfolge. Wichtig ist der vorgestellte Nutzen. „Wir können jetzt mit einer neuen Staffel beginnen“, meinte Medi. „Mal sehen, wo wir im Jahre 2034 sein wer-den“. Die beiden Mediatoren aus Leidenschaft lachten und umarmten sich. „Frohe Weihnachten“, flüsterten sie sich guten Mutes ins Ohr. Das wird schon.
Arthur Trossen
Bild von AI (Mistral). Der Geschichtenzyklus wurde Weihnachten 2012 von Arthur Trossen eingeführt, der sich diese Geschichten nicht nur als ein anregendes Trainingsmaterial ausgedacht hat, sondern auch als eine Reflexion dessen, was und wie er das Mediationsgeschehen im Berichtsjahr schwerpunktmäßig wahrgenommen hat. Die nunmehr hier veröffentlichte 2. Staffel hat mit der Entwicklung von Wiki to Yes zu tun.