Unser Denken ist eng mit der Evolution verbunden. Nichts daran zu ändern heißt, die Entwicklung dem Zufall zu überlassen. Dafür gibt es keinen Grund. Wir sind weder der Natur noch den Kriegen ausgeliefert. Auch eine unerwünschte Devolution kann verhindert werden. Ein mediatives Denken würde die Entwicklung in die richtige Richtung lenken. Ja, ich weiß, es ist eine mutige Vision. Immerhin erlaubt sie eine Hoffnung. Ich möchte sie gerne mit Ihnen und den folgenden Gedanken teilen:1
- Was die Evolution auszeichnet?
- Was der Evolution im Wege steht und die Devolution begünstigt?
- Was die Entwicklung fördern könnte und die Zukunft positiv beeinflusst?
- Wie die Mediation den nächsten Schritt der Evolution herbeiführt?
Die Evolution des Menschen ist ein faszinierendes Thema. Es beschreibt seine allmähliche Veränderung im Laufe seiner Geschichte. Er hat sich zweifellos weiterentwickelt. Was aber genau zeichnet seine Evolution aus? Wo führt sie uns hin und was hat das mit der Mediation zu tun?
Was die Evolution auszeichnet
Die Evolution beschreibt Veränderungen, die Organismen im Laufe der Zeit durchlaufen, um sich an ihre Umgebung anzupassen und zu überleben. Eine der erstgenannten Errungenschaften der menschlichen Evolution ist der aufrechte Gang. Er hat es dem Menschen ermöglicht, seine Umgebung zu erkunden und dementsprechend besser zu nutzen. Dann wird die Reduzierung des Gesichtsschädels, die Vergrößerung des Gehirns und die Verkleinerung der Zähne als ein weiterer Evolutionsschritt genannt, der vor 2-3 Millionen Jahre eingetroffen war. Das menschliche Gehirn versetzte den Menschen in der Folgezeit in die Lage, komplexe Probleme zu lösen, Sprache zu verstehen und selbst zu sprechen, um die Kultur und die Gesellschaft zu formen. Die Fähigkeit Werkzeuge herzustellen und zu nutzen, hat sich als ein weiterer Fortschritt herausgestellt. Sie hat die Überlebenschancen verbessert und die Voraussetzung geschaffen, eine größere Vielfalt an Lebensräumen zu erschließen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das in immer komplexer werdenden sozialen Strukturen lebt. Die Fähigkeit, in Gruppen zusammenzuarbeiten, hat dazu beigetragen, die Überlebenschancen auch insoweit zu erhöhen. Dabei hat sich die Entwicklung des menschlichen Gehirns als der Schlüssel herausgestellt, um komplexe Probleme zu lösen, abstrakte Konzepte zu verstehen und um sich auf die Umgebung einzustellen. Aktuell scheint es, als habe der Mensch den Schlüssel verlegt. Man mag sich fragen, wo seine Fähigkeiten geblieben sind. Er scheint überfordert und alles andere als fähig, sich an die gebotenen Veränderungen anzupassen.
Was der Evolution im Wege steht
Crabtree, ein führender Genetiker, macht die gleiche Beobachtung. Er meint, dass sich der Mensch zurückentwickele. Er behauptet, die Intelligenz verkümmere, weil sie immer weniger gebraucht werde.2 Dahinter steht der Gedanke, dass die Evolution einem Selektionsdruck folgt und nur die Fähigkeiten ausprägt, die zum Überleben erforderlich sind. Die These von Grabtree steht allerdings im Widerspruch zum sogenannten Flynn-Effekt. Flynn hat nachgewiesen, dass die menschliche Intelligenz seit ihrer Messung ständig ansteige. Allerdings verläuft die Kurve nicht konstant. Schaarschmidt hebt hervor, dass Wissenschaftler neuerdings und vermehrt sogar von einer Umkehr des Flynn Effektes sprächen. Im Ergebnis verbliebe es jedoch bei einem Anstieg.3 Südhoff sieht in der Missachtung der humanitären Regeln und Prinzipien einen Rückfall der Menschheit ins Mittelalter.4 Auch Rötzer führt aus, dass wir uns dem Mittelalter wieder annähern, wenn die Ergebnisse einer Analyse der technischen Innovationsrate zugrunde gelegt werde.5
Crabtree ist insoweit zu widersprechen, als die Intelligenz des Menschen mehr gebraucht wird denn je. So gesehen müsste der Selektionsdruck zu einer Steigerung der Intelligenz beitragen. Allerdings wird die Intelligenz nicht sinnvoll für das Überleben der Menschheit genutzt. Die Diskrepanz zwischen dem was gebraucht wird und dem was genutzt wird, bleibt der Evolution verborgen. Sie schaut wohl auf das Letztere. Es bedarf keiner wissenschaftlichen Belege, um den Eindruck zu untermauern, dass wir Menschen uns mehr und mehr dem Wahnsinn hingeben. Egal ob wir ihn der Zukunft oder der Vergangenheit zuschreiben. Wir müssen nur die täglichen Nachrichten lesen, um zu verstehen, dass die Menschheit gerade dabei ist, ihre Lebensgrundlage zu zerstören. Die Nachrichten belegen eine ungeheure Kriegslust. Ihre Sinnlosigkeit und Emotionalität deutet darauf hin, dass der menschliche Verstand völlig auf der Strecke bleibt.
Es gibt aber auch andere Stimmen und sehr intelligente Menschen. Röcker führt aus, dass die Evolution keineswegs zu Ende sein könne und sich die Menschheit auch ständig weiterentwickele. Die Evolution reagiere auf jeden Selektionsdruck. Genetische Veränderungen fänden allerdings nur dann und dort statt, wo die Natur eine Anpassung für erforderlich hielte. Keinesfalls sei die Evolution zielorientiert. Sie strebe auch nicht nach Perfektion. Alle Veränderungen an unserem Erbgut geschähen rein zufällig. Allerdings ereigneten sie sich reaktiv. Es komme auf die prägenden Einflüsse an. Dabei spiele durchaus auch die Kultur eine entscheidende Rolle. Letztlich bilde sich die Evolution jedoch in erster Linie durch das Fortpflanzungsverhalten aus,6 weshalb einige Wissenschaftler den Intelligenzabfall der Dysgenik zuschreiben.7
Mit dem Hinweis auf die Kultur und dem fehlenden Streben nach Perfektion kommt auch die Sozialwissenschaft ins Spiel. Die Kultur ist ein gesellschaftliches Phänomen. Auch die Gesellschaft entwickelt sich. Laut Egner orientiert sich ihre Entwicklung ähnlich der Evolution jedoch ebenfalls nicht an den Kriterien für gut und böse, sondern nur an dem Selbsterhalt.8
Entwicklung findet immer statt. Ob sie biologisch, psychologisch oder systemtheoretisch erklärt wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist die Frage, ob wir wie die Kriegerameisen einer verlorenen Zukunft hinterherlaufen müssen9 oder ob wir die Zukunft aktiv gestalten können. Der Mensch hält sich für die Krönung der Schöpfung. Er beweist gerade, dass er es nicht ist.10
Was die Entwicklung fördern könnte
Entwicklung kann nicht verhindert werden. Sie könnte jedoch gestaltet werden. Die Evolution entwickelt sich nach dem Zufallsprinzip in die eine oder andere Richtung. Sie kann, wie das Beispiel des Säbelzahntigers belegt, auch zur Ausrottung führen. Vielleicht ist das der große Plan im Hintergrund. Der Mensch fängt an, die Natur zu stören. Also nutzt die Natur die ihr eigenen Mittel, um sich zu schützen. Sie nutzt den natürlichen Bestandteil des Menschen und vielleicht sogar ihn selbst als ihr Werkzeug. Der Plan gelingt, weil sich das menschliche Gehirn noch nicht völlig von der Natur befreit hat. Es ist ihr Sklave und nicht ihr Partner. Die Versklavung finden wir in einem archaischen Teil des Gehirns. Er steht dem Verstand im Wege. Was als ein Schutzmechanismus gedacht war, wirkt sich in der modernen Gesellschaft, die diesen Schutz nicht mehr benötigt, destruktiv aus. Die künstliche Intelligenz wäre zumindest theoretisch irgendwann einmal in der Lage, die in Emotionen hinterlegten archaischen Muster zu überwinden und intelligenter zu sein als der Mensch.11 Sie wäre aber gleichbedeutend mit einer unnatürlichen Lösung, was uns wieder Angst macht. Es ist fraglich, ob die Intelligenz jemals, ob künstlich oder nicht, ohne Emotionen auskommt. Emotionen sind ein zweischneidiges Schwert. Sie liefern einerseits eine unglaublich große Energiequelle für eine positive Entwicklung. Anderseits sind sie aber auch ein Teil des archaischen Gehirns, das den Verstand im Kampf oder Flucht-Modus unterdrückt und eine Reflexion verhindert.12 Ganz ohne Emotionen geht es wohl nicht. Wenn die Emotionen unverzichtbar sind, sollte wenigstens das überalterte und über Millionen von Jahren gespeicherte psychologische Programm überarbeitet werden.
Um eine Entwicklung zu steuern, bedarf es eines Ziels und eines Plans. Schaut man auf die Politik als das Werkzeug zur Steuerung des Verhaltens, ist weder das eine noch das andere erkennbar. Politik und Wirtschaft sind emotionsgesteuert. Sie schauen auf das kurzfristige politische und wirtschaftliche Überleben der Akteure, nicht jedoch auf die Gesamtheit der Menschen. Jeder Mensch und jeder Staat denkt an sein eigenes Überleben und den eigenen Vorteil. Die Fähigkeit der Zusammenarbeit in Gruppen, die maßgeblich zur evolutionären Entwicklung des Menschen beigetragen hat, wird gerade in Kriegen zerschlagen, obwohl sich keines der gegenwärtigen Probleme, die die Welt und die Menschheit bedrohen, im Alleingang lösen lässt. Die globale Zusammenarbeit ist in einer globalen Welt wichtiger denn je. Was nutzt es, wenn sich ein kleines Land für den Klimaschutz einsetzt, ein großes aber für das Gegenteil? Was nutzt es, wenn ein Land die Armut bekämpft, während ein anderes der Korruption die Tore öffnet und die Reichen abzieht, wodurch eine gerechte Verteilung des Reichtums verhindert wird. Was nutzt es, wenn ein Land sich für den Frieden einsetzt und das andere für den Krieg?
Die Fragen deuten an, dass es dem Menschen schwer fällt, seine Emotionen zurückzustellen und an den langfristigen Nutzen zu denken, anstatt an den unmittelbaren Vorteil. Gelingt es ihm, den Verstand nach vorne zu bringen, könnte der nächste Schritt einer evolutionären Entwicklung darin bestehen, dass sich der Neocortex nicht mehr abschaltet, wenn die Emotionen überhand nehmen und die Kontrolle nicht völlig dem limbischen System oder dem Stammhirn überlassen bleibt.
Wie die Mediation dazu beitragen kann
Um der Frage nachzugehen, welchen Beitrag die Mediation für die Evolution des Menschen leisten könnte, bedarf es zunächst der Klärung, was die Mediation überhaupt ist. Nicht jedes Mediationskonzept unterstützt den dazu erforderlichen kognitiven Ansatz. Das an dem Harvard-Konzept ausgerichtete Verfahren i.S.d Mediationsgesetzes kann jedenfalls nicht viel verändern. Erst recht nicht, wenn es an das konservative Denken anknüpft und den Begriff der Mediation als ein Framing für einen zwar raffinierten, aber der Konfrontation unterlegenen Weg verwendet, um eigene Interessen durchzusetzen. Ein solches Verfahren kann leicht und mit guten Gründen abgelehnt werden. Das zeigt sich auch in der Politik.13 Obwohl es die dümmste aller Alternativen ist, wird der Krieg als die anscheinend einzig in Betracht kommende Alternative bevorzugt. Wer hat da was nicht verstanden?
Der Ausweg aus dem Dilemma zeigt sich nur in einem anderen Denken.14 Ohne ein Umdenken, fällt es leicht, die Mediation besonders bei hoch eskalierten Konflikten und mit einfachen Argumenten abzulehnen, was ja auch tagtäglich geschieht. Wäre ihre Ablehnung auch möglich, wenn sie mit einem Denken konfrontiert wird, das sich aus den archaischen Denkmustern der Konfliktevolution herauslösen kann?15
Es gibt Konzepte, die in der Mediation mehr sehen als nur ein geschicktes, integratives Verhandeln. Die kognitive Mediationstheorie16 zum Beispiel belegt durchaus, dass die Mediation eine Kompetenz darstellt, die eine Art des Denkens unterstützt, das immer und überall angewendet werden kann. Es muss nur verstanden werden. Das ist schwierig, solange unser Denken emotional geprägt ist und wir dementsprechend grobfahrlässig mit Informationen umgehen. Gerade vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels ist nichts mehr klar. Die Bedeutungen hinter den Worten geht verloren. Ihre Deutungshoheit wird mit Kriegen ausgehandelt, nicht in dem notwendigen Hinterfragen. Der Krieg liefert ganz sicher keine Antworten. Er bewirkt nur, dass in einer derart verunsicherten Gesellschaft keine Zweifel mehr erwünscht sind. Zweifel kann sich nur erlauben, wer mit sich im Reinen ist.
Die Mediation ist anders. Sie erlaubt nicht nur Zweifel, sie deckt sie auch auf. Sie führt in die Auseinandersetzung und hinterfragt die Deutungshoheit. Genau das ist ihr Verhängnis. Es ist schwer, ihre Andersartigkeit zu erkennen, solange wir in alteingefahrenen Mustern denken, die immer linear noch vorne auf den nächsten Schritt ausgerichtet werden und nicht zur Seite schauen oder auf die Folgeschritte achten. Sie fällt schwer, solange die Identität so gering geschätzt wird, dass sie nur in der Ausgrenzung anderer gefunden wird und solange sie nicht stark genug ist, das Fremdartige einzubeziehen. Die Evolution erfordert einen Selektionsdruck. Leider führt jede Selektion zu einer Kollusion mit der Komplexität. Die Evolution kann die Komplexität also gar nicht berücksichtigen. Sie kann also nur bedingt zu einem Umdenken beitragen. Also muss das Umdenken einen Beitrag zur Evolution leisten.
Genau hier kommt die Mediation ins Spiel. Wenn die Mediation als eine Art des Denkens verstanden wird,17 setzt sie sich mit allem auseinander, was das Denken ausmacht. Emotionen spielen dabei eine ganz wichtige Rolle. Nicht aber um sich ihnen hinzugeben, sondern um ihre Botschaft zu verstehen, um sie zu hinterfragen und um sie in rationale Konzepte zu übersetzen. Wenn die Emotionen richtig verstanden werden, sind sie jeder künstlichen Intelligenz überlegen. Leider schaltet das Gehirn den Verstand aus, sobald die Emotionen allzu stark nach vorne kommen. Was als ein Schutzmechanismus gedacht war, erweist sich in der modernen Gesellschaft als ein Risiko. Emotionen verhindern das Denken, um den Menschen im Falle der Gefahr handlungsfähig zu machen. Sie steigern sich bis in die Kompetenz-Amnesie, die zu einem vollständigen Verlust der Handlungskontrolle führen kann, um seine Reaktion nicht zu behindern. So wie es aussieht, haben viele Menschen diesen Zustand bereits erreicht. In einer modernen, komplexen Gesellschaft täten sie gut daran, ihr kritisches Denken wieder einzuschalten, weil Gefahren heute anders einzuschätzen und zu bewerten sind, als zu Beginn unserer Evolution.
Ich habe das mediative Denken bereits als eine eigenständige Form des Denkens neben der Logik und der Dialektik herausgestellt und gegen andere Denkweisen abgegrenzt.18 Das mediative Denken zeichnet sich durch markante Merkmale aus, die alle Hindernisse aus dem Weg räumen und die Suche nach einer nützlichen Lösung gewährleisten. Schon Einstein meinte, dass das Denken das in ein Problem hineinführt nicht aus dem Problem herausführen kann. Watzlawick belegt, warum das Problem stets Teil der Lösung ist. Die Mediation denkt aus dem Problem heraus und isoliert das Denken von der Lösung. Der Nutzen steht im Vordergrund, der keinem Zufall mehr überlassen bleibt. So wie sich Muskeln nur aufbauen, wenn sie genutzt und nicht lediglich benötigt werden, würde sich auch das Gehirn an diese ungewöhnliche Denkweise anpassen können. Das gelingt allerdings nur, wenn die Mediation befreit wird und nicht länger in einem förmlichen Streitverfahren verhaftet bleibt, das sich noch immer über den Gewinn und die Lösung statt über den Nutzen definiert.
Wie wäre es, wenn wir anfangen zu denken, wie ein Mediator denken sollte?
Wenn die Mediation weltweit zu einem Bildungsstandard wird, würde es der Menschheit weiterhelfen und den Mediatoren wie auch den anderen Akteuren nichts wegnehmen. Das paradox anmutende Gegenteil wäre der Fall.
Arthur Trossen
Bild von Alexa auf Pixabay dl am 11.5.2023