Der Artikel Ukraine-Mediation1 wollte die Fragen aufwerfen, die zu klären sind, um den Konflikt durch Verhandlungen beizulegen. Der Artikel Welt-Mediation2 sollte dazu beitragen, die unterschiedlichen Perspektiven dieses Konfliktes aufzuzeigen und Wege in die Mediation nahelegen, die auch bei einem hoch eskalierten Konflikt den Ausweg zeigen. Nun soll der Blick auf die kleinste Einheit in dem Ukraine-Konflikt gelenkt werden. Wie in jedem anderen Konflikt auch, ist das der einzelne Mensch oder anders formuliert, sind das wir Menschen. Ein Sponti-Spruch der 60-iger Jahre brachte unsere individuelle Verantwortung im Kriegsfall auf den Punkt. Er griff das Zitat von Sandburg auf und sagte:
Das ist eine schöne Illusion und noch nicht einmal falsch. Sie klingt zumindest logisch. Ein Gegner der Friedensbewegung hat dann den Nachsatz hinzugefügt: "... dann kommt der Krieg zu Euch!".3
Das klingt so, als wäre der Krieg etwas unausweichlich Menschliches. In dem vorausgegangenen Artikel wurde er als ein Spiel mit dem Feuer4
bezeichnet, bei dem alle mitspielen. Manche, weil sie den Kampf suchen, andere, weil sie keine Alternative sehen, wieder andere, indem sie wegschauen. Es gibt viele Motive, nicht nur die der Staatenlenker, die einen Krieg ermöglichen. Auch die Machthaber brauchen Hintermänner und Unterstützer. Auch das verdeutlicht der Ukraine-Krieg. Er liefert ein ebenso aktuelles, wie nachhaltiges Szenario, das es erfordert, sich mit uns Menschen auseinanderzusetzen.
Eigentlich sollten wir gelernt haben, dass ein Krieg, zumindest in der modernen Welt, weder Sinn macht, noch Vorteile einfahren kann.5 Trotzdem steigt die Zahl der Kriege an. Laut dem Konfliktbarometer weist das globale politische Konfliktpanorama im Jahr 2020 einen Anstieg an Kriegen gegenüber dem Vorjahr von 15 auf 21 aus.6 Der Ukraine-Krieg findet in Europa statt. Nur deshalb zieht er so viel Aufmerksamkeit auf sich. Hier wird besonders deutlich, dass die Risiken und die absehbaren Schäden bei Weitem den vorstellbaren Vorteil überwiegen. Diese Einschätzung gilt unabhängig davon, wie man sich den Ausgang des Krieges in der Ukraine vorstellen mag. Es ist eine rationale Sicht, wo noch der Verstand in der Lage ist, das Vorgehen zu kontrollieren. Emotional sieht das schon wieder ganz anders aus. Macht braucht keinen Gewinn. Sie lässt sich auch an der Zerstörung messen.
Es drängen sich die bereits dargelegten Parallelen zu hoch eskalierten, individuellen Konflikten auf. Auch hier steht der Mensch im Mittelpunkt. Allerdings richten die individuellen Konflikte nicht so viel Schaden an. Ihnen kann man leichter aus dem Weg gehen. Bemerkenswert ist übrigens, dass z.B. Inselkulturen, wo man sich nicht aus dem Weg gehen kann, die Versöhnung anstreben.7 Der Ukraine-Konflikt betrifft die ganze Welt. Wir können die Welt nicht verlassen und uns, global betrachtet, auch nicht aus dem Weg gehen. Es genügt also nicht, dem Krieg fernzubleiben, um sich ihm zu entziehen. Es genügt auch keine Stimmenthaltung auf dem internationalen Parkett. Jeder Mensch, jeder Staat ist Teil dieses Krieges, ob er es will oder nicht. Es hilft auch nicht, Einzelne für den Krieg verantwortlich zu machen. Einer alleine kann ohne Unterstützung gar nichts bewirken. Niemöller hob die individuelle Verantwortung mit folgendem Zitat hervor:
Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
Aber was kann ich als Einzelner schon tun? Und was nutzt mein Protest, wenn er nicht die Ohren derer erreicht, die es angeht oder wenn er sogar hart bestraft wird? Diese Frage nähert sich dem Thema dieses Beitrages, der die Trilogie abrundet. Jeder ist verantwortlich und jeder trägt auf die eine oder andere Weise dazu bei, ob es Kriege gibt oder nicht. Jeder Mensch hat die Verantwortung, seine Wahrnehmung, sein Denken und seine Gefühle zu hinterfragen. Soldaten, die in den Krieg geschickt werden und sich dagegen nicht wehren können, haben immer noch die freie Entscheidung, ob sie den Feind als Feind sehen und ob sie einen anderen Menschen töten oder nicht. Sie haben immer noch die Verantwortung, ob sie Freude oder Genugtuung empfinden, wenn sie jemandem Schaden zufügen oder nicht. Sie tragen auch die Verantwortung, ob sie eine Politik unterstützen, die Machtinteressen höher einschätzt als das Leben eines Menschen. Sie entscheiden auch, wie sie die Menschen behandeln, die aus dem feindlichen Land fliehen oder von dort abstammen, ob sie deren Notlage ausnutzen, um für sich Vorteile zu erlangen oder ob sie an ihnen ihre Wut auslassen. Auch das ist ein Phänomen, das der Ukraine-Krieg offenbart. Schüler mobben ihre Mitschüler, weil sie russischer Abstammung sind. Straftaten gegen Migranten nehmen zu. Verschwörungstheoretiker finden endlich wieder einen neuen Grund für Gewalt. Menschenleben werden vernichtet. Die Toten werden zur Trophäe. All das muss jeder für sich selbst entscheiden. Er sollte jedoch bedenken, dass alle Menschen ein Teil des Ganzen sind, ob wir es wollen oder nicht. Einstein hob hervor:
Konflikte haben die Chance, den Horizont zu erweitern, wenn man genau hinschaut. Sie erfordern eine Auseinandersetzung. Wo der Klärungsbedarf übergangen oder überhört wird, kommt es zum Streit. Die Eskalation ist der Krieg. Streit und Kriege engen den geistigen Horizont ein.8
Erst wenn wir erkennen, dass jeder einzelne Mensch ein Teil des Ganzen ist, haben wir die Möglichkeit uns auch von den Kriegen zu befreien. Der Koran führt aus:9
Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet;
und wenn jemand einem Menschen das Leben schenkt, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben geschenkt.
Also bietet es sich an, dass jeder bei sich anfängt, nach den Konfliktbotschaften zu forschen. Wenn er sie versteht, rettet er nicht nur sich, sondern auch die Menschheit. In den vorausgegangenen Ukraine-Artikeln wurden Fragen aufgeworfen, die in den Verhandlungen zu stellen sind. Auf der individuellen Ebene kommen folgende Fragen hinzu:
- Warum lasse ich mich auf Parolen und Behauptungen ein, die faktisch nicht belegt sind?
- Warum ist mir die Meinung anderer so wichtig?
- Warum lasse ich es zu, dass Lügen als alternative Fakten bezeichnet werden können?
- Warum erkenne ich nicht, was wahr und falsch ist und warum meine ich zu wissen, was die Wahrheit ist?
- Warum bin ich nicht aufmerksam auf das, was andere sagen und warum kann ich nicht genau hinhören?
- Warum glorifiziere ich Personen, denen ich bedingungslos hinterher renne?
- Warum bin ich so schwach, dass ich Gelegenheiten suchen muss, um mich mächtig zu fühlen?
- Welches Defizit kompensiere ich, wenn ich Menschen, die ich liebe, an die Kette lege?
- Was habe ich von der Zustimmung anderer, wenn ich sie erzwinge?
- Was nutzt mir eine Wahl, wenn ich das Ergebnis fälsche?
- Warum muss ich andere manipulieren, damit ich recht habe?
Es ist leicht, Weisheiten zu verbreiten. Die Weisheiten sind auch nicht neu. Sie haben bis heute nicht dazu geführt, den Krieg zu überwinden. Der Krieg ist ein Fakt. Da bleibt keine Zeit zur Einkehr. Da muss gehandelt werden. Und es ist auch nicht so, dass alle hinrennen, wenn es Krieg gibt. Der weitaus größere Teil der Weltbevölkerung will Frieden. Bei einer geklärten Faktenlage wären es möglicherweise sogar alle. Und es gibt viele mutige Helfer und Unterstützer, die sich dafür einsetzen. Jeder auf seine Weise und jeder mit seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten.
Fest steht, wenn alle so denken würden, wie ein Mediator denken sollte, gäbe es keinen Krieg. Man würde nicht auf Parolen hereinfallen und sich nicht von Emotionen verblenden lassen. Man würde den Mächtigen nicht einfach hinterherrennen. Man würde die Konsequenzen bedenken und den Nutzen hinterfragen, bevor entschieden oder gehandelt wird. Man könnte das seit Urzeiten eingespeiste, psychologische Programm des Menschen, das zur Kompetenz-Amnesie führt, endlich an die moderne Realität anpassen. Das Naturgesetz, wo der Stärkere überlebt, stimmt schon lange nicht mehr. Und es stimmt erst recht nicht, wenn die Stärke missbraucht wird, um die Welt zu vernichten und der Dummheit zur Macht zu verhelfen. Ohne die Welt, gibt es keine Menschen. In der modernen Welt überlebt, wer die Balance herstellen kann. In der modernen Gesellschaft gewinnt, wer sich an die schnell verändernden Lebensbedingungen anpassen kann. Pistolen helfen nicht gegen Viren. Die verändernden Lebensbedingungen erfordern ein Umdenken. Die Mediation befähigt dazu, indem sie eine andere Herangehensweise an die Problemlösung anbietet und als ein Erkenntnisprozess verstanden wird.10 Wenn sie sich durchsetzt, würde sie dem Menschen dazu verhelfen, den nächsten Evolutionssprung zu vollziehen.11 Der Krieg wäre nicht mehr etwas unausweichlich Menschliches. Wir Menschen könnten unsere Dummheit überwinden und Einstein widerlegen. Der Wissenschaftler sagte nämlich auch:
„Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit;
aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“
Dummheit sollte nicht mit dem Mangel an Intelligenz gleichgesetzt werden, sondern mit einem Mangel der Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu erkennen und im Konflikt zu überwinden. Menschen sind sehr komplexe Systeme. Es gibt nicht nur gute oder böse Menschen, wobei schon die Frage nach Gut und Böse perspektivisch zu relativieren ist. Schauen wir doch einmal auf die guten Seiten, die im Ukraine-Krieg ebenfalls zum Vorschein kommen. Da gibt es Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Freundschaft, Besonnenheit, Austausch, Ehrlichkeit, Kritik und Anstand. Man muss nur genau hinschauen. Das Problem liegt wieder auf der Lösungsebene. Freundschaft bedeutet nicht, dass ich einen Feind haben muss. Hilfsbereitschaft bedeutet nicht, dass ich anderen schaden muss. Besonnenheit bedeutet nicht, dass ich untätig bleibe. Austausch bedeutet nicht, dass ich andere täusche. Frieden bedeutet nicht, den Feind zu vernichten. Frieden bedeutet, mit sich selbst als Teil des Ganzen und somit auch mit dem Ganzen im Reinen zu sein. Es ist leider kein einfacher Weg. Aber schon Laotse sagte:12
Was also spricht dagegen, sich auf den Weg zu machen? Zugegeben, der Einzelne hat möglicherweise keinen großen Einfluss. Aber auch das ist kein Argument, das die Hilflosigkeit rechtfertigt und verhindert, den Weg zu gehen. Das mag sich mit einem Zitat von Yoko Ono verdeutlichen. Sie sagte:13
Karl May erläutert die Bedeutung des Tropfens mit dem folgendem Zitat:14
Mit diesen Gedanken beginnen wir den Weg bei uns selbst. Die Mediation zeigt, wo es lang geht. Einige Konzepte entfesseln die Mediation aus dem formalen Verfahren, indem sie die Mediation als eine Art des Denkens beschreiben.15
Es ist ein schlauer Ansatz, denn er bewirkt ein Umdenken. Um den ersten Schritt zu gehen, genügt es schon, etwas sorgfältiger mit Informationen umzugehen. Dazu ein Beispiel:16
Was würde passieren, wenn wir nur alle etwas genauer hinschauen? Es würde unsere eigenen Reaktionen verändern. Es würde dazu führen, dass die Propaganda ihre Wirkung verliert. Das wiederum würde die Kriegsrhetorik erübrigen und Fragen aufwerfen, mit denen sich der Gegner auseinandersetzen kann und muss, weil sie keine Angriffsflächen bieten. Es kommt zu dem bereits erwähnten, dringend notwendigen Umdenken, das irgendwann auch die Menschen erreichen wird, die sich noch dagegen wehren.
Ja, das ist nur so ein Gedanke, ein Tropfen im Ozean. Er könnte aber, ganz im Sinne der Chaostheorie, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, woanders einen Hurricane auslösen.17
Arthur Trossen
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