Die Entscheidungslehre ist die anwendungsorientierte, präskriptive Richtung der Entscheidungstheorie, die für wichtige Entscheidungsprobleme wertvolle Hilfe liefert. Empfohlen wird ein Entscheidungsprozess in drei Schritten: (1) Strukturierung der Entscheidungssituation, (2) Entwicklung eines Wirkungsmodells und (3) Evaluation der Handlungsalternativen. In diesem Beitrag werden die wesentlichen Inhalte dieser Schritte skizziert. Von besonderer Bedeutung für die Qualität der Entscheidung ist eine reflektierte Analyse der Ziele im ersten Schritt auf der Basis des Value-focused Thinking und eine darauf aufbauende kreative Herangehensweise bei der Identifikation von Handlungsalternativen. Hingewiesen wird ebenfalls auf die Notwendigkeit, durch Debiasing den Einfluss typischer Schätzfehler und Verzerrungsfaktoren auf die Wirkungsprognosen zu verringern. Nach den theoretischen Ausführungen schließt der Beitrag mit Hinweisen, wie sich die Vorgehensweise mit Hilfe eines Online-Tools konkret zur Lösung praktischer Entscheidungsfragen umsetzen lässt.

Die drei Richtungen

Die drei Richtungen der Entscheidungstheorie und Definition einer „Entscheidungslehre“
Die Entscheidungstheorie ist eine sehr breite wissenschaftliche Disziplin, die gemäß Abbildung 1 drei Richtungen umfasst.

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Der normative Zweig der Entscheidungstheorie lässt sich als klassischer Zweig der Entscheidungstheorie auffassen. Er geht auf den Mathematiker Daniel Bernoulli (1700-1782) zurück, unterstellt rationale Präferenzen des Entscheiders und stellt stark auf quantitative Methoden ab. Das inhaltliche Spektrum ist groß und unterscheidet grundsätzlich Methoden, die aus einer beschränkten Anzahl von Alternativen die beste identifizieren (MADM = „Multi-attribute Decision Making“) und solchen Methoden, die optimale Lösungen in einem mehrdimensionalen, vornehmlich kontinuierlichen Alternativenraum ermitteln (MODM = „Multi-objective Decision Making“).1 Der deskriptive Zweig der Entscheidungstheorie lässt sich im Gegensatz dazu eher als psychologische Disziplin charakterisieren, die sich seit prägenden Fachveröffentlichungen in den 1970er Jahren zunehmender Aufmerksamkeit nicht nur in der Entscheidungstheorie erfreut.2

Im Mittelpunkt stehen hierbei Erkenntnisse über systematisch auftretende (Rationalitäts-)Schwächen oder sogenannte „Biases“ (Verzerrungen) im Entscheidungsprozess des Menschen. Hohe Relevanz finden diese sowohl in vielen ökonomischen, politischen als auch privaten Anwendungskontexten. Die deskriptive Entscheidungstheorie beschäftigt sich streng genommen zwar nur mit der Beschreibung dieser Biasfaktoren, dennoch liegt es nahe, die Erkenntnisse auch zu nutzen, um Entscheidern bei der Vermeidung dieser Rationalitätsfallen zu helfen.

An dieser Stelle setzt die präskriptive Entscheidungstheorie an. Zum einen untersucht sie, mit welchen „Debiasing“-Methoden Entscheidern geholfen werden kann, die psychologisch bedingten Unzulänglichkeiten im menschlichen Entscheidungsprozess zu vermeiden. Zum anderen geht die präskriptive Entscheidungstheorie über die normative hinaus, indem sie subjektive, individuelle Präferenzen in der Modellierung berücksichtigt. Hierdurch wird ein breites Anwendungsfeld für praktische Entscheidungsfragen in ganz unterschiedlichen Bereichen geschaffen, so dass es gerechtfertigt ist, diese Richtung auch als „Entscheidungslehre“ zu bezeichnen.

In einer praktisch orientierten Sichtweise wird in der Entscheidungslehre die Befolgung eines klar strukturierten Entscheidungsprozesses empfohlen. Für die genaue Ausgestaltung dieses Prozesses gibt es naturgemäß verschiedene Varianten.3 Im Kern umfassen alle Vorschläge jedoch stets drei große Schritte, wie sie folgende Abbildung 2 verdeutlicht.

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Der erste Schritt besteht in einer Strukturierung der Entscheidungssituation, d. h. einer genauen Definition der Entscheidungsfrage und einem anschaulichen Modell mit Zielkriterien und Handlungsalternativen. In einem zweiten Schritt ist darauf aufbauend ein Wirkungsmodell zu entwickeln, das die erwartete Wirkung der Handlungsalternativen auf die Ziele unter Berücksichtigung von unsicheren Einflussvariablen und Umweltzuständen beschreibt. Erst zuletzt, im dritten Schritt, erfolgt eine Evaluation der Handlungsalternativen anhand der Präferenzen des Entscheiders und die Ableitung der Entscheidung.

In diesem Beitrag wird kapitelweise auf diese drei Schritte näher eingegangen. Die folgenden Ausführungen gehen allerdings nicht zu sehr ins Detail. Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen groben Überblick der Inhalte zu vermitteln, die in den einzelnen Schritten Berücksichtigung finden. Darüber soll ein Verständnis für die Bedeutung der Entscheidungslehre begründet werden. Als Leitfaden zur Unterstützung einer konkreten Entscheidung eignen sich die Ausführungen daher noch nicht. Diesbezüglich wird im letzten Kapitel vielmehr auf das Tool ENTSCHEIDUNGSNAVI hingewiesen, welches für konkrete Anwendungen zum Einsatz kommen kann und den gesamten Prozess im Detail unterstützt.4

2. Die Strukturierung einer Entscheidungssituation

Die Strukturierung einer Entscheidungssituation kann in drei Teilschritten erarbeitet werden. So ist zunächst eine Entscheidungsfrage zu formulieren, die den Rahmen des Prozesses vorgibt. Anschließend werden innerhalb des durch die Frage vorgegebenen Kontextes die fundamentalen Ziele einer Entscheidungssituation erarbeitet, um darüber in einem abschließenden Schritt die Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren.

2.1 Wie lautet die Entscheidungsfrage?

Die meisten Menschen verhalten sich bei auftretenden Entscheidungsproblemen reaktiv, d. h. sie richten ihr Augenmerk nur auf die naheliegenden Alternativen und empfinden die Entscheidungssituation als eine unangenehme Last, die sie gerne wieder loswerden wollen. Ein proaktives Vorgehen zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass Entscheidungsprobleme auch als Chancen angesehen werden, den Status quo zu verbessern und somit selbst initiiert nach Entscheidungsmöglichkeiten als auch besseren Alternativen als den naheliegenden gesucht wird. Mit der Formulierung einer Entscheidungsfrage kann der Entscheider den Weg von einer reaktiven zu einem proaktiven Vorgehen ebnen, denn hier gibt er an, wie viel in der betrachteten Entscheidungssituation grundsätzlich zur Disposition gestellt wird. Je weniger als gegeben angenommen wird, je mehr hinterfragt wird und je offener die Herausforderung angenommen wird, desto größer sind die Chancen, durch die Entscheidung einen Mehrwert zu schaffen. Eine Hilfe bietet hier die Vervollständigung des Satzes „Ich entscheide mich, …“ mit folgenden Angaben:

  • das, was einem wichtig ist oder worum es sich dreht, in Form eines Substantives (Gesundheit, beruflicher Erfolg, Mobilität, …),
  • eine Konkretisierung mittels eines Verbs und/oder Adverbs (maximieren, am besten gestalten, möglichst effizient, …)
  • und optional eine Eingrenzung des Alternativenraums (durch Angabe des Orts, des Zeitraums und/oder der Art und Weise).

Eine derart konkrete Frageformulierung hilft den Entscheidern, sich zunächst einmal bewusst zu werden, was sie eigentlich genau entscheiden wollen. Die Frageformulierung hat zudem einen großen Einfluss auf die Ziele: Je breiter die Entscheidungsfrage aufgestellt ist, desto grundlegender bzw. bedeutender sind die Ziele, die im nächsten Teilschritt auszuformulieren sind.

2.2 Wie lauten die Fundamentalziele?

Nach der Formulierung der Entscheidungsfrage muss der Entscheider sehr genau reflektieren, was seine Ziele in dem definierten Entscheidungsrahmen sind. In der Entscheidungslehre werden Ziele als Messskalen verstanden. Diese bestimmen den Wert bzw. Mehrwert einer Entscheidung in verschiedenen, inhaltlichen durchaus sehr unterschiedlichen Kategorien.

Eine gute Methodik, die nach solchen Zielen einer Entscheidungssituation sucht, ist der Ansatz des Value-focused Thinking nach Ralph Keeney.5 Es handelt sich dabei um einen strukturierten Prozess, in dem Entscheider zunächst relativ frei und kreativ alle Aspekte aufschreiben sollen, die potenziell von Relevanz in der Bewertung der Alternativen sein könnten. Anschließend werden diese Aspekte sukzessive hinterfragt, um deren Hintergrund zu verstehen. Viele dieser Aspekte haben nämlich für Entscheider keinen eigentlichen Wert, sondern sind nur Mittel zum Zweck, ohne dass dies dem Entscheider immer bewusst ist. Aufgabe ist es also, sich durch ein gezieltes Hinterfragen von diesen sogenannten Instrumentalzielen, die noch keinen eigenen Wert besitzen, zu den sogenannten Fundamentalzielen, den eigentlichen Werten, hinzuentwickeln.

Die empirische Forschung zeigt, dass sich Menschen in Entscheidungsprozessen zu wenig Gedanken über die tatsächlich fundamentalen Werte machen und bei der Angabe der Ziele häufig nur Instrumentalziele formulieren.6 . Eine saubere (sachgerechte) Identifikation und Strukturierung bildet aber die Grundlage für einen erfolgreichen Entscheidungsprozess. Daher muss dieser Schritt mit einer hohen Sorgfalt und einem hohen Grad an Reflektion durchgeführt werden, damit ein fundamentales, vollständiges und redundanzfreies Zielsystem entsteht, das alle in der Entscheidungssituation relevanten Werte berücksichtigt. Dabei kommt es nicht auf eine hohe Anzahl an, gut formulierte Zielsysteme enthalten häufig nicht mehr als fünf oder sechs Fundamentalziele.

Eine Hilfestellung für diesen Prozess können generische, fundamental aufgestellte Beispielzielsysteme darstellen, die dem Entscheider in ausgewählten typischen Entscheidungssituationen (z. B. „Was mache ich nach dem Studium?“) Impulse geben können. Aber selbst mit dieser Hilfe stellt die konkrete und individuelle Ausgestaltung des persönlichen Zielsystems für ungeübte Entscheider immer noch eine Herausforderung dar. Entscheidungsanalysten oder Entscheidungsunterstützungstools, die die Entscheider schrittweise durch den Entscheidungsprozess führen, können insbesondere an dieser Stelle sehr hilfreich sein.

2.3 Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es?

In diesem Schritt sind die Handlungsmöglichkeiten (= Alternativen), zwischen denen der Entscheider in dem Entscheidungsproblem wählen kann, zu entwickeln und aufzulisten. Häufig sind einige Alternativen offensichtlich und müssen nur niedergeschrieben werden. Studien belegen jedoch, dass in vielen Fällen mangelnde Kreativität und zu geringe kognitive Anstrengung verhindern, dass weitere gute (bessere) Handlungsalternativen identifiziert werden.7

Vor diesem Hintergrund gehört es ebenfalls zum Konzept des Value-focused Thinking, in einem strukturierten Prozess die Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten systematisch und gezielt zu unterstützen. In diesem Prozess wird darauf geachtet, dass das Hauptaugenmerk des Entscheiders auf den definierten Fundamentalzielen und damit den wahren Werten liegt und Instrumentalziele nur als zusätzliche Impulsgeber Berücksichtigung finden.

Als ein mögliches Vorgehen können beispielsweise Schwächen bestehender Alternativen in den berücksichtigten Fundamentalzielen identifiziert werden, um daraufhin gezielt Möglichkeiten zu eruieren, durch Modifikationen der Alternativen bessere Ergebnisse in dem Ziel zu erreichen. Alternativ oder zusätzlich können weitere Kreativitätstechniken angewendet werden. Beispielsweise zählt hierzu die Anregung, sich zunächst eine hypothetische Idealalternative vorzustellen, die in allen Fundamentalzielen sehr gut abschneidet. Anschließend besteht möglicherweise die Möglichkeit, mit wenigen Anpassungen aus dieser Wunschvorstellung eine reale, sehr attraktive Handlungsoption zu entwickeln.

3. Aufstellung eines Wirkungsmodells

Nach der Strukturierung der Entscheidungssituation gilt es im zweiten Schritt, die Auswirkungen der betrachteten Handlungsalternativen in allen Zielen abzuschätzen. Zur Modellierung einer solchen Wirkungsprognose wird eine Ergebnismatrix erstellt, wobei pro Matrixfeld die Auswirkung einer Alternative (Zeile) in einem Fundamentalziel (Spalte) bestimmt wird.

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Da in aller Regel für die meisten fundamentalen Ziele keine einfachen, natürlichen Messskalen vorliegen, müssen an dieser Stelle eigens konstruierte Skalen (z. B. über eine Kombination von geeigneten Indikatoren) helfen. Alternativ kann beispielsweise auch eine klassische Schulnotenskala mit einer qualitativen Einschätzung den Aufwand reduzieren.

Bei der Angabe von Wirkungsprognosen in jedem Matrixfeld sieht sich der Entscheider zwei weiteren Herausforderungen gegenübergestellt. Erstens müssen Unsicherheiten in den Zielausprägungen von Alternativen in Abhängigkeit von unsicheren Einflussvariablen durch exogene Umweltzustände identifiziert und modelliert werden. Zweitens sind unerwünschte Verzerrungen in den Wirkungsprognosen zu erkennen und ihr Einfluss zu minimieren.

3.1 Der Umgang mit Unsicherheiten

Nur in den seltensten Fällen kann bei wichtigen Entscheidungen mit Sicherheit angegeben werden, welche Ergebnisse sich bei den Alternativen in allen betrachteten Zielen ergeben. Beispielsweise hängt der Unternehmensgewinn von einem unsicheren Absatz oder der Therapieerfolg eines Patienten bei der Therapieentscheidung vom unsicheren Erfolg einer Operation ab. In solchen Fällen muss diesem Umstand Rechnung getragen werden und die unsicheren Einflussvariablen bzw. Umweltzustände und ihre Wirkung identifiziert und modelliert werden. Im einfachen Fall genügt diesbezüglich die Nennung maximal einer unsicheren Einflussvariable pro Matrixfeld, wie es in der Abbildung 3 exemplarisch für das Ergebnis der Alternative 2 im Ziel 2 verdeutlicht ist. Sind mehrere Einflussvariablen für ein Matrixfeld zu berücksichtigen, so wächst der Modellierungsaufwand deutlich und die Analyse wird schnell unübersichtlich. Deshalb genügt in den meisten Fällen die Identifikation der wichtigsten Einflussvariable, während Unsicherheiten mit geringeren Ergebnisauswirkungen vernachlässigt werden können.

Als großes Problem stellt sich in diesem Zusammenhang häufig die geforderte Angabe von Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Zustände heraus. Entscheider fühlen sich häufig sogar überfordert, verweisen zum Beispiel auf das Fehlen verlässlicher Statistiken oder lehnen eine exakte Angabe kategorisch ab. In diesem Fall ist es erstens wichtig, im Entscheidungsprozess unpräzise Angaben zuzulassen und zweitens diese mit geeigneten Methoden in der abschließenden Bewertung zu berücksichtigen sowie ihren Einfluss auf das Ergebnis zu bestimmen. Daneben müssen Entscheider darauf hingewiesen werden, dass in der Entscheidungslehre Wahrscheinlichkeiten auf rein subjektiven Einschätzungen beruhen dürfen, soweit zumindest die bekannten Schätzfehler vermieden werden, auf die im nächsten Abschnitt noch eingegangen wird.

Für die Fälle, in denen eine fundierte Analyse der Unsicherheiten auf der Basis mehrerer wichtiger Einflussvariablen gewünscht ist, bietet sich der Rückgriff auf spezielle Instrumente zur Ableitung von Wahrscheinlichkeiten, wie z. B. Simulationsmethoden oder Szenariotechniken, an. Diese gehen jedoch mit einem hohen Aufwand einher und erfordern in jedem Fall eine entsprechende Softwareunterstützung.

3.2 Umgang mit Verzerrungsfaktoren

Spätestens nachdem der Verhaltensforscher Daniel Kahneman8 einen Nobelpreis für Ökonomie erhalten hat, wird nicht mehr an der hohen Bedeutung von psychologisch verursachten Verzerrungen im menschlichen Entscheidungsprozess gezweifelt. Derartige Biases treten insbesondere in der Quantifizierung des Wirkungsmodells, d. h. bei der Angabe der Ergebnisse sowie auch ggfs. der Wahrscheinlichkeiten, auf. In einem guten Entscheidungsprozess müssen diese Verzerrungen möglichst genau identifiziert und korrigiert werden. Die hier auftretenden Biases werden in zwei Gruppen aufgeteilt: Kognitive und motivational begründete Rationalitätsfallen.9

Da die kognitiven Ressourcen des Menschen beschränkt sind, gibt es Mechanismen, um mit der Vielzahl von Entscheidungen jeden Tag zurecht zu kommen. Diese sogenannten „Heuristiken“, die wie eine Daumenregel funktionieren, ermöglichen schnelle Einschätzungen, die vor allen Dingen das kognitive Denksystem nicht zu stark beanspruchen. Allerdings sind diese Heuristiken häufig mit Biases verbunden, die durch umfangreiche verhaltensökonomische Forschungen mittlerweile recht gut beschrieben werden können.10 Als ein Beispiel für diese kognitiven Rationalitätsfallen sei hier die Verfügbarkeitsheuristik angesprochen, die zu einer überhöhten Gewichtung von Informationen - zum Beispiel beim Schätzen von Wahrscheinlichkeiten oder Ergebnissen - führt, wenn eine Information sehr auffällig, mit einer hohen Häufigkeit und anschaulich präsentiert wird. Es kommt zu sogenannten „Überreaktionen“, ein bekanntes Phänomen nach Unglücken oder Bekanntwerden von gefährlichen Inhaltsstoffen in Nahrung oder Medikamenten. Ein weiteres Beispiel ist der sogenannte „Narrative Bias“, nach dem Menschen durch eine sehr einseitige Darstellung eines Problems leicht beeinflusst werden können, wenn die Sachverhalte in einer in sich schlüssigen Gesamtdarstellung eines Problemfeldes plausibel verknüpft werden. Weitere Heuristiken finden sich in Verankerungseffekten oder in vorschnellen Rückgriffen auf schematische Denkmuster. Allgemein resultieren auch viele einseitige Sichtweisen daraus, dass sich Menschen nur schwer vorstellen können, dass ihre Einschätzung stets nur auf einem kleinen Bildausschnitt der Realität beruht. Kahneman bezeichnet dies als „WYSIATI“-Effekt: „What you see is all there is“.11

Eine zweite Kategorie von Biases resultiert aus der Tatsache, dass Menschen bestimmte Motive und Bedürfnisse haben, die sie gerne erfüllt sehen wollen. Einige dieser Motive beeinflussen Entscheidungen, ohne dass dies der Entscheider bemerkt. Hierzu gehören unter anderem die Motive nach einem hohen Selbstwert, nach kognitiver Dissonanzfreiheit und nach gefühlter Kontrolle. Aus den beiden ersten Motiven folgt als sehr bekannter motivational begründeter Entscheidungsbias der sogenannte Sunk-Cost-Effekt.12 Wer sich in der Vergangenheit für ein Projekt entschieden und in Folge Arbeit oder Geld investiert hat, besitzt einen - rational gesehen - übertrieben hohen Antrieb, dieses Projekt auch zum Erfolg zu führen. Denn andernfalls wäre es die falsche Entscheidung gewesen, eine Dissonanz würde sich manifestieren und der Selbstwert gefährdet. So wie sich Menschen im Zuge des Sunk-Cost-Effektes durch selektive Wahrnehmung die Welt schönreden, so ähnlich wirkt auch das Motiv nach gefühlter Kontrolle. Da Menschen kein Kontrolldefizit verspüren möchten, bilden sie sich unbewusst ein, mehr Kontrolle zu besitzen als es tatsächlich der Fall ist.

Diese Kontrollillusion wurde in einigen Selbstüberschätzungen empirisch belegt, wie z. B., dass sich die Mehrheit der Autofahrer zu den besten 20 % bis 30 % zählt, was mathematisch nicht funktioniert.13 Noch deutlicher wird dies am hohen spekulativen Handel an den Aktienmärkten. Auch hier sind die agierenden Marktteilnehmer davon überzeugt, sie wären schlauer als der jeweilige Kontrahent. Im Fachjargon spricht man diesbezüglich von einer „Overconfidence“.14

Entscheider, die die Gefahren von Biases nicht kennen, laufen Gefahr, eine schlechte Entscheidung zu treffen und vielleicht sogar von denjenigen manipuliert zu werden, die es verstehen, die psychologischen Verhaltenseffekte geschickt zu ihrem Vorteil auszunutzen. Insofern fordert die Entscheidungslehre eine eingehende Beschäftigung mit den in der jeweiligen Entscheidungssituation möglichen Biasfaktoren, damit entsprechende Entscheidungsfehler vermieden werden können und die Entscheidungsempfehlung auf möglichst unverzerrten Einschätzungen beruhen kann.

Für einige Biases gibt es spezielle „Debiasing“-Methoden, die hier eine systematische Hilfestellung geben.15 Nur als ein Beispiel sei hier die Prospective-Hindsight-Methode angeführt, die einer Overconfidence im Hinblick auf die Erfolgseinschätzung eigener Projekte entgegen wirken soll. In dieser Methode wird der Entscheider zunächst gebeten, sich genau vorzustellen, dass er mit einer Zeitmaschine in die Zukunft versetzt wird und sich sein Projekt zu einem großen Misserfolg entwickelt hat. Anschließend wird er nach den Gründen gefragt, die zu diesem Misserfolg geführt haben könnten. Abschließend kann er erneut eine Einschätzung abgeben, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Einschätzung weniger ins Positive verzerrt und somit realistischer ist. Eine ähnliche Debiasing-Methode, die vor allem in Gruppenentscheidungen Anwendung findet, ist die Auseinandersetzung mit dem Advocatus Diaboli, dem Anwalt des Teufels.16 Hierbei nimmt ein Gruppenmitglied gezielt eine Gegenposition ein und hinterfragt alle bis dato aufgestellten Ziele, Alternativen und Wirkungsprognosen. Dies schärft nicht nur das Verständnis der Entscheidungssituation, sondern reflektiert erneut die gegebenen Einschätzungen in Bezug auf Rationalitätsfallen.

Eine fundierte Entscheidungsanalyse verlangt theoretisch die Beschäftigung mit allen bekannten Biasarten incl. einem entsprechenden Debiasing. Aufgrund der Vielzahl wird man sich jedoch in der Praxis auf besonders relevante Teilmengen beschränken müssen.

4. Die Bewertung der Handlungsalternativen

Die Bewertung der Handlungsalternativen und die Entscheidung
Nach Strukturierung der Entscheidungssituation und möglichst weitgehender Filterung von Biasfaktoren in den Wirkungsprognosen besteht der dritte und letzte Schritt darin, die beste aus der Menge aller möglichen Handlungsalternativen zu finden und damit eine Entscheidung zu treffen. Damit dies möglich ist, müssen Informationen über die Präferenzen des Entscheiders erhoben und in das Bewertungsmodell integriert werden. Die größten Herausforderungen ergeben sich hierbei in der Frage, wie sich beim Vorliegen von Zielkonflikten die verschiedenen Fundamentalziele im Modell individuell gewichten lassen und wie methodisch vorgegangen werden kann, wenn nur unvollständige Information vorliegt.

4.1 Ermittlung und Modellierung von Präferenzen bei Zielkonflikten

Zur Modellierung von Präferenzen eignen sich insbesondere die MADM-Methoden, die schon in der Einführung im Kontext der normativen Entscheidungstheorie eingeführt wurden und zugleich durch ein breites Angebot an Software-Implementierungen auch für praktische Zwecke gut verfügbar sind. Da alle Varianten dieser Methoden für die Berücksichtigung entscheiderabhängiger Präferenzen konzipiert sind, gehören sie zum präskriptiv-normativen Schnittbereich der Abbildung 1. Die bekanntesten MADM-Varianten sind die häufig im Ingenieursumfeld verwendete und relativ einfach konzipierte Nutzwertanalyse17 , die in vielen praktischen Anwendungen beliebte Analytic Hierarchy Process18 (AHP) Methode oder die axiomatisch fundierte multiattributive Nutzentheorie19 . (MAUT). Zu den Methoden der „französischen Schule“ gehören die sogenannten Outranking-Methoden, wie z. B. ELECTRE20 oder PROMETHEE21 , die sich durch eine etwas allgemeinere Modellierungsform der Präferenzen von den anderen unterscheiden.

Auf welche dieser Methoden bzw. welche Software zurückgegriffen werden sollte, ist häufig Geschmackssache. So ist es durch die Verschiedenheit der Methoden durchaus möglich, dass sich je nach verwendeter Methode eine andere Alternative als optimal herausstellt. Zudem setzen die Methoden zum Teil auf Annahmen, wie Teilpräferenzen zu einem Gesamtnutzen aggregiert werden, die nicht zwingend kompatibel zu der Vorstellung des Entscheiders sind. Auch liegen die Präferenzen des Entscheiders in aller Regel in seinem Kopf nicht so eindeutig vor, wie es die vermeintliche Exaktheit manch quantitativer Auswertung implizit erfordert.

Insofern kommt es in diesem letzten Schritt weniger auf die verwendete Methode an, sondern vielmehr auf die Möglichkeiten, im Zuge der Durchführung einer Bewertungsmethode Präferenzen zu reflektieren und zu stabilisieren, in manchen Fällen überhaupt erstmal zu bilden, und ein gutes, auch intuitives Gefühl für die beste Entscheidung zu entwickeln. Ob eine Methode einen solchen Vorteil liefert oder nicht, hängt vielmehr von der Benutzerfreundlichkeit und Interaktivität der Software-Implementierung ab als von der Methode selbst. Insofern sollten Entscheider die verschiedenen Angebote testen und überprüfen, ob die Software hilft, die Präferenzen zu reflektieren und zu stabilisieren. Oder sie verzichten gänzlich auf eine Software und quantitative Nutzenauswertungen und belassen es bei einer ganzheitlichen Bewertung der Alternativen auf der Basis einer durch die ersten beiden Schritte abgeleiteten transparenten und gut strukturierten Ergebnismatrix.

4.2 Zum Umgang mit unvollständigen Informationen

Unabhängig vom gewählten Modell ergibt sich immer dann eine eindeutige Entscheidung, wenn alle benötigten Informationen exakt vorliegen. Nicht nur bei der Angabe von Wahrscheinlichkeiten, sondern auch bei verschiedenen Präferenzangaben, wie z. B. genauen Zielgewichten oder Austauschraten zwischen Zielen, ist davon auszugehen, dass Entscheider hiermit Schwierigkeiten haben und deshalb nur Eingrenzungen vornehmen bzw. Intervalle der Parameter spezifizieren. Bei der Bewertung der Alternativen kann das Vorliegen einer unvollständigen Information wie folgt berücksichtigt werden.

Zunächst kann geprüft werden, ob sich unter den gegebenen Eingrenzungen klare Vorteile für einzelne Alternativen geben. Zu diesem Zweck kann absolute oder stochastische Dominanz zwischen Alternativenpaaren überprüft werden. Dies führt jedoch in aller Regel höchstens dazu, dass einzelne (dominierte) Alternative aus der weiteren Betrachtung entfernt werden können.22 Die eindeutig beste Alternative lässt sich hierüber meist nicht finden.

Deshalb müssen in diesem Kontext Methoden herangezogen werden, die die Abhängigkeit der optimalen Entscheidung von den nur unvollständig angegebenen Parametern gut verdeutlichen. Hierzu eignen sich zunächst einfache Sensitivitätsanalysen, in denen der Einfluss einzelner Variablen gut veranschaulicht wird. Ebenso bieten sich Monte-Carlo-Simulationen an, in denen aus der Menge zulässiger Parameterkonstellationen Rangfolgeverteilungen der Alternativen abgeleitet werden können.

Im besten Fall kann der Entscheider kritische Parameter noch genauer identifizieren und stärker eingrenzen, so dass sich klarere Rangreihenfolgen einstellen. Sollte dies nicht gelingen, so gewinnt der Entscheider zumindest ein besseres Verständnis der relativen Vorteilhaftigkeit der konkurrierenden Handlungsalternativen und kann sich auch ohne weitere Modellunterstützung für eine Alternative entscheiden.

5. Das ENTSCHEIDUNGSNAVI

Das Entscheidungsnavi als Softwareunterstützung des Entscheidungsprozesses
Der hier vorgestellte Entscheidungsprozess kann mit den drei Schritten Strukturierung der Entscheidungssituation, Entwicklung eines Wirkungsmodells und Evaluation der Handlungsalternativen zumindest auf einer Metaebene als Leitfaden für eine gute Entscheidung betrachtet werden. Da jedoch viele Teilaspekte in dem Beitrag nur angerissen und nicht detailliert ausgeführt wurden, sollten sich Entscheider bei wichtigen Entscheidungen noch weitere Unterstützung suchen. Dies können zum einen Entscheidungsanalytiker sein, die insbesondere in der Phase der Strukturierung eine wertvolle Hilfe darstellen. Sinnvoll ist aber auch der Einsatz von entscheidungsunterstützender Software, die den Anwender auf dem Entscheidungsprozess konsequent lenkt und in den einzelnen Phasen zielgerecht unterstützt. Der weitaus größte Anteil der angebotenen entscheidungsunterstützenden Software bezieht sich allerdings nur auf die beiden letzten Schritte, wobei sogar mögliche Biases meist gänzlich unberücksichtigt bleiben. Auf Unterstützung im Bereich der Strukturierung, wie das oben angesprochene Value-focused Thinking, trifft man hingegen nur sehr selten.

Das ENTSCHEIDUNGSNAVI23 wurde vor diesem Hintergrund (zunächst als Ausbildungstool für Studierende der RWTH) konzipiert, um genau diesen Entscheidungsprozess auf allen drei Schritten zu begleiten, d. h. von der Strukturierung der Entscheidungssituation auf der Basis eines Value-focused-Thinking-Ansatzes, über die Erstellung einer Wirkungsprognose mit Berücksichtigung der wichtigsten Biasfaktoren aus der verhaltensökonomischen Forschung bis hin zu einer Bewertung, die auch solche Formen der Visualisierung und Interaktion enthält, wie sie für eine Reflektion der Entscheidung notwendig sind. Bis heute (Frühjahr 2019) haben über 800 Studierende an der RWTH Aachen eigene, reale Fragestellungen mit dem Tool vollständig bearbeitet und gelöst, die gesamte Bearbeitungsdauer betrug im Schnitt etwas über acht Stunden. Das Projekt wurde hierbei insgesamt äußerst positiv evaluiert24 Zudem konnte durch das eingeforderte, umfangreiche Feedback der Teilnehmer viel über die inhaltlichen und bedienungstechnischen Probleme im Entscheidungsprozess erfahren werden, was zum jetzigen Zeitpunkt schon zu vielen Verbesserungen in Details des Tools geführt hat und zukünftig auch noch führen wird.

1 Hwang et al. (1980)
2 Eine wichtige Veröffentlichung war z. B. die Darstellung der Prospect Theory in {trackerautoritem trackerId="16" fieldId="103" fieldId2="622" itemId="4259"}) Aktuellere medienwirksamere Publikationen wären {trackerautoritem trackerId="16" fieldId="103" fieldId2="622" itemId="4272"} sowie Thinking, fast and slow von {trackerautoritem trackerId="16" fieldId="103" fieldId2="622" itemId="4260"}
3 Neben dem unten vorzustellenden Ansatz des ENTSCHEIDUNGSNAVI sei an dieser Stelle noch auf den gut fundierten Decision-Quality-Ansatz von Spetzler, Winter & Meyer (2016) mit sechs Teilschritten hingewiesen
4 {trackerautoritem trackerId="16" fieldId="103" fieldId2="622" itemId="10756"}
5 Siehe hierzu Keeney (1996, 2012).
6 Bond, Carlson & Keeney (2008).
7 Siebert & Keeney (2015).
8 Kahneman (2011).
9 von Nitzsch (2017).
10 Zur Übersicht siehe Montibeller & von Winterfeldt (2015)
11 Kahneman (2011).
12 Arkes & Blumer (1985).
13 Svenson (1981).
14 Barber & Odean (2000).
15 Zur Übersicht siehe Montibeller & von Winterfeldt (2015).
16 Schweiger et al. (1986).
17 Zangemeister (1973)
18 Saaty (1977, 1990).
19 Zur ausführlichen Beschreibung siehe Keeney & Raiffa (1976).
20 ELimination and Choice Expressing Reality, zu einer Übersicht siehe Figueira, Mousseau & Roy (2005)
21 Preference Ranking Organization METHod for Enrichment of Evaluations, zu einer Übersicht siehe Brans & Mareschal (2005).
22 Siehe von Nitzsch (2017), S. 173 ff.
23 Das Tool ist im Internet unter www.entscheidungsnavi.de frei zugänglich. Zu einer Fallstudie siehe Siebert & von Nitzsch (2018) und von Nitzsch & Siebert (2018)