Die Mediation soll, so heißt es, sogar geholfen haben, den 30-jährigen Krieg mit dem Abschluss des „Westfälischen Friedens“ zu beenden. Dies soll das erste historische Beispiel einer Mediation gewesen sein, noch bevor es diesen Begriff gab.1 Könnte es sein, dass Mediation den Gedanken des Pazifismus von Grund auf neu beleben und so das Kriegsdenken ganz natürlich in ein Friedensdenken verwandeln könnte?2 Wäre die Mediation dazu in der Lage, würde sie diese Feuerprobe bestehen?
Um das zu beantworten, müssten wir auf unsere Begriffe von Mediation und Krieg tiefer eingehen, als wir das im Alltagsdenken tun. Denn schon die einfache Praxisregel, in der Mediation zwischen Sach- und Emotionsebene zu unterscheiden, wirft die Frage auf: Wie kann Mediation beginnen, wenn es in kriegerischen Konflikten keine echte Sachebene mehr gibt, ja nicht einmal eine Emotionsebene? Die russische Führung nennt zwar Gründe für den Angriff auf die Ukraine. Keiner von diesen Gründen, weder ein einzelner noch alle zusammen genommen, reichen aus, um damit einen Krieg zu erklären. Konflikt und Krieg scheinen durch keine wirkliche Logik verbunden. Im unmittelbaren Kriegshandeln sind auch alle Emotionen aus-geschaltet. Nur die Kriegsfolgen und ihre Begleiterscheinungen lösen die Emotionen wieder aus ihrer Starre. Das durch den Krieg angerichtete Leid wird in seinen Auswirkungen zwar von allen Betroffenen, auch von den Angreifern, wahrgenommen. Doch auf das Kriegsgeschehen hat das keinen Einfluss. Der Krieg ist offenbar ein Zustand außerhalb jeder Begrifflichkeit, unerreichbar für Appelle und immun gegen alles Verstehen.
Aus der Mediation haben wir allerdings auch gelernt, dass Konflikte grundsätzlich nicht auf der gleichen Ebene gelöst werden können, auf der sie entstanden sind. Auch Albert Einstein wird mit diesem Satz gern zitiert. Was ist das für eine andere Ebene? Wie kommen wir da hin?
Betrachten wir den Pazifismus, wie er sich heute präsentiert, so finden wir darin keinen Hinweis, der uns aus der Welt der blinden Aggressionen prinzipiell herausführt. Der Pazifismus reagiert auf Aggressionen, lässt sie selbst aber unberührt. Und wenn diese kriegerischen Aggressionen blind sind und sich offenbar außerhalb jeder Menschlichkeit vermehren, so überrollen sie auch den Pazifisten in seiner ethischen Grundhaltung. Denn sie können diese ethische Grundhaltung in ihrer Blindheit nicht wahrnehmen. Ist da der Pazifismus, wie wir ihn heute kennen, nicht mehr als eine hilflose Geste? Reicht es, wie ein auf den Pazifismus bauender Kirchenmann aus der Ukraine zu berichten weiß, dass sich dort Dorfbewohner unbewaffnet einfahrenden russischen Panzern entgegenstellen, und die Soldaten deren Leben respektieren?
Der Krieg als solcher ist für die Menschen anscheinend ein mystisches Rätsel geblieben, unerklärbar, unlösbar, obwohl er sie seit Urzeiten schicksalhaft begleitet. Unsere Zeit versucht, sich dem Phänomen von Kriegen und Konflikten mit Rationalität, intellektuellem Fleiß, Wissenschaft und Psychologie anzunähern, weicht aber dennoch den tieferen, immer gleichen Ursachen aus. Andere, damit nicht befasste Menschen, geben sich dem Glauben hin, dass es im Schatten einer großen Bedrohung zu einem plötzlichen Erwachen kommt. Beides hat uns dem Ziel, Kriege von den Wurzeln her auszurotten, nicht näher gebracht.
Vielleicht sollten wir es daher einmal anders versuchen. Märchen schenken uns unaufdringlichen Wahrheiten; die wir zu schätzen verlernt haben. Der feuerspeiende Drache, er könnte das treffende Bild für den Krieg darstellen. Der Drache als eine Bedrohung, gegen den anscheinend kein Sterblicher etwas ausrichten kann. Das Märchen hat dafür den Helden eingeführt, den außergewöhnlichen Helden, der über übermenschlichen Mut und Kräfte verfügen sollte. Denn nur ein solcher Held könnte den Drachen besiegen, scheint es uns. Leider haben wir einen solchen Helden nicht. Wir haben nur den Drachen. Wir haben, glauben wir, niemanden, der sich gegen ihn wirklich erhebt oder ihm die Stirn bietet. In unseren Kriegen finden sich keine Helden mehr, die nicht selbst auch Opfer sind. Die Helden unserer Kriege sind ihre schwächsten Opfer: Mütter mit ihren Kindern und die endlosen Trecks der Flüchtlinge. Unser moderner Kriegsdrache hat keinen ernsthaft zu fürchten, keinen, der im zum Rückzug zwingt. Es scheint, er ist allein auf der Welt, und er kann machen, was er will. Es ist vielleicht nicht wirklich die Angst vor dem Sterben, die die Menschen zum Aufgeben bringt. Es ist das Wort "Krieg", das sie erschauern lässt, weil es einen Glauben in seinen Grundfesten erschüttert, nämlich den Glauben an das Leben selbst. Krieg ist Sinnbild für sinnlose, blinde Zerstörung.
Vor diesem Hintergrund haben Märchen und Sagen den Drachen erfunden: Der Drache ist nicht die Bedrohung eines einzelnen Lebens, er ist die Bedrohung des Lebens überhaupt. Die Antikriegspolitik unserer heutigen Verfassungen hat das nicht verstanden. Sie lässt gegen den angreifenden Drachen mehr, bessere, größere Drachen aufmarschieren – noch bessere, noch schnellere, noch effektivere, noch tödlichere Waffen, Flugzeuge und Raketen, - Geld spielt keine Rolle. Sie vergisst dabei, dass jedem Drachen aus dem abgeschlagenen Kopf neue und mehr Köpfe herauswachsen. Ist die Bedrohung durch einen Drachen nicht schon groß genug? Statt diese Gefahr zu erkennen und zu bannen, vervielfachen wir die Gefahren und blicken nur noch in eine Richtung. Wir verschließen uns dem weiteren Raum, in dem dies alles geschieht und verstehbar wäre. Damit nehmen wir uns selbst den Raum, uns zu bewegen, und den Willen, anders zu handeln.
Lesen wir die Märchen nun genauer, stoßen wir darin auf eine versteckte tiefere Botschaft und entdecken, dass das der Held, der schließlich den Drachen besiegt, durchaus kein Übermensch oder gar Heiliger ist. Er ist ein Mensch wie alle, nur jung, mutig, im Vollbesitz aller menschlichen Kräfte und mit dem unerschütterlichen Glauben an die Kraft und die die Intelligenz des Lebens ausgestattet, das nichts anderes braucht als sich selbst und den Glauben daran. Der Drachentöter ist kein Held, der sich feiern lassen will, oder den Märtyrertod erstrebt. Auch wenn er dabei eine Königstochter zur Frau gewinnen will, ist das kein übermenschliches Begehren. Allein weil er seine Kräfte auf das bündelt, was das Leben ihm bedeutet und zur Verfügung stellt, kann er den Drachen besiegen.
Wie aber kann die Mediation den Kampf mit dem Drachen aufnehmen? Mediation ist nicht nur eine Technik oder Methode, mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Mediation ist eine Grundeinstellung zum Leben. Wie unser Drachenkämpfer sieht die Mediation das ganze Leben, nicht nur den Ausschnitt, in dem der Konflikt an sie herangetragen wird. Nur indem sie den Konflikt auf einer anderen Ebene betrachtet, kann sie den Beteiligten helfen, ihn zu überwinden. Dieses Ganze bildet den Raum, in dem er sich praktisch selbst überwindet. Der Konflikt, den die Betroffenen als irrational erleben, ist die Folge des beengten Raums, in dem sie sich befinden. Er hat keine eigene Qualität. Mediation öffnet diesen Raum, der bereits da ist. Die Mediation muss sich nicht um Friedensstiftung bemühen, der Frieden geschieht da-rin von selbst. Mediation ist vollkommen frei in ihrem Handeln, weil sie aus diesem Raumgefühl heraus handelt. Nur so kann die Konfliktlösung zu einer eigenen Lösung der Konfliktparteien werden. Der Mensch, der den Drachen – und wir behaupten hier, auch den Krieg - besiegt, ist einer, der das ganze Menschsein in sich verkörpert, sonst nichts, nichts Phantastisches darüber hinaus. Wir denken heute, wir müssten den Drachen an Gewalt und Zerstörungskraft übertreffen. Nein! Wir müssen nur so sein, wie wir selbst sind, und das Bewusstsein den Glauben an uns bewahren.
Welche Auswirkungen hätte das auf die Idee des Pazifismus?
Ein Pazifismus als Utopie für irgendeine ferne Zukunft nützt uns nichts. Wir brauchen ihn in der Gegenwart: Er sollte in der Lage sein, die Kettenreaktion kriegerischer Gewalt zu unterbrechen, mehr noch helfen, dass Kriege als gesellschaftliche Katastrophe aus der Welt verschwinden. Pazifismus heute bedeutet allenfalls symbolisches Handeln. Die Ethik der Mediation und des Pazifismus scheinen sich sehr ähnlich. Das Problem ist nur, dass Mediation keine Inhalte vorgibt, sondern die Bestimmung der Inhalte den Konfliktparteien obliegt. Hier müssten sich die Kriegsparteien, zumal sie ja häufig verkünden, keinen Krieg sondern Frieden zu wollen, auf eine Friedensabsicht verständigen. Diese könnte in einer Verbindung mit dem Gedanken des Pazifismus durch Mediation realisiert werden. Die Konfliktparteien würden dann sogleich auf der „höheren Ebene“ in die Konfliktlösung einsteigen und nicht auf der Entstehungsebene beginnen. Nur hierin würde sich diese Mediation unterscheiden.
Kehren wir hier zurück zum Bild des Drachens und seines Bezwingers - und stellen uns die Frage: Wie können wir heute anders – weg vom Automatismus der Gewalt - denken? In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie Staatengemeinschaften, bis hin zur Weltgemeinschaft, gemeinsame Anstrengungen zur Abwendung einer globalen Gefahr unternehmen. Über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen kann man streiten und tut es auch. Das ändert nichts an der Tatsache, dass in der Welt im großen Ganzen Einigkeit über die Notwendigkeit eines gemeinsamen Handelns zur Virusbekämpfung herrschte. Das gilt umgekehrt für die Gefahr eines globalen Kriegs jedoch überhaupt nicht, obwohl ein solcher Krieg die ganze Menschheit aus-löschen könnte. Diese Gefahr wird leichtfertig heruntergespielt oder ignoriert, bzw. hinter einem gigantischen Berg weltweiter kriegerischer Aufrüstung versteckt. Dabei übertreffen die Ängste, die der russische Angriff auf die Ukraine bei den Menschen ausgelöst hat, die Ängste im Zusammenhang mit Corona bei weitem und entsprechen durchaus der Vorstellung von einer automatischen Ausweitung des Kriegs mit vernichtenden Folgen die ganze Welt. Warum reagieren die Staaten der Welt und ihre Bewohner nicht mit einer ähnlichen Einsicht zu einem gemeinsamen Handeln gegen die Gefahr der Eskalation von Kriegen, verursacht durch den Glauben an die Allmacht der Waffen, sondern findet sich stattdessen offenbar in einem Konsens, genau das Gegenteil zu tun, und die Menge der Waffen und ihre Zerstörungskraft nur weiter zu erhöhen? Der erste Schritt bestünde darin, die Ursachen auszumachen, wie sie allem Kriegsgeschehen gleichermaßen vorausgehen. Das Kriegsvirus, um in diesem Bild zu bleiben, beginnt sich damit pandemisch auszubreiten, dass man Menschen in verschiedene Gruppen, Klassen und Ideologien aufteilt, von denen einige mehr, andere weniger schützenswert seien. Gruppen von Menschen, die angeblich mit dem eigenen Denken übereinstimmen, und welche, die das nicht tun, also die Andersdenkenden, ohne sich mit diesem Denken näher zu befassen. Was spricht dagegen, alle Menschen grundsätzlich gleich zu behandeln?
Mediation geht von dem Prinzip aus, Unterschiedlichkeit gleich zu bewerten, jede Vorverurteilung oder Pauschalisierung strikt zu unterlassen. Damit wäre eine primäre Kriegsursache ausgeräumt. Die gesellschaftliche Tragweite dieses Ansatzes scheint in der gegenwärtigen Mediationspraxis noch kaum entdeckt. Mediation im Verbund mit einem reformierten Pazifismus könnte ein Beginn sein, Gewalt und so-gar Kriege an der Wurzel zu bekämpfen. Mediation könnte damit zu einer poltischen Kraft werden, die das gesamte gesellschaftliche Denken und Verhalten in einer Weise neu ordnet, dass jeder Mensch dies leicht versteht und selbst in praktisches Handeln umsetzen kann.
Werner Schieferstein
Bild von Josch13 auf Pixabay