Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Konfliktsicht

Die professionelle Bearbeitung von Konflikten erfordert eine fundierte theoretische Basis sowie eine strukturierte und gleichzeitig flexible Methodik. Zwei Ansätze, die sich hierbei in ihrer Tiefe und ihrem Anspruch an Nachhaltigkeit signifikant überschneiden und gegenseitig ergänzen, sind die Integrierte Mediation und das Systemische Arbeiten.

Während die Mediation als strukturiertes Verfahren zur eigenverantwortlichen Konfliktbeilegung gesetzlich verankert ist, bietet die Systemtheorie ein übergeordnetes erkenntnistheoretisches Fundament, welches das Verständnis komplexer Dynamiken erst ermöglicht. Insbesondere die Integrierte Mediation, basierend auf der Kognitiven Mediationstheorie (Trossen, 2024), legt den Fokus auf den Erkenntnisprozess der Konfliktparteien und findet im systemischen Denken einen kongenialen methodischen Partner. Der vorliegende Artikel beleuchtet die zentralen Überschneidungen und Synergien, die sich aus der Verbindung dieser beiden Denkmodelle ergeben, um die Komplexität des Konflikts nicht nur zu verwalten, sondern sie fundamental zu erhellen.

Die Integrierte Mediation als Kognitionsprozess

Die Integrierte Mediation definiert ihren Kern nicht primär über das Ergebnis (die Lösung), sondern über den Weg der Erkenntnis. Diese Perspektive unterscheidet sie maßgeblich von rein verhandlungsorientierten oder rechtlichen Verfahren. Der Konflikt wird hierbei als eine kognitive Blockade der Parteien verstanden, in der ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Kommunikationsmuster in einer Weise fixiert sind, die keine flexiblen oder kreativen Lösungen mehr zulässt.

Zentrale These der Integrierten Mediation: Die nachhaltige Beilegung eines Konflikts ist nur möglich, wenn die beteiligten Individuen durch einen strukturierten Prozess eine neue, differenziertere Sicht auf den Sachverhalt, ihre eigenen Motive (die tiefer liegen als Interessen) und die Dynamik des Geschehens gewinnen. Die fünf Phasen der Mediation dienen in diesem Kontext als gezielte kognitive Übergänge, die zur Reduktion der Komplexität führen.

Das Systemische Axiom: Kontext und Zirkularität

Das Systemische Arbeiten, sei es in Form von Coaching, Beratung oder Therapie, ist in seiner Grundannahme ein wissenschaftstheoretischer Ansatz, der davon ausgeht, dass menschliches Verhalten und menschliche Probleme nur im Kontext ihrer Beziehungen und Systeme (Familie, Team, Organisation) verstanden werden können.

Schlüsselkonzepte des Systemischen Denkens:

  1. Zirkularität: Kausale Zusammenhänge werden nicht linear (A verursacht B) betrachtet, sondern zirkulär (A beeinflusst B, was wiederum A beeinflusst). Dies entlastet von der Schuldzuweisung und öffnet den Blick für Interaktionsmuster.
  2. Konstruktivismus: Die Realität ist kein objektiv Gegebenes, sondern wird von jedem Individuum selbst konstruiert (eigene Landkarte). Konflikte entstehen aus der Kollision dieser unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen.
  3. Streitsysteme und deren Funktion: Das systemische Arbeiten betrachtet den Konflikt nicht nur als Störung, sondern fragt nach seiner Funktion im Gesamtsystem ("Warum will dieser Konflikt nicht gelöst werden?"). Konflikte können zur Aufrechterhaltung der Systemstabilität beitragen, etwa durch die Bindung von Mitgliedern oder die Abdeckung tiefer liegender, ungelöster Strukturprobleme.
  4. Die Synergie: Identifikation und Erhellung von Streitsystemen

Die Interdependenz zwischen Integrierter Mediation und Systemischem Arbeiten manifestiert sich besonders stark in der Konfliktanalyse (die sich konstruktiv durch alle Phasen der Mediation zieht).

Konflikthypothesen als systemische Werkzeuge

Der Integrierte Mediator nutzt – in starker Anlehnung an das systemische Vorgehen – die Bildung von Konflikthypothesen. Dabei geht es darum, die beobachtbaren Streitereien in ein verständliches Muster zu übersetzen.

Vorgehensweise:

  1. Identifikation der Streitsysteme: Der Mediator identifiziert die rekursiven Interaktionsmuster und Kommunikations-Loops, die den Konflikt am Laufen halten. Dies können „Angriff – Rückzug – erneuter Angriff“-Zyklen oder Kommunikationsspiralen sein, die sich ständig wiederholen. Das Streitsystem wird als eigenständige, zu beobachtende Einheit betrachtet. Die Erstellung einer „Konfliktlandkarte“ hilft dem Mediator dabei, Konflikthypothesen zu bilden und die gesamten Interaktionsmuster und Konfliktbeteiligten im Blick zu haben, um so zielgerichtet durch den Prozess zu navigieren.
  2. Beziehungssetzung und Funktion: Es wird analysiert, wie diese Streitsysteme miteinander und mit dem übergeordneten System in Beziehung stehen. Beispielsweise könnte ein Konflikt zwischen zwei Teammitgliedern (Streitsystem 1) die Aufmerksamkeit von einem dysfunktionalen Führungssystem (Streitsystem 2) ablenken, indem er als "Symptomträger" fungiert.
  3. Externalisierung: Die Visualisierung und Benennung der Streitsysteme kann auch den Medianten sichtbar gemacht werden ("Der Konflikt ist jetzt ein eigenes Gebilde – wie würden Sie ihn nennen?"). So werden die Parteien von der Identifikation mit dem Problem entlastet. Das Problem liegt nun zwischen ihnen, nicht in ihnen. Dies ist eine zentrale systemische Intervention.

Die Integration des systemischen Gedankens in die strukturierte Vorgehensweise der Mediation verstärkt die kognitive Entflechtung: Die Parteien erkennen nicht nur was sie streiten (Positionen), sondern wie sie streiten (Muster) und wozu dieses Streiten beitragen könnte (Funktion).

Die Etablierung der Meta-Ebene

Die vielleicht zentralste Überschneidung beider Disziplinen liegt in der Rolle des Vermittlers (Mediator/Systemiker) als Repräsentant der Meta-Ebene.

In der Systemtheorie ist die Meta-Ebene der Beobachterstandpunkt zweiter Ordnung. Der Systemiker tritt bewusst aus dem von den Klienten beschriebenen System heraus, um die Muster und Regeln des Systems sichtbar zu machen.
In der Integrierten Mediation ist die Etablierung der Meta-Ebene in Phase 1 (Initialisierung) ein wesentlicher Schritt. Der Mediator positioniert sich außerhalb des Streitsystems (Prinzips der Indetermination) und schafft das Mediationssystem als reflektierenden Raum.
Der doppelte Meta-Ebene-Gewinn:

  1. Mediator als Meta-Beobachter: Der Mediator behält den Prozess, die Struktur und in gewisser Weise auch den Inhalt (Grundsatz der Informiertheit) im Blick, während die operative Ebene ausschließlich den Parteien vorbehalten ist. Dafür werden sie auch verantwortlich gemacht. Der Mediator lenkt die Wahrnehmung, die Gedanken der Parteien und ihre Kommunikation, um den Erkenntnisprozess voranzutreiben.
  2. Selbst-Reflexion der Parteien: Durch die strukturierten Schritte und gezielte systemische Fragen (zirkuläres Fragen, Skalierungsfragen, Erkenntnisfragen) wird den Konfliktparteien ermöglicht, selbst eine Meta-Perspektive auf ihren eigenen Konflikt und ihr eigenes Verhalten einzunehmen.

Die erfolgreiche Etablierung dieser Meta-Ebene ist die Voraussetzung für den entscheidenden ersten Schritt der Erkenntnis: die Selbsterkenntnis.

Selbsterkenntnis als Nukleus der Konflikttransformation

Die Integrierte Mediation postuliert, dass der erste entscheidende Schritt der Erkenntnis die Selbsterkenntnis ist. Diese sich daraus ergebende kognitive Einsicht ist der Motor der Veränderung und eine tiefgreifende systemische Intervention:

  1. Systemisches Postulat: Man kann andere nicht ändern, aber man kann sich selbst und die eigene Sichtweise verändern. Wenn ein Element (ich) in einem System sein Verhalten ändert, muss das gesamte System darauf reagieren.
  2. Mediative Folge: Wenn ich meinen eigenen Anteil am Streitsystem erkenne ("Aha, meine ständige Rechtfertigung hält seinen Angriff aufrecht"), gewinne ich die Wahlfreiheit zurück, anders zu reagieren. Die Fixierung löst sich auf.

Die Selbsterkenntnis umfasst dabei nicht nur das Verständnis der eigenen Kommunikationsmuster, sondern auch die Klärung der tiefer liegenden Motive und Bedürfnisse. Sie transformiert die starre Position in eine Vision (Nutzenerwartungen), woraus sich flexible und perspektivisch optimistische Handlungsoptionen ergeben. Sie ergeben die am Nutzen orientierte Grundlage für die Phase der Lösungsentwicklung.

Schlussbetrachtung

Aus Sicht des Autors sind die Integrierte Mediation und das Systemische Arbeiten in der professionellen Konfliktbegleitung untrennbar miteinander verbunden. Die Integrierte Mediation bietet den notwendigen strukturierten Rahmen und die kognitionstheoretische Logik, um aus dem Streit zur Erkenntnis zu gelangen. Das Systemische Arbeiten liefert mit seinen Konzepten von Zirkularität, Streitsystemen und der Meta-Ebene die Methodik und Haltung, die es dem Mediator erst ermöglicht, diese komplexen Prozesse zu navigieren und zu entflechten.
Beide Ansätze eint das menschenzentrierte, lösungsorientierte und prinzipiell wertschätzende Menschenbild, das die Autonomie und die Gestaltungskompetenz der Klienten in den Vordergrund stellt. Durch diese fundierte Integration wird Konfliktbearbeitung zu einem tiefgreifenden Transformationsprozess, der weit über die bloße Lösungsfindung hinausgeht und eine nachhaltige Kompetenzentwicklung der Konfliktparteien in ihrem jeweiligen System bewirkt. Die Erhellung des Konflikts ist somit stets eine systemische und kognitive Leistung, die zu guten Entscheidungen und einer besseren Zukunft führt.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die integrierte Mediation in hohem Maße als systemisches Verfahren verstanden werden kann beziehungsweise die Ideen/Methoden der systemischen Arbeit in sich integriert hat. Aus Sicht des Autors ist ein systemisches Verständnis der Mediation dabei nicht nur ein nettes Ad-on, sondern ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer professionellen Mediation. Eine Mediation ohne systemische Grundlagen und einem Fokus auf den Erkenntnisprozess ist sicherlich möglich, bleibt aber deutlich hinter den Möglichkeiten zurück, die die Mediation bieten kann.

Jan Oberdieck, Systemischer Coach & Mediator (M.M.)


Bild von Holzijue von Pixabay mit Portrait von Jan Oberdieck montiert