In der Geschichte menschlicher Zivilisation galt die Vernunft lange als Leitprinzip des Fortschritts. Die Aufklärung erhob sie zum Fundament einer freien und selbstbestimmten Gesellschaft. Philosophen wie Immanuel Kant definierten Vernunft als die Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Ein Anspruch, der Menschen aus Unmündigkeit und Willkür befreien sollte. Der Gedanke geht mit der humanistischen Psychologie einher und kommt der Mediation nahe. Heute, im Zeitalter beispielloser Informationsdichte und ungeahnter technologischer Möglichkeiten, wird dieser Anspruch mehr und mehr in Frage gestellt. Die Leitung durch Andere ist nicht mehr klar erkennbar. Wer weiß noch was real ist und was nicht, wenn die künstliche Intelligenz Bilder und Videomaterial liefert, das von der Realität nicht mehr zu unterscheiden ist. Wenn das Narrativ die Realität verdrängt. Wenn die Werbung so präsent ist, dass sie den Konsum über die Zufriedenheit stellt und wenn die Propaganda so anmaßend geworden ist, dass sie jeden Anstand leugnet.

Wo ist da noch Raum für Vernunft?

Ja, es gibt sie noch. Man muss nur danach suchen. Anders als die manipulative Kommunikation der Propaganda drängt sie sich nicht auf.1 Sie ist leise und unspektakulär. Vernunft ist kein Gegenstand von Werbung oder Propaganda. Wäre sie es, würde sie beides entwerten. Im Zweifel auch sich selbst. Würde die Vernunft dennoch beworben, muss ihre Botschaft lauten, nicht auf die Werbung zu hören, nicht auf die Propaganda hereinzufallen und vorsichtig mit Meinungen umzugehen, die nicht auf erwiesene Fakten zurückzuführen sind. Der reißerische Slogan könnte lauten:

Belegt oder belanglos!

Überzeugt das? Stellen Sie sich vor, der Slogan würde auf T-Shirts stehen, in Memes kursieren, in Songs und Serien zitiert werden. Nachrichtenmoderatoren würden ihn am Ende von Berichten aufsagen, Schüler würden ihn aus Spaß auf dem Pausenhof rufen, und er würde zu einer Art Reflex werden, sobald jemand eine unbelegte Behauptung äußert. Gesellschaftlich hätte das zur Folge, dass kritisches Denken zum sozialen Standard wird. Werbung und Propaganda würden ihre Wirkung verlieren, weil Sie automatisch hinterfragt und dahingehend überprüft würden, was faktisch untermauert ist. Der Slogan würde wie eine gesellschaftliche Impfung gegen Manipulation wirken – so allgegenwärtig, dass man ihn gar nicht mehr erklären müsste.

Leider hat niemand ein Interesse an dieser Art von Impfung. Besonders die Verwender würden nicht wollen, dass ihr Einfluss verloren geht. Aber auch unter den Konsumenten finden sich Impfgegner. Die Psychologie liefert Erklärungen. Kahneman beschreibt, wie das schnelle, intuitive Denken das langsame, analytische Denken, überlagert.2 In einer Kultur der Geschwindigkeit dominiert die Denkweise, die auf Vereinfachung, Emotion und unmittelbare Reaktionen setzt. Das sind genau jene Faktoren, die der Beeinflussung Tür und Tor öffnen und Vernunft im Wege stehen. Wer keine Meinung hat, ist verdächtig, wer die falsche Meinung hat, ist feindlich. So einfach ist die Welt jenseits der Vernunft. So schnell beginnen Feindschaften.

Sowohl die Informationsökonomie wie auch die Social-Media-Algorithmen verstärken den Effekt. Sie lenken die Aufmerksamkeit nicht auf die inhaltliche Qualität, sondern auf Reizwerte und Klicks. Framing hilft, wenn es darum geht, Eindrücke unauffällig zu verschleiern. In der Summe trägt es dazu bei, dass Bedeutungen verloren gehen. Was ist heute noch eine Freundschaft, wenn sie sich nicht in Klicks bemerkbar macht?

Gesellschaftstheoretisch beschreibt Habermas, wie der öffentliche Diskurs durch strategische Kommunikation unter einem zweckgerichtetem Einfluss zunehmend verdrängt wird.3 Die Vernunft, verstanden als herrschaftsfreier Diskurs, verliert an Raum, wo kommunikative Arenen durch Polarisierung, moralische Aufladung und populistische Vereinfachung strukturiert werden. Arendt warnte ebenfalls vor einer „Verwischung der Grenzen zwischen Fakt und Meinung“, weil sie langfristig das Fundament demokratischer Entscheidungsfindung untergräbt.4

Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum Vernunft im öffentlichen Raum kaum mehr als Maßstab gilt. Sie ist langsam, differenziert, voraussetzungsvoll und gefährlich – alles Eigenschaften, die im Wettbewerb um mediale Sichtbarkeit wenig zählen. Zu allem Überfluss erschweren sie auch die Überzeugungsarbeit. Emotionale Trigger brauchen keine Gründe. Vernünftige Argumente hingegen lassen sich nicht in Sekunden erfassen und nicht auf emotionale Parolen reduzieren, ohne ihre Substanz zu verlieren. Die Folge: Vernunft bleibt ungenutzt. Sie ist zu kompliziert. Sie wird überhört, weil sie nicht laut genug ist. Sie wird übersehen, weil sie nicht auffällig ist.

Muss Vernunft unvernünftig sein?

Die Frage drängt sich auf, wenn es um die Verbreitung der Vernunft geht. Es geht um mehr, als um rhetorische Schärfe. Es geht um die Frage, ob die Vernunft das Terrain der Unvernunft betreten muss, um gehört zu werden. Immerhin muss sie dort einen Anknüpfungspunkt finden, wenn sie wirken will. Muss sie sich jetzt den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie unterwerfen und soll sie zur Marktschreierin ihrer eigenen Werte werden, damit sie überhaupt gesehen wird?

Das Problem liegt auf der Hand. Es braucht Vernunft, um Vernunft zu erkennen. Wer sich zu sehr anpasst, verliert genau jene Integrität, die er bewahren will. Eine Vernunft, die zur Show wird, verwandelt sich in Rhetorik. Sie läuft Gefahr, nicht mehr als das erkannt zu werden, was sie ist. Vernunft muss sich selbst anwenden, um sich zu schützen. Sie muss ihre Grenzen erkennen und den Anspruch verteidigen, die beste Methode zur Wirklichkeitserschließung zu sein. Ihr größter Feind ist übrigens nicht die Dummheit. Ihr größter Feind ist die Selbstzufriedenheit – der Glaube, man sei bereits vernünftig genug und wisse ohnehin alles besser. Mit diesem Feindbild korrigiert sich auch die Vorstellung der woken Gesellschaft, die sich über Andersdenkende hinwegsetzt, indem sie ihnen das Etikett der Dummheit aufdrückt. Die Vernunft geht verloren. So oder so. Es ist paradox.

Die Alternative wäre, in der Stille zu verharren. Doch die Stille birgt ebenfalls die Gefahr, dass die Vernunft verloren geht. Sie bleibt ungesehen. Wie aber kann Vernunft wirken, wenn die Kanäle, durch die sie sich verbreiten könnte, von Gefolgschaft, Polemik und Geschrei belegt sind. Vielleicht lohnt der Blick auf die Strukturen, in denen Vernunft nicht nur als Ideal beschworen, sondern als Methode gelebt wird.

Genau an diesem Punkt kommt die Mediation ins Spiel.

Warum ist die Mediation ein Ausweg?

Die Mediation ist gelebte Vernunft. Sie schafft einen Rahmen, in dem Positionen nicht gegeneinander ausgespielt, sondern auf ihre Hintergründe und Bedürfnisse zurückgeführt werden. Die Mediation kann jeden Streit in eine Auseinandersetzung verwandeln. Sie kann ihm die Vernunft zurückgeben. Das geschieht völlig lautlos, oft unbemerkt aber umso effizienter.

Jeder Streit erschwert die Auseinandersetzung. Seine Hitzigkeit führt die Streitparteien genau dort hin, wo die Polemik ihren fruchtbaren Boden findet. Die Mediation verlagert das Terrain des Streitens. Sie führt den Streit dorthin, wo die Vernunft eine Chance hat. Sie zwingt zum Zuhören – nicht um zu antworten. Sie will verstehen. Und was noch besser ist, sie stellt die dafür erforderliche Metaebene zur Verfügung. Das ist die gedankliche Sphäre, ohne die Vernunft nicht funktionieren kann. Man könnte also sagen, die Mediation ist ein Garant für die Vernunft und deshalb sicher auch ein Ausweg.

Mehr und mehr wird der Bedarf für eine ausgewogene Auseinandersetzung auch im politischen und gesellschaftlichen Umfeld erkannt. Deliberation heißt das neue Schlagwort.5 Das Modell der deliberativen Demokratie will politische Entscheidungen
über Prozesse öffentlicher Kommunikation erreichen, an der alle Teile der Gesellschaft und der Öffentlichkeit erreicht werden.6 Die Mediation, die das methodische Werkzeug dafür liefern könnte, wird eher in den privaten Kontext der Konfliktarbeit gestellt. Übersehen wird, dass zumindest die auf der kognitiven Mediationstheorie beruhende Mediation den Erkenntnisprozess nach vorne stellt. Er entfaltet universelle Wirkungen. Er stellt die Kompetenz der Mediation heraus, einen Diskurs zu ermöglichen, der Lösungshindernisse überwindet, um die Nützlichkeit der zu treffenden Entscheidung jenseits des Kompromisses zu garantieren.

Der Prozess ist außerordentlich effizient. Er ist ebenso lautlos wie die Vernunft aber leider auch recht unbekannt. Trotzdem könnte die Mediation der Vernunft auf die Sprünge helfen, so wie die Vernunft umgekehrt auch der Mediation auf die Sprünge helfen könnte, wenn sie zur Anwendung kommt. Das klingt wie ein Dilemma. Das Dilemma drückt sich in der Diskrepanz zwischen Effizienz und Außenwahrnehmung aus.7 Mediation ist still. Sie verzichtet auf symbolische Siege, auf Inszenierung, auf das schnelle Urteil. Ihr Erfolg zeigt sich in vertraulichen Prozessen und Ergebnissen und einer Magie, die sich dem Beobachter entzieht und dementsprechende Ungläubigkeit hervorruft, was wiederum der Verbreitung schadet.

Damit steht die Mediation vor demselben Dilemma wie die Vernunft. Soll sie, um Aufmerksamkeit zu erlangen, lauter werden? Soll sie Konfliktgeschichten dramatisieren, um zu zeigen, wie sie gelöst wurden? Oder würde sie sich damit selbst verraten? Wahrscheinlich liegt die Antwort ganz woanders. Weder in den Argumenten, von denen sich die Emotionen nicht überzeugen lassen, noch in den Emotionen, die nicht denken können, sondern im Nutzen, wo alles zusammen kommt.

Die Mediation als Garant für den Nutzen.

Der Kontrast beginnt in der Andersartigkeit. Die Mediation bedient ein anderes Denken. Das muss man nicht erklären. Es wird an der Haltung erkennbar. An Taten, nicht am Geschrei. Die Mediation kann ihre Wirkung entfalten, indem sie präsent wird, wo Lautstärke keinen Vorteil verschafft – in Entscheidungsprozessen, in Bildungskontexten, in der stillen, aber nachhaltigen Arbeit mit Menschen, die Konflikte nicht nur verdrängen, sondern verstehen wollen.

Das erfordert Geduld und die Bereitschaft, auf schnelle Reichweite zu verzichten. Aber es entspricht dem Wesen der Vernunft, langfristig zu denken und auf Stabilität statt auf Effekte zu setzen. So wie Kant Vernunft als Fähigkeit definierte, „sich in jedem Zeitpunkt so zu entscheiden, dass die Maxime des Handelns allgemeines Gesetz werden kann“, so handelt die Mediation nicht nach dem Maß der Lautstärke, sondern nach dem Maß der Gültigkeit und Fairness.

Vielleicht ist dies der eigentliche evolutive Wert der Mediation: Sie ist eine gelebte Form der Vernunft, die aus der Stille heraus wirkt. Nicht, weil sie schweigend bleibt, sondern weil sie auf jene leise, aber tragfähige Stimme setzt, die sich nicht dem Lärm anpasst, sondern ihm standhält. In einer Welt, die immer schneller, lauter und ungeduldiger wird, ist das kein Nachteil – es ist ein Alleinstellungsmerkmal. Die Stille der Vernunft ist kein Mangel, sondern eine Qualität. Und die Mediation könnte der Ort sein, an dem wir lernen, sie wiederzuhören.

Arthur Trossen


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