Kriterien des Kindeswohls
Die kindliche Persönlichkeitsentwicklung als Maßstab
In familiengerichtlichen Verfahren, in denen Kinder betroffen sind, spielen stets die Kriterien für das „Wohl des Kindes“ eine entscheidende Rolle. Der Gesetzgeber fordert, Entscheidungen am "Wohle des Kindes" zu orientieren, ohne dass aber eine verbindliche Definition vorliegt, was darunter zu verstehen sei. Daher werden unter diesem Begriff zumeist eher subjektive Ansichten subsumiert, die aus persönlicher Erfahrung und/oder der Intuition hervorgehen.
Aber nur wenn wirklich fundierte Kriterien des Kindeswohles hergeleitet werden können, kann auch ebenso fundiert eine Kindeswohlgefährdung festgestellt werden. Es ist daher unerlässlich, objektive Kriterien des Kindeswohles herzuleiten; als Grundlage dafür muss zunächst die Frage beantwortet werden, unter welchen Bedingungen sich Kinder gesund entwickeln und ihre Persönlichkeit optimal entfalten können; die Persönlichkeit ist das „Instrument“, mit dem sie sich lebenslang mit der Umwelt auseinandersetzen werden.
Es werden daher in komprimierter Form der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und deren Bedingungen dargestellt und dann mit den tradierten Kriterien für das Kindeswohl in Beziehung gesetzt. In der Rechtsprechung sind die „klassischen“ Kriterien, mit denen der Kindeswohlbegriff untersetzt wird:
- der Kontinuitätsgrundsatz,
- der Förderungsgrundsatz,
- die Bindungen des Kindes,
- die Erziehungsfähigkeit der Eltern,
- der Kindeswille.
Auch diese spezifizierten Maßstäbe zur Beurteilung des Kindeswohles schließen eine inhaltlich weitgehend beliebige Verwendung nicht aus. Um zu wirklich begründeten Entscheidungen kommen zu können, müssen diese Maßstäbe in Beziehung gesetzt werden zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über kindliche Entwicklung und allgemein über die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen. Werden die im Namen des Kindeswohles erhobenen Forderungen nicht auf diese Weise hergeleitet, bleiben sie beliebig.
Das unten dargestellte „Modell“ beschreibt zunächst die allgemeinen Prinzipien kindlicher (menschlicher) Persönlichkeitsentwicklung und integriert darin den aktuellen psychologischen Erkenntnisstand, dann werden die oben genannten Kriterien auf das vorgestellte Modell bezogen. Auf diese Weise ergibt sich ein Maßstab, anhand dessen sich Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung eindeutig beurteilen lässt. So können auch die Handlungsweisen von Eltern eindeutig auf definierte Kriterien bezogen werden. Es wird eindeutig unterscheidbar, welche Handlungsweisen von Eltern zum Wohle ihres Kindes sind und welche Schäden daran herbeiführen.
1. Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung
Kindliche Entwicklung ist keine absolute Größe. Ihre Bedingungen haben sich im Laufe der Menschheitsgeschichte ständig verändert und weiterentwickelt, sie war stets historischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen unterworfen.
Kinder werden „unreif“ geboren und sind bei der Geburt zu 100 Prozent abhängig von versorgenden Personen. Die Dauer dieser Phase der Unreife, damit auch der besonderen Formbarkeit des Individuums, ist bei den menschlichen Nachkommen gegenüber anderen „Primaten“ und allen anderen bekannten Formen „tierischen Lebens“ extrem lang: bis ein Kind körperlich „reif“ geworden ist und sich zu einem vollwertigen, eigenverantwortlich handelnden Mensch in der Gesellschaft entwickelt hat, vergehen ca. 1
½ bis 2 Jahrzehnte. Dann erst erfolgt der Eintritt in das Erwachsenenalter und die bis dahin bestandene (Versorgungs-) Abhängigkeit sollte aufgehoben sein. Mit gesellschaftlichen, oft religiös konnotierten Ritualen (wie Firmung, Konfirmation etc. oder der Jugendweihe als nicht religiöses Pendant) werden traditionell Jugendliche in Erwachsenengemeinschaften aufgenommen.
Rechtlich stellt das Alter der „Volljährigkeit“ eine gesellschaftliche Konvention dar, ab wann eine Person in der Gemeinschaft als eigenständig betrachtet wird, und ihm erlaubt und abgefordert wird, auf „eigene Rechnung“ zu handeln. Das autonome Handeln eines Individuums gelingt dann, wenn sich die Persönlichkeit hinreichend entfaltet hat. Nur dann handeln Menschen selbstbewusst und können aktiv ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen. Mit anderen Worten: ob die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit gelungen ist, stellt sich erst dann heraus, wenn das Individuum selbständig in der Gesellschaft bestehen muss! Die Fürsorge der betreuenden Personen besteht somit nicht nur aus der jeweils aktuellen Versorgung der kindlichen Bedürfnisse, sondern auch in der Unterstützung ihrer Persönlichkeitsbildung.
Ob dass gelungen ist, zeigt sich jedoch erst nach der Fürsorgephase, wenn der Eintritt in das Erwachsenenalter erfolgt. Die Persönlichkeit ist der im gesellschaftlichen Handeln sichtbar werdende Ausdruck des Selbstverständnisses des Individuums, seiner Identität. Wenn in der Kindheit bzw. Jugend eines Individuums Bedingungen vorlagen, die zu Störungen der Identitätsentwicklung geführt haben, so werden diese erst viele Jahre später als „Persönlichkeitsstörung“ evident. Gerade in Trennungs- und Scheidungssituationen von Eltern werden oft Bedingungen – zumeist aus Unwissenheit – hergestellt, die auf den ersten Blick zu vorteilhaften Reaktionen der Kinder führen und somit dem Kindeswohl zu dienen scheinen, die aber zu massiven Spätfolgen im Erwachsenenleben führen. Dieser (scheinbare) Widerspruch wird dann verständlich, wenn man die zwei elementaren Ebenen der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern betrachtet, die ganz grundsätzlich unterschieden werden müssen:
- Die Versorgungsbeziehung (oder „Fürsorgebeziehung“)
- Die Identitätsbeziehung
A. Die Versorgungsbeziehung
Die Anforderungen an eine Versorgungsbeziehung können grundsätzlich in drei Bereiche differenziert werden:
- die materielle Versorgung,
- die emotionale Versorgung,
- die Entwicklungsförderung.
Materielle Versorgung bedeutet, dass Nahrung und Kleidung, Wohnraum, Hygienemittel etc., zur Verfügung gestellt werden. Dieser Aspekt ist in unserer Gesellschaft in den meisten Fällen auf ausreichend hohem Niveau möglich. Solange insgesamt eine fürsorgliche Haltung eines Betreuenden besteht und eine Grundversorgung gewährleistet ist, ist die kindliche Entwicklung sehr tolerant gegenüber Unterschieden im Niveau der materiellen Versorgung. Mängel in der materiellen Versorgung sind oft eher Indikatoren einer generell eingeschränkten Fürsorgebeziehung, wie sie in Fällen von Verwahrlosung von Kindern zu beobachten sind.
Emotionale Versorgung beinhaltet körperliche und emotionale Zuwendung, Verfügbarkeit, Empathie, Zuverlässigkeit (Eindeutigkeit), Autorität etc. Je stabiler und vertrauensvoller die Beziehung ist, die ein Kind in einer emotionalen Versorgungsbeziehung erlebt und selbst aufbaut, desto besser gelingt ihm die Hinwendung zu seiner Umwelt und damit die Entfaltung seiner Fähigkeiten, der Erwerb von Wissen über die Umwelt etc. Emotionale Sicherheit und Explorationsverhalten sind die zwei Seiten einer Medaille (näheres dazu unter Punkt „Kontinuität“). Die Ergebnisse der Bindungsforschung belegen die immense Bedeutung gerade frühkindlicher, sicherer Bindungen für das ganze weitere Leben.
Entwicklungsförderung bedeutet, ein Kind in seinen Fähigkeiten und Talenten zu fördern, diese zu erkennen und Mittel zu ihrer Förderung bereitzustellen. Alle drei aufgeführten Versorgungsbereiche treten in Wechselwirkungen miteinander: das Erkennen der Entwicklungspotentiale eines Kindes und besonders eine persönlichen Förderung braucht eine emotionale Beziehung, es bedarf aber auch der Bereitstellung materieller Bedingungen, um ein Kind zu fördern, z.B. Spielzeuge, Förderunterricht usw. Wie bedeut5
sam das Wechselspiel zwischen emotionaler Versorgung und Entwicklungsförderung ist, wird weiter unten ausgeführt. Für die Versorgungsbeziehung gilt jedoch: es ist nicht zwingend erforderlich, dass diese Beziehung durch die Eltern sichergestellt wird. Pflege- oder Adoptiveltern können in bestimmten Fällen sogar bessere Bedingungen in allen drei Aspekten bereitstellen, als die Eltern selbst. Wozu aber braucht ein Kind dann die Eltern?
B. Die Identitätsbeziehung
Wenn ein Kind geboren wird, entwickelt bzw. „erfindet“ es das Menschsein nicht neu. Vielmehr beginnt es sein Leben auf einem Stand des "Menschseins", den alle seine Vorgenerationen bis zum Zeitpunkt seiner Geburt geschaffen haben. Dieser Stand beinhaltet ein erfolgreiches Überlebensmodell in der Auseinandersetzung der Menschen mit Ihrer Umwelt, bzw. der Natur. Schon die blanke Existenz eines Kindes belegt, dass dieses Überlebensmodell bisher erfolgreich war! Persönlichkeitsentwicklung findet also statt, indem das Kind lernt, spezifische (Über-)Lebensmodelle – im weiteren „Programme“ genannt –selbstständig auf seine eigene, aktuelle, gesellschaftliche und natürliche Umwelt anzuwenden.
Die „Programme“ beinhalten also immer eine historische Dimension. Sie stellen die gesammelten Erfahrungen der vorausgegangenen individuellen Auseinandersetzungen der Familien und Familienangehörigen mit deren Umwelt dar und stellen sie (abstrahiert) zur Verfügung. Man könnte denken, das „Programm“ des Kindes entwickele sich, indem das Kind die Programme seiner betreuenden Personen lernend übernimmt. Wenn dem so wäre, dann wäre ein Kind von beliebigen Bezugspersonen "frei programmierbar“. Ein solcher Programmierungsvorgang ist aber – zumindest in unserer Kultur und in unserer Gesellschaft – nicht vorgesehen. Vielmehr wird in unserer Gesellschaft diese Rolle den Eltern übertragen. Das Kind wird aufgrund eines allgemeinen gesellschaftlichen Konsenses mit den Eltern und mit deren Programmen identifiziert. Das Kind hat weder die Möglichkeit, sich seine Eltern auszusuchen, noch hat irgendeine andere Person die Möglichkeit, die Eltern des Kindes frei zu bestimmen. Gleichzeitig haben die Eltern nicht die Chance, ihre Elternschaft ungeschehen zu machen. Als Folge davon wird ein Kind passiv, ohne aktives Zutun, auf die elterliche Programmatik festgelegt. Die Identifizierung des Kindes mit den Eltern und ihren Programmen geschieht unabhängig davon, ob Eltern und Kind einen unmittelbaren Kontakt haben, sie ist beziehungsunabhängig.
In der Regel, wenn das Kind bei den Eltern lebt, findet die Übernahme elterlicher Programme durch das Kind und die Zuordnung des Kindes zu diesen Programmen durch die Umwelt in einer untrennbaren Einheit statt. Die Beziehung, durch die das Kind seine Identität vermittelt bekommt (die „Wurzeln seiner Persönlichkeit“) und die Versorgungsbeziehung fallen hierbei zusammen. Der Identifizierung des Kindes über eindeutige Eltern muss noch weitere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der Begriff "Eltern" repräsentiert nicht etwa ein einheitliches Überlebensmodell bzw. ein einheitliches Programm, vielmehr stellen Vater und Mutter jeweils eigenständige Personen dar, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Unsere Kultur geht von der Fortführung einer individuellen persönlichen Identität von Mann und Frau aus, wenn sie gemeinsam ein Kind haben und eine Familie bilden. Folglich ist ein Kind nicht einem, sondern zwei voneinander unabhängigen Programmen zugeordnet und darüber identifiziert. Hinzu kommt, dass beide Programme sich bisher als erfolgreich erwiesen haben, obwohl sie zu unterschiedlichem Verhalten bei durchaus gleichen oder ähnlichen Umweltanforderungen führten - da Vater und Mutter ja eigenständige Personen sind, müssen sie sich zwangsläufig in ihrem Verhalten unterscheiden. In der konkreten Situation stehen damit dem Kind zwei erfolgreiche, gleichwertige, aber sich gegenseitig ausschließende Modelle zur Verfügung. Der entstehende Gegensatz ist nicht auflösbar, er ist ein bleibender, die Persönlichkeit bestimmender "dialektischer" Widerspruch, der in einem Prozess andauernder Synthese eine neue „Qualität“ der Persönlichkeit des neuen Individuums hervorbringt.
Persönlichkeit ist in unserer Kultur die aus den je väterlichen und mütterlichen Programmen im Handeln neu entstehende Einheit des „Programms“ einer Person. Identität ist das Ergebnis einer Synthese.
Persönlichkeit entsteht nur im Verhalten, d.h. in einer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt, in der die Person lebt. Wenn keine Informationen aus der Umwelt zu verarbeiten wären, kämen die Programme der Ursprungssysteme gar nicht erst zum Einsatz. Das väterliche und das mütterliche Programm (von V und M) bilden also in der Person eine dialektische Einheit, die im Verhalten ständig neu entsteht und die in einem permanenten Prozess der Auseinandersetzung mit der Umwelt die neue Persönlichkeit formt. Dieser dynamische Prozess wird als Synthese bezeichnet.
Folgende Analogie kann zur Veranschaulichung dienen: biologisch entwikkelt sich das Individuum zu je 50% aus den genetischen Programmen (bzw. „Bauplänen“) von Vater und Mutter. Stehen ausreichend „Lebensmittel“ (die materiellen „Bausteine“ durch Aufnahme über Nahrung und Atmung, d.h. durch Stoffwechsel mit der Umwelt) zur Verfügung, so entwickelt sich in einem ständigen Prozess der Synthese mütterlicher und väterlicher Erbinformationsprogramme das neue Individuum mit einer neuen, individuellen körperlichen Erscheinung (der neue „Phänotyp“ bzw. die neue Qualität). Dieser Syntheseprozess erfolgt in ständiger, „dialektischer“ Wechselwirkung mit den Umweltbedingungen. Ist die Information eines der beiden Programme unvollständig oder schadhaft, kommt es zu (oft sehr einschneidenden) Beeinträchtigungen in der Entwicklung, gleichgültig, welches der Programme unvollständig ist. Das neue Individuum entwickelt sich nur unvollständig oder fehlerhaft.
Da die Entwicklung der Persönlichkeit einen analogen Prozess durchläuft (Synthese der elterlichen Programme in Wechselwirkung mit der Umwelt), wird schnell einsichtig, warum der ungehinderte Zugang zu beiden Programmen der Eltern von so besonderer Bedeutung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist! Die Schäden in der Persönlichkeitsentwicklung entwickeln sich ganz analog zu den körperlichen Folgeschäden bei einer beeinträchtigten Synthese der Erbinformationen. Persönlichkeitsentwicklung ist ein langer Prozess der Individuation. Stabilität und Richtung entstehen einerseits aus der Verankerung bzw. "Verwurzelung" im Ursprungssystem, zum anderen aus der Notwendigkeit, einen höheren Komplexitätsgrad des eigenen Überlebensprogramms im Vergleich zur Elterngeneration zu entwickeln. Beides sind Vorgaben, die keine Ausnahmen erlauben.
Struktur und Inhalt
In der Persönlichkeit verbinden sich Struktur- und Inhaltskomponenten zu einer Einheit. Die Strukturelemente bestehen aus je einem Vater- und Muttersystem, die wiederum je ein Vater- und Muttersystem enthalten, usw. Die Strukturvorgabe beinhaltet weiterhin, dass Vater- und Muttersysteme unabhängig von ihren Inhalten in der Persönlichkeit des Kindes zu einer Synthese finden. Dies schließt aus, dass nur eines der beiden Ursprungssysteme fortgesetzt werden kann oder sogar eines der beiden nur dann überleben kann, wenn das andere nicht überlebt. Trotzdem kann es in der Person zu einem solchen „Antagonismus" kommen. Der Hintergrund dafür ist ein Strukturphänomen, das wir Doppelung nennen.
Von einer Doppelung sprechen wir dann, wenn eine der Rollen, über die das Kind ursprünglich identifiziert wird, mit mehr als einer Person besetzt ist, obwohl die Kultur eine einmalige Besetzung vorsieht. Wie bereits erwähnt, ist in unserer Kultur ein Kind über einen Vater und eine Mutter identifiziert. Zur Identifizierung hat das Kind nicht nur Vater und Mutter, sondern es braucht Vater und Mutter.
In der Lebenspraxis kommt es nicht selten zu Abweichungen von dieser Sollvorschrift. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Tod eines Elternteils und Wiederheirat, voreheliche Zeugung und Heirat eines anderen Partners, Scheidung/Trennung und Neuverbindung, usw. Alle diese Konstellationen können zur Folge haben, dass die Rolle des Vaters oder der Mutter eines Kindes doppelt (oder sogar mehrfach) besetzt wird. Dieser Fall ist aber in unserer Kultur bezüglich der Identifikation eines Kindes (einer Person) nicht vorgesehen. Dass darin eine besondere Problematik liegt, spiegelt sich unter anderem in unserer Mythologie wieder; bekannte Beispiele finden sich in den Märchen. Die dort häufig auftauchenden „Stiefmütter“ sind grundsätzlich böse. Es wird immer ein Existenzkonflikt zwischen Kindern und Stiefmutter beschrieben. Woraus resultiert dieses Kulturphänomen?
Die Soll-Identifizierung einer Person lässt sich in unserer Kultur wie folgt darstellen:
(Kind) K resultiert aus der (dialektischen) Verbindung von M (Mutter) und V (Vater)
Im Falle einer Doppelung ergibt sich z.B. die folgende Konstellation
Das aus der Verbindung von leiblichem Vater (V1) und Mutter (M) entstandene Kind (K) habe einen Stiefvater (V2) erhalten.
K verbindet in sich ursprünglich M und V1.
Durch Hinzuziehen von V2 ergibt sich die Verbindung
Man könnte davon ausgehen, dass etwa V2 komplett an die Stelle von V1 tritt (wenn z.B. das Kind noch sehr klein ist und den Vater V1 nicht gekannt hat). Dies ist jedoch nicht der Fall, da V1 für das Kind nicht einfach eine physisch existente Person, sondern (auch) Programm ist. Dieses Programm existiert auch dann weiter, wenn die Person selbst für das Kind nicht mehr physisch existent ist. Das bedeutet V1 ist in jedem Fall parallel zu V2 vorhanden, auch dann, wenn V1 – aus welchen Gründen auch immer – gegenüber dem Kind „totgeschwiegen“ wird. Man kann V2 zwar verschweigen, aber man kann ihn nicht nicht kommunizieren! Das Schema muss also wie folgt erweitert werden:
Das Kind hat zwei komplette Persönlichkeitsprogramme. Dies widerspricht der kulturellen und gesellschaftlichen Norm, ein einfacher (sprich: eindeutiger) Mensch, eine einheitliche Person zu sein. Diese Norm kommt z.B. in der alltäglichen Frage: Wer ist denn dein richtiger Vater? zum Ausdruck. Das Kind sieht sich damit mit einer für es selbst existentiellen Frage konfrontiert: Es soll entscheiden, wer der richtige Vater, also der Vater ist. Es soll damit einen Vater nicht existieren lassen (verleugnen oder sogar abtöten). Da V1 und V2 aber nicht nur physisch existente Personen, sondern Programme im Kind selbst sind, muss das Kind zwischen sich selbst und sich selbst, also zwischen seinen eigenen Existenzen entscheiden!
Genau damit entsteht aus der Struktur ein Antagonismus der Inhalte bzw. ein Antagonismus der Persönlichkeiten in der Person. Antagonismus bedeutet in diesem Zusammenhang ein Entweder – Oder, sowohl von Programmen als auch von Personen, nämlich V1 und V2. Voraussetzung für die Existenz von V1 ist die Nichtexistenz von V2 und umgekehrt. Die Widerspiegelung genau dieses Phänomens findet sich im Märchen bei der „bösen Stiefmutter“. Unsere Kultur zeigt sich bis heute unfähig, Märchen mit einer „guten Stiefmutter“ zu erfinden. So wie es hier beschrieben wurde, ist der Antagonismus im System der Persönlichkeit ein „Struktur – Dilemma“, das aus der kulturellen Norm resultiert. Wie äußert sich der Antagonismus in der Person? Er führt zu einer Nicht- Einheitlichkeit, zu einer Nicht-Festlegung der Person in einer eindeutigen Form, häufig auch zu einem destruktiven Kampf der Person mit sich und gegen sich selbst. Dieser destruktive Kampf wird auch auf die Beziehungen zu anderen Personen übertragen und beinhaltet Partnerschaftsformen, wie schon weiter oben beschrieben. Aufgrund unserer Beobachtungen können wir davon ausgehen, dass sich der Antagonismus in eben den Programm-Inhalten und Strukturen manifestiert, die V1 und V2 voneinander unterscheiden. Dabei ist festzustellen, dass je weniger die Inhalte voneinander zu unterscheiden sind, umso mehr die ganze Persönlichkeit von der existentiellen Negation betroffen ist. Eine dementsprechende „Persönlichkeits-Störung“ finden wir z.B. in der Schizophrenie.
Die Praxis zeigt weiterhin, dass der Antagonismus sich in seiner destruktiven Wirkung steigert, wenn er abstrakt geworden ist, wenn er also als Programm an die nächste Generation weitergegeben worden ist. Diese Entwicklung lässt sich folgendermaßen darstellen
Das Kind (K2) hat „ganz normal“ einen Vater (K) und eine Mutter (P), aus deren Programmen es ebenfalls „ganz normal“ die eigene Persönlichkeit synthetisch entwickeln kann. In diesem Fall ist jedoch K keine einheitliche Person sondern trägt den Antagonismus als Programm in sich.
K2 bekommt die Auflösung seiner selbst als „Überlebensprinzip“ überliefert. Dementsprechend finden wir auch die Psychose als die typische Erscheinungsform dieses Problems immer in der zweiten Folgegeneration einer Doppelung. Ohne hier weiter auf die Schizophrenie einzugehen, sei darauf hingewiesen, dass eine Doppelung für die Entstehung der Schizophrenie zwar eine notwendige, aber noch keinesfalls hinreichende Bedingung ist. Ein Beispiel soll die Betrachtung der Dialektik von Struktur und Inhalt veranschaulichen. Zunächst sei die „normale“ Struktur mit folgendem Inhalt besetzt:
In diesem Beispiel stelle der Vater mit seinem beruflichen Programm einen „Handarbeiter“ (Handwerker) dar, die Mutter eine „Kopfarbeiterin“ (Lehrerin).
Aufgrund der einfachen „synthetischen“ Struktur könnten sich die beiden Programme zu einer Einheit synthetisieren, indem daraus ein Ingenieur hervor ginge. Betrachten wir gleiche Inhalte in einer Doppelungsstruktur:
In diesem Fall steht das Kind vor dem existentiellen Entscheidungskonflikt, der eine Synthese nicht erlaubt, sondern der den Kopfarbeiter auf kosten des Handarbeiters, und den Handarbeiter auf kosten des Kopfarbeiters realisieren würde. Die Folge davon ist ein „Hin- und her springen“ zwischen den Programmen, ohne dass die Person eine einheitliche Form findet.
Dieses bewusst extrem vereinfachte Beispiel zeigt eine für die psychologische Arbeit besonders wichtige Wechselwirkung von Struktur und Inhalt eines Persönlichkeitssystems. Für die Praxis ist es hier wichtig, festzuhalten, wie destruktive Elemente in einer Persönlichkeit aus Strukturproblemen im Ursprungssystem entstehen und nicht aus dem Kontrast der Inhalte.
Die Bandbreite des Entwicklungspotentials einer Person
In der dialektischen Sichtweise wird Persönlichkeit als Ergebnis eines permanenten Prozesses der Vereinbarung von Gegensätzen gesehen. Entwicklung setzt also das Vorhandensein von Polen voraus, welche Gegensätze bilden, z.B. die beschriebenen Programme von Vater und Mutter oder der Gegensatz von Person und Umwelt. In der grafischen Darstellung (Abb. 10) sind die Pole mit A und B bezeichnet, das Ergebnis (und damit die neue Qualität) mit X. X hängt wesentlich von der Quantität (Menge) der in den Prozess eingehenden Elemente ab.
In diesem Modell verbinden sich die Elemente A1 und B1, sowie A2 und B2. A3 findet in X keinen Eingang, da ein Gegenpart in B fehlt. In der Betrachtung der Person-Umwelt-Dialektik würde das bedeuten, dass nicht alle beliebigen Elemente der Umwelt in der Persönlichkeit verarbeitet werden können, sondern nur diejenigen, die das vorhandene Programm verarbeiten kann. Oder umgekehrt, dass ein Programm zwar Verarbeitungspotentiale hat, die Umwelt aber kein Angebot macht. Das gleiche Prinzip gilt für die Vater- Mutter-Dialektik. Wenn dem Programm eines der beiden in einer eingeschränkteren Quantität zur Verfügung steht, als das des anderen, ist die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenständigen Qualität der Persönlichkeit durch eben diesen Faktor beschränkt.
Beispiel: eine Person, die unehelich geboren wurde und ihren Vater nicht kennt. Wenn das Kind eine Informationen über den Vater erhält, z.B. durch Erzählungen der Mutter, stehen ihm allenfalls sehr undifferenzierte, von der Mutter (oder der Umwelt) nonverbal transportierte Informationen für den Prozess der Entwicklung einer neuen Qualität zur Verfügung. Das Kind wird als Folge davon relativ mechanisch das Muttersystem reproduzieren und daran eine verstärkte Abhängigkeit entwickeln. Will oder soll das Kind eine erweiterte Eigenständigkeit entwickeln, also eine neue Qualität erreichen, ist eine erweiterte Kenntnis des väterlichen Programms erforderlich, d.h. die Person oder unterstützende Personen ihrer gesellschaftliche Umwelt (am besten alle zusammen) müssen beginnen, das real existierende väterliche System zu suchen und zu erforschen. Vergegenwärtigt man, dass der Verarbeitung von Umwelt die Verfügbarkeit der Programme zugrunde liegt, gilt:
Die Entwicklung einer neuen Qualität in der Person benötigt die Gewinnung und Verarbeitung von zusätzlichen Kenntnissen über ihren Ursprung. Qualitative Entwicklungen ohne diesen Informationszuwachs sind nicht möglich.
Schlussfolgerungen:
Eine optimale, gesunde Entwicklung kindlicher Persönlichkeit setzt zwingend einen ungehinderten Zugang zu den Informationen beider elterlicher Programme voraus. Wird dieser Prozess behindert, kommt es unvermeidlich zu Persönlichkeitsstörungen. Das Beispiel der oben beschriebenen Struktur der Dopplung verdeutlicht sogar, dass solche Bedingungen über Generationen hinweg wirken und unter bestimmten Bedingungen zu fatalen Fehlentwicklungen führen können.
Eltern haben fast immer nach Trennung/Scheidung erhebliche Vorbehalte gegenüber dem anderen Elternteil. Sie übertragen die Emotionen aus ihrem Paarkonflikt auch auf die Rolle des Anderen als Elternteil. Kinder spüren dies selbst dann, wenn die Eltern sich große Mühe geben, dies vor ihren Kindern zu verbergen. Da Kinder – wie oben dargestellt – immer das „Produkt aus Mutter und Vater“ sind, wird deren Konflikt zwangsläufig zu einem inneren Konflikt der Kinder.
Kinder haben ein natürliches Bedürfnis, sich aus dieser Situation, die sie völlig hilflos macht, sie ängstigt und existentiell verunsichert, zu befreien. Ein Weg dazu ist der, selbst eine „Theorie“ zur Vermeidung des einen Elternteils zu entwickeln. Sie finden Gründe, warum es ihnen dort nicht gut gehe, was ihnen am Verhalten des anderen Elternteils nicht gefalle etc. In der ersten Phase nach einer elterlichen Trennung zeigen Kinder diese Tendenz in der Regel noch in beide Richtungen, d.h., sie „unterwerfen“ sich dem Elternteil bei dem sie sich gerade aufhalten und bemühen sich, mit ihren kindlichen Mitteln ihre „Kinderseele“ vor dem Loyalitätskonflikt mit diesem Elternteil zu schützen. Sie beteuern beispielsweise, dass sie am liebsten bei ihm leben wollen und äußern sich negativ über den anderen Elternteil oder das, was ihnen dort widerfährt usw.
Eltern, die in diesen Äußerungen der Kinder dann nicht deren hilflosen Versuch erkennen, sich aus einem Loyalitätskonflikt zwischen beiden Eltern zu befreien, neigen dazu, diese Äußerungen für „bare Münze“ zu nehmen und beginnen, das Kind durch Umgangsentzug vor der vermeintlichen Belastung beim anderen Elterteil zu schützen. Die Äußerungen, die die Kinder entwickeln, decken sich oft verblüffend genau mit den Ressentiments, die das betreffende Elternteil dem anderen gegenüber hegt. Aus dem kindlichen Signal, dass es den Konflikt zwischen den Eltern nicht aushalten will, entwickelt sich dann genau dass, was es nicht will: der (zumeist schleichende) Verlust der Beziehung zum anderen Elternteil.
Paradoxerweise zeigen sich Kinder, die auf diese Weise erst einmal einem Elternteil entzogen sind, oft „pflegeleichter“ als zuvor, sie erscheinen ruhiger, lassen weniger Anzeichen psychischer Belastungen erkennen usw. Der Effekt ergibt sich daraus, dass in ihnen nicht mehr dauernd der innere Konflikt durch den Wechsel vom einen zum anderen Elternteil aktiviert wird. Durch die „Opferung“ des einen Elternteils bringen sich die Kinder „aus der Schusslinie“ und es gelingt ihnen, den Konflikt aus dem Alltagsgedächtnis weitgehend zu verdrängen. Diese Ruhe und das scheinbare Wohlergehen des Kindes werden aber auf Kosten der oben dargestellten, für die Persönlichkeitsentwicklung so absolut wichtigen Synthese der beiden elterlichen Programme hergestellt, provozieren also zugleich Schäden, deren Auswirkungen lediglich auf das spätere Leben der Kinder in das Jugend- und Erwachsenenalter vertagt werden.
Die Erfahrung, der Trennung der Eltern absolut hilflos und ohnmächtig ausgeliefert zu sein, ruft immer auch Ängste vor dem möglichen Verlust des zweiten Elternteils hervor. Darum zeigen Kinder immer eine besondere Bereitschaft, sich dem Elternteil anzupassen, bei dem sie leben (trotz aller emotionalen Widersprüche, die sie darin zeigen können). Um den Verlust des anderen Elternteils zu verarbeiten, beginnen die Kinder dann, eine eigene Sichtweise zu entwickeln, in der sie für sich selbst zu begründen beginnen, warum sie den Kontakt zum anderen Elternteil nicht mehr wollen. Das, was sie von dem Elternteil hören oder erspüren, liefert genügend Material zur Untermauerung der kindlichen „Theorie“, mit der die Ablehnung begründet wird.
Als Kriterium der Erziehungsfähigkeit muss Eltern besonders nach Trennung und Scheidung abverlangt werden, dass sie ihre Kinder im Umgang mit dem anderen Elternteil – trotz aller bestehenden Ressentiments – unbeirrbar unterstützen. Sofern sie dazu nicht in der Lage sind, brauchen sie selbst professionelle Hilfe, um wieder eine verantwortliche Handlungsweise zum Wohle der Kinder zurückzugewinnen. Eltern, die sich dem widersetzten, verfehlen in einem ganz entscheidenden Punkt das Kriterium der Erziehungsfähigkeit.
2. Die „klassischen“ Maßstäbe des Kindeswohles
2.1 Der Kontinuitätsgrundsatz
Dieser Grundsatz hat bisher in der juristischen Betrachtung einen großen Stellenwert eingenommen. Hintergrund ist die Annahme, dass es für ein 18 Kind eine Belastung, ggf. eine Überforderung darstelle, wenn sich seine vertraute Lebensumwelt drastisch verändert, wenn Brüche in seinem Umfeld und damit einhergehende Abbrüche vertrauter Beziehungen stattfinden. Kinder haben von Geburt an zwei zentrale, psychisch verankerte Verhaltenssysteme, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Diese sind vor allen Dingen im Rahmen der sogenannten „Bindungstheorie“ in jüngerer Zeit erforscht und dargestellt worden:
auf der einen Seite verfügen Kinder bereits mit der Geburt über ein „Bindungsverhaltenssystem“, das sich im Laufe der ersten Lebensjahre schnell mit der Gesamtentwicklung des Kindes weiter ausdifferenziert. Das erste, bereits bei der Geburt beobachtbare „Bindungsverhalten“ ist das Schreien des Kindes, ein Signal, das im Normalfalle eine fürsorgliche Person auf den Plan ruft, die dem Kind Schutz, Zuwendung, Nahrung etc. zukommen lässt. Das Bindungsverhalten differenziert sich schnell aus, das Kind lernt, Personen in der Umgebung zu differenzieren und das Bindungsverhalten wird spezifisch an eine „primäre Bindungsperson“ gekoppelt. Das Verhaltensrepertoire wird schnell umfangreicher. es entwickeln sich die Fähigkeiten, der Bindungsperson optisch und akustisch zu folgen, sich an sie anzuklammern, schließlich, ihr zu folgen usw. Gelingt der Aufbau der primären Bindung unproblematisch, kann das Kind schon im ersten Lebensjahr weiter Bindungen an andere Personen entwickeln, die es von der primären Bindungsperson unabhängiger werden lassen. Sobald sich ein Kind sicher und geborgen fühlt und primäre Bedürfnisse wie Hunger und Durst befriedigt sind, wird das „Bindungsverhaltenssystem“ deaktiviert und ein anderes, grundlegendes Verhaltenssystem wird aktiviert: das sogenannte „Explorationsverhaltenssystem“, d.h., das Kind wendet sich seiner Umwelt zu, um sie zu erforschen, Eindrücke, Erfahrungen und Wissen zu sammeln, seine Fertigkeiten zu entwickeln etc. Dieses Explorationsverhaltenssystem hat sich ebenfalls im Laufe der Evolution herausgebildet und stellt eine genetisch verankerte Verhaltensdisposition dar, die sich in Neugier- und Explorationsverhalten, im „Spieltrieb“ usw., zeigt. Wenn dieses (Explorations-) Verhaltenssystem eingeschaltet ist, bleibt es solange aktiv, wie sich das Kind der Nähe und des Schutzes der Bindungspersonen sicher ist. Treten Gefahren oder verängstigende Situation ein, wird das Explorationsverhalten sofort „ausgeschaltet“ und das Bindungsverhalten wird wieder „eingeschaltet“, d.h., das Kind sucht sofort die schützende Bezugsperson auf. Erst wenn sich das Kind erneut sicher fühlt, kehrt sich der Prozess wieder um, es schaltet sich das Bindungsverhalten wieder aus und das Explorationsverhalten setzt erneut ein usw. In diesem „dialektischen“ Spannungsfeld entwickelt sich das Kind. Überträgt man die Erkenntnis dieses „Grundprinzips“ auf den zur Diskussion stehenden Kontinuitätsgrundsatz, so folgt daraus: Kinder können sehr wohl Veränderungen verarbeiten, sie haben sogar ein angeborenes Bedürfnis nach neuen Reizen, nach Veränderung, nach neuer Umgebung etc. Andererseits setzt dieses „Neugier- und Explorationsbedürfnis“ aber unabdingbar eine psychische Sicherheit voraus, die zu zum Zeitpunkt der Geburt vollständig von betreuenden Personen gewährt werden muss und die erst im Laufe der Kindheit und der Jugendzeit zu einer inneren Sicherheit, zu einem Vertrauen in eigene Fähigkeiten und Erfahrungen verinnerlicht wird und das Kind allmählich von den ursprünglichen Bindungspersonen unabhängig werden lässt. Der Verlust einer wichtigen Bindungsperson ist für Kinder einer der am schwersten zu verarbeitenden Lebensumstände. Besonders Trennungen oder Verluste in der Primärbeziehung führen oftmals zu einer Traumatisierung mit schwerwiegenden Folgen für das ganze weitere Leben. Für den im Gutachten relevanten Zusammenhang muss also beachtet werden: Erstens: die Frage der Bedeutung der Kontinuität muss abhängig vom Alter des Kindes und seinen spezifischen Fähigkeiten beantwortet werden; Zweitens: es muss deutlich werden, welcher Aspekt von Kontinuität (oder Diskontinuität) das Kind belasten oder überfordern könnte und drittens: welche Hilfe und Unterstützung in der konkreten Situation erforderlich wäre, um ein Kind vor nicht zu bewältigenden Brüchen in der Kontinuität ihres Lebensumfeldes zu bewahren. Als Faustregel könnte man aber formulieren: die Kontinuität in den Beziehungen zu Vater und Mutter (und zwar in beiden!) muss stets Priorität haben vor der Kontinuität der materiellen und der übrigen sozialen Lebensbedingungen, mindestens im Vorschulalter und der Regelschulzeit. Mit zunehmendem Alter, besonders nach der Pubertät, treten die übrigen sozialen Beziehungen immer mehr in den Vordergrund.
2.2. Der Förderungsgrundsatz
Bei diesem Kriterium wird die Frage gestellt, inwieweit die Elternteile oder die betreuenden Pflegeeltern objektiv in der Lage sind, eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung zu praktizieren, die Anlagen und Neigungen eines Kindes zu fördern und es auf die gesellschaftlichen Anforderungen vorzubereiten. Die Betreuung und Erziehung muss sich einerseits an gesellschaftlichen Ansprüchen an die Erziehung orientieren und andererseits an den individuellen Entwicklungsanforderungen und -möglichkeiten des Kindes.
Der „Förderungsgrundsatz“ berührt beide oben genannten Beziehungsqualitäten, die Fürsorge- und die Identitätsbeziehung. Aktuell angemessene Förderung des Kindes erfordert es, ihm einerseits im Rahmen der Fürsorgebeziehung emotionale Sicherheit zu geben und seine Entwicklungspotentiale und -bestrebungen zu erkennen und deren Entfaltung zu unterstützen; darüber hinaus muss sich der Entwicklungsgrundsatz insgesamt auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes beziehen, d.h. seine Identitätsentwicklung muss sichergestellt sein, indem der ungehinderte emotionale Zugang zu beiden elterlichen „Programmen“ gewährleistet wird. Nur so kann ein Kind aus den beiden zur Verfügung stehenden elterlichen Potentialen eine neue Qualität in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt entwickeln und entsprechendes Selbstbewusstsein daraus gewinnen.
Grundsätzlich sind diese beiden Aspekte nicht als gleichrangig anzusehen. Eine beeinträchtigte Identitätsentwicklung mit den später resultierenden Persönlichkeitsstörungen ist immer gravierender, als eine aktuell nicht optimal zu leistende Entwicklungsförderung. Mit anderen Worten: wenn ein Elternteil den Klavier- oder Reitunterricht für ein Kind, das erkennbar entsprechende Begabungen hat, nicht zur Verfügung stellen kann, sind die Folgen entschieden geringer, als wenn das Kind mit einer beeinträchtigten Beziehung zum anderen Elternteil leben muss.
2.3 Die Bindungen des Kindes
Ein zentraler Bestandteil einer psychologischen Begutachtung ist stets die Untersuchung der Bindungen des Kindes. Die Anforderungen an die Qualität der Bindung zwischen Eltern (bzw. die betreuenden Personen) und Kindern verändern sich ständig mit deren Alter. Unter 2.2.1 wurde bereits die Dialektik zwischen den beiden zentralen Verhaltenssystemen „Bindungsverhalten“ und „Explorationsverhalten“ aufgezeigt. Die sichere Bindung an eine primäre Bindungsperson ist eine absolut notwendige Bedingung für die gesunde allgemeine und psychische Entwicklung eines Kindes. Die Bindungstheorie belegt, dass gerade die Bindungserfahrungen in den ersten drei Lebensjahren zu einem Grundmuster aller späteren sozialen Beziehungen im Leben des Kindes werden. Die günstigsten Prognosen für die Gesamtsentwicklung eines Kindes ergeben sich, wenn die Bindungsperson eine Haltung liebevoller Zugeneigtheit zeigt, sensibel für die Signale des Kindes ist und stets prompt und so zuverlässig wie möglich auf diese reagiert. Auf der „Kehrseite“ dieser Medaille steht die Fähigkeit, genügend elterliche Distanz (Autorität) wahren zu können, aus der ein Kind Sicherheit und Orientierung schöpft und die Erziehung einschließlich der erforderlichen Grenzsetzungen erst möglich macht. Für Grenzsetzungen gilt: je transparenter und „berechenbarer“ sie erfolgen, desto günstiger für das Kind. Es muss sein Augenmerk dann weniger darauf richten, ständig die Reaktionen des Erwachsenen zu „berechnen“, sondern kann sich an den Grenzen orientieren und sich ansonsten den eigenen Interessen und Entwicklungsaufgaben widmen. Auch hier gilt die oben beschriebene Dialektik zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten: klare Grenzen erzeugen Sicherheit und verhelfen dem Kind dazu, die Grenzen seiner Umwelt zu erkunden statt ständig auf unberechenbare Grenzsetzungen der Bindungsperson fixiert zu bleiben. Am Verhalten der Kinder wird erkennbar, ob sie auf eine „gesunde“ Art gebunden sind. Die Liebe und Zuwendung, die ein Elternteil einem Kind gibt, ist für sich genommen noch keine hinreichende Bestätigung einer intakten Bindung, ebenso wenig die „Anhänglichkeit“ des Kindes an einen Elternteil. Wenn diese aus Verlustangst und einem Übermaß an emotionaler Abhängigkeit erwächst, führt sie sogar zu Beeinträchtigungen in der kindlichen Entwicklung. Im Sinne der oben dargestellten Notwendigkeit der Synthese beider elterlicher Programme kann ganz grundsätzlich geschlossen werden: ein Kind, das einen Elternteil ablehnt, kann keine „gesunde“ Beziehung zum anderen Elternteil haben, egal, wie innig sich diese nach außen darstellt. Um einen Maßstab zur Bewertung der Bindungen eines Kindes zu erhalten, müssen diese sowohl im Hinblick darauf untersucht werden, ob sie den aktuellen, altersgemäßen Entwicklungsanforderungen entsprechen als auch, ob sie die Grundlage einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung bereitstellen.
2.4 Der Kindeswille
Der Kindeswille ist (nur) der bewusstseinsfähige Teil einer Vielzahl psychischer Prozesse, die in der Wechselwirkung mit der gesamten Umwelt des Kindes entstehen. Kindeswille ist somit keine unabhängige Größe, sondern wiederspiegelt die gesamte aktuelle Lebenssituation, ebenso den jeweiligen Entwicklungsstand der Kompetenzen, mit dieser Situation umzugehen. Ähnlich wie bei dem, sprichwörtlichen „Gipfel des Eisberges“ bleiben also unter der Ebene des (kindlichen) Bewusstseins eine Vielzahl psychischer Prozesse verborgen, die nicht in das Bewusstsein vordringen, ggf. sogar aus diesem verdrängt wurden, wenn für bestimmte Situationen keine Bewältigungsstrategien vorhanden sind und somit eine Überforderung eintritt. Im Extremfall kann dies zu einer sogenannten „Traumatisierung“ führen. Der Ausdruck kindlichen Willens muss stets darauf überprüft werden, inwieweit er mit den tatsächlichen, objektiven Entwicklungsinteressen eines Kindes übereinstimmt oder ob er diesen widerspricht. Mit anderen Worten: Kindeswille und Kindeswohl stimmen keinesfalls immer überein. Die Stabilität des Kindeswillens ist stark altersabhängig. Je jünger ein Kind ist, desto instabiler ist auch der von ihm geäußerte Wille: je jünger das Kind, desto anschauungsgebundener ist seine Wahrnehmung, sein Denken etc., und damit auch der Wille. Der Einbezug der Dimension Zeit gelingt erst mit zunehmendem Alter, somit sind die Konsequenzen von Willensäußerungen, die in die Zukunft reichen, oft nicht wirklich überschaubar. In der psychologischen Begutachtung ist es unerlässlich, die hinter den Willensäußerungen eines Kindes stehenden Beweggründe zu erforschen und diese sowohl mit dem Entwicklungsstand des Kindes als auch mit den aktuellen Einflussfaktoren in der Lebenssituation in Beziehung zu setzen. Eltern nehmen immer Einfluss auf den Willen ihrer Kinder, gleichgültig, ob dies beabsichtigt ist oder nicht oder ob er durch offene oder verdeckte Interventionen erfolgt. Kommt es erkennbar zur Übernahme der elterlichen Intentionen, so spricht man auch von offener oder verdeckter „Induktion“ des Kindeswillens. Immer und unvermeidlich nimmt die Gestaltung der Lebensumstände des Kindes Einfluss auf seine Willensbildung. Auf dieser Ebenen kann man den Willen des Kindes nicht nicht beeinflussen, analog zu dem von Paul Watzlawick, einem der renommiertesten zeitgenössischen Kommunikationstheoretiker geprägten Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Ein Kind, dessen Eltern nach der Trennung nicht (mehr) miteinander kommunizieren und keinen Umgang miteinander pflegen etc., erhält damit unvermeidbar eine (indirekte) Botschaft über das Verhältnis der Eltern zueinander. Diese stehen aber im Widerspruch zu dem objektiven kindlichen Bedürfnis, beide Eltern zu lieben und von beiden Eltern geliebt zu werden. Es ist dabei völlig unerheblich, ob die Eltern dies offen vor dem Kind/den Kindern austragen; selbst der (gut gemeinte) Satz vieler Eltern: „Ich spreche nie negativ über den Vater/die Mutter vor dem Kind“ ist zwar lobenswert, aber keine wirkliche Hilfe. Kinder reagieren unweigerlich auf Spannungen zwischen den Eltern. Wenn sie diese Spannungen nicht mehr bewältigen können, opfern sie irgendwann ihre Beziehung zu einem der Eltern und beginnen, den Kontakt zu verweigern. Um dies zu tun, müssen sie natürlich ihre „Entscheidung“ begründen und dem anderen Elternteil „Argumente“ liefern, die in der Regel in dessen aktuelles Bild des getrennten Partners passen. Dieses häufig nach Trennungen bei Kindern anzutreffende Phänomen ist in den vergangenen Jahren unter der Bezeichnung „PAS“ (Parental-Alienation-Syndrom) allgemein bekannt geworden.
Wie autonom kindlicher Willensausdruck wirklich ist und ob er im Einklang mit objektiven Kindesinteressen steht, kann also nur aus einer Gesamtbetrachtung der Lebensumstände geschlossen werden.
2.5 Die Erziehungsfähigkeit
Das Kriterium der Erziehungsfähigkeit vereint in sich alle oben dargestellten Beurteilungsmaßstäbe und setzt diese in ein Verhältnis zueinander: der Kontinuitätsgrundsatz erfordert in erster Linie, dem Kind die sozialen Bindungen zu erhalten, aus denen es psychische Sicherheit und ein grund24 sätzliches Vertrauen (ein sogenanntes „Urvertrauen“) schöpft. Je stabiler das Urvertrauen eines Kindes ist, desto toleranter ist es in Bezug auf die Veränderungen seiner Umwelt. Der Kontinuitätsgrundsatz steht somit in deutlicher Wechselwirkung mit der Qualität der Bindungen des Kindes, diese wiederum sind die wichtigste Grundlage für die optimale Entfaltung der Potentiale des Kindes und somit für dessen Förderung usw. Die Erziehungsfähigkeit der Eltern ist im Sinne der oben dargestellten beiden Beziehungsqualitäten hinsichtlich der Versorgungsbeziehung daraufhin zu prüfen, ob ein Elternteil ein Kind angemessen materiell versorgen kann, eine tragfähige, emotionale Beziehung zu ihm hat, die Sicherheit gewährt und Verselbständigung zulässt, und ob das Elternteil das Kind zu fördern vermag, ohne es zu über- oder zu unterfordern. Als Kriterium zur Beurteilung der "Erziehungsfähigkeit" von Eltern gerät zunehmend die sogenannte "Bindungstoleranz" in den Fokus der Aufmerksamkeit. Damit ist die Fähigkeit eines Elternteils gemeint, nach einer Trennung die Beziehung der Kinder zum anderen Elternteil anzuerkennen und zu fördern, selbst wenn auf der partnerschaftlichen Ebene die Konflikte noch nicht beigelegt sind. Dem Umgang des Kindes mit beiden Eltern wird spätestens seit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz, dass am 01. Juli 1998 in Kraft trat, eine besondere Bedeutung zugesprochen. Der Anspruch auf Umgang steht beiden Eltern, gleichwohl aber auch dem Kind selbst zu (§ 1684 Abs. 1 BGB). Der Rechtsausschuss, der seinerzeit diese Änderung im KindRG empfohlen hatte, beabsichtigte damit einen Bewusstseinswandel bei den Eltern; ihnen sollte verdeutlicht werden, dass sie nicht nur ein Recht auf Umgang haben, sondern im Interesse des Kindes auch die Pflicht, diesen Umgang zu ermöglichen. Die Ausgestaltung eines eigenen Umgangsrechts des Kindes sollte „Signalwirkung entwickeln, sowohl für den Elternteil, bei dem das Kind lebt und der den Umgang mit dem anderen Elternteil vereitelt, als auch für den Elternteil, der sich dem Umgang entzieht und sich nicht mehr um sein Kind kümmert“. Die Gesetzgebung steht damit im Einklang mit der oben dargestellten Erkenntnis über die herausragende Bedeutung des ungehinderten Zugangs eines Kindes zu beiden elterlichen „Programmen“ für den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings kommt die Diskussion darum, wie mit Eltern verfahren werden soll, die diesen Grundsatz verletzen, erst allmählich in Gang. Besonders schwierig ist eine Entscheidung dann, wenn ein betreuender Elternteil eine scheinbar tadellose Versorgungsbeziehung zu einem Kind vorweist und das Kind eine intensive Beziehung zu ihm zeigt, die möglicherweise auch noch mit einer (scheinbar) weniger intensiven Beziehung zum anderen Elternteil oder sogar mit dessen Ablehnung einhergeht. In einer solchen Situation fehlt zuweilen die Kenntnis, wie die Kriterien im Hinblick auf die Folgen für die kindliche Entwicklung zu gewichten sind. Dem Versorgungsaspekt wird oft aus ganz pragmatischen Erwägungen Vorrang eingeräumt, obwohl die Bindungstoleranz zu wünschen übrig lässt. Eine momentane Unauffälligkeit eines Kindes ist jedoch überhaupt kein Beweis dafür, dass ein Kind langfristig keine Beschädigungen in seiner Persönlichkeitsentwicklung erfährt. Trennungen der Eltern rufen immer Verlustängste bei den Kindern hervor. Diese können einzig und alleine dadurch verarbeitet werden, dass das Kind durch konsistente und zuverlässige Erfahrung wieder die Sicherheit zurückgewinnt, dass es die Beziehung zum von ihm getrennt lebenden Elternteil nicht verliert. Der nach einer Trennung betreuende Elternteil trägt dafür die Hauptlast der Verantwortung! Probleme für die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kindern ergeben sich immer dann, wenn (mindestens) ein Elternteil sich nicht aus dem Trennungskonflikt zu lösen vermag und dann den Umgang des Kindes (der Kinder) als Mittel der Auseinandersetzung, z.B. zur Bestrafung oder der Erzwingung von Wohlverhalten des anderen Elternteils einsetzt. Die Kinder, die dies unvermeidbar spüren, sind ohnmächtig dem daraus resultierenden Loyalitätskonflikt ausgeliefert. Einzige Möglichkeit des aktiven Handelns zur Befreiung aus dieser Situation ist für die Kinder die Unterwerfung unter den betreuenden bei gleichzeitiger Abwehr gegenüber dem anderen Elternteil. Dies zwingt Kinder in eine erhöhte Abhängigkeit in der Bindung zum betreuenden Elternteil und schädigt sie zwangsläufig im Sinne der Störung des oben beschriebenen „Syntheseprozesses“ der beiden elterlichen „Programme“. Oberflächlich kann dann die Beziehung zwischen Kind und betreuendem Elternteil sogar als besonders intensiv und innig in Erschei26 nung treten und dazu verleiten, den „ungesunden“ Aspekt dieser Bindung zu übersehen. Eine weitere Störquelle in der kindlichen Entwicklung stellt ein Übermaß an (inadäquater) emotionaler Zuwendung dar. Eltern, die ihre Kinder als einzigen Lebensinhalt empfinden und die sich in erster Linie über diese Elternrolle definieren, ziehen Kinder damit in eine symbiotische Beziehung und erschweren ihnen die Entwicklung emotionaler Unabhängigkeit. Auch innerhalb einer zusammen lebenden Familie können sich unangemessene Beziehungen zwischen Kindern und einem Elternteil entwickeln, in denen zum Beispiel ein Kind in die Rolle des emotionalen „Ersatzpartners“ gezogen wird. Diese Rolle ist für Kinder hochgradig ambivalent: sie kann einerseits subjektiv als sehr attraktiv erlebt werden, hat aber immer auch Überforderung und Abkehr von ureigenen kindlichen Entwicklungsaufgaben zur Folge. Die Psychologie beschreibt dieses Phänomen als „Parentifizierung“. Gerade nach der Trennung der Eltern wächst die Wahrscheinlichkeit, dass derartige Tendenzen sich erheblich verstärken. Bindungen müssen also prinzipiell daraufhin untersucht werden, ob sie die Balance zwischen Sicherheit und (Entwicklungs-)Freiheit für das Kind gewährleisten, ob sie also die Basis für deren Verselbständigung herstellen können. Die seit etwa Mitte des vergangenen Jahrhunderts rapide Zunahme von Trennungen und Scheidungen und der damit häufig einhergehende Verlust eines Elternteils für die Kinder stellt eine enorme gesellschaftliche Herausforderung dar, für die oftmals noch keine (end-) gültigen Antworten gefunden sind, weder von den Betroffenen selbst noch von den gesellschaftlichen Institutionen. Ein betreuender Elternteil, der aus verletzten Gefühlen in Folge der Trennung die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil stört, negativ konnotiert oder boykottiert, richtet definitiv Schaden für das spätere Leben des Kindes an, auch wenn das Kind in der Phase seiner Kindheit keinerlei Schäden erkennen lässt. Kinder präsentieren sich nach dem „Ausschalten“ eines Elternteils oft besonders angepasst und ausgeglichener, und der betreuende Elternteil kann subjektiv durchaus der Überzeugung sein, zum Wohle des Kindes zu handeln. Ihm muss aber in dieser Situation abverlangt werden, dass er die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil konsequent fördert, auch wenn die Willensäußerungen des Kindes genau das Gegenteil besagen (zu den Gründen dafür: siehe Abschnitt „Der Wille des Kindes“). Zuwiderhandlungen führen zu Spätfolgen im Leben des Kindes, die sich in mannigfaltiger Form – z.B. in psychosomatischen Erscheinungen, neurotischen Störungen, Partnerschaftsproblemen, Störungen in der eigenen späteren Elternrolle usw. – manifestieren können. Wenn in Konfliktfällen Entscheidungen darüber erforderlich werden, bei welchem Elternteil ein Kind (oder die Kinder) nach einer Trennung der Eltern leben sollte(n), muss aus psychologischer Sicht immer der Grundsatz gelten: bei dem Elternteil, der ein positives Bild des anderen Elternteils bei den Kindern am besten gewährleistet und den Erhalt ihrer Kontakte zum anderen Elternteil am ehesten garantiert.
Autor: Diplom Psychologe Eberhard Kempf, Mediator, Supervisor, forensischer Sachverständiger in KIndschaftssachen. Praxis für Mediation – Lerchenweg 6 - 57627 Hachenburg - Tel. (2662) 94 03 30 - Fax (02662) 50 327 – E-Mail: Praxis-fuer-Mediation um t-online.de