Werden diese Zukunftsvisionen der Mediation wirklich gerecht? Der folgende Beitrag zitiert die Schlussfolgerungen des Buches Mediation visionär. Er soil dazu beitragen, sich mit der Leistungsfähigkeit der Mediation und dem Mediationsverständnis auseinanderzusetzen.

Die Vision der (integrierten) Mediation

Was verspricht sich ein Anwalt davon, wenn er sich für die Mediation interessiert? Was verspricht sich ein Therapeut davon oder ein anderer Dienstleister, der ein ähnliches Produkt anbietet? Welchen Nutzen sieht die Justiz in ihrem Engagement für die Mediation? Was erwartet die Politik und was erwartet der Mediator selbst? Soll auch die Bevölkerung damit eine Erwartung verknüpfen oder nur jeder, der in einen Streit verwickelt ist?

Alle diese Fragen finden eine Antwortet, wenn das Ziel des Wegs zur Implementierung der Mediation, ganz im Sinne eines mediativen Gedankenganges, um die Frage nach dem Nutzen ergänzt wird. Sie erschließt den Nutzen, an dem der Zweck nicht nur des Verfahrens auf der Mesoebene, sondern auch der Implementierung auf der Makroebene auszurichten ist. Auf der Makroebene erklärt der Zweck, wozu die Mediation und was davon überhaupt gefördert werden sollte. Hier sind verschiedene Ansichten denkbar, die sich aus den Möglichkeiten ergeben, die wiederum auf das Verständnis der Mediation zurückzuführen sind.

Die integrierte Mediation erweitert die Möglichkeiten, indem sie eine Grundlage anbietet, mit der sich der Mediationsradius auf allen Ebenen vollständig ausschöpfen lässt. Sie führt in ein Denken, das statt der Lösung und der darauf abzielenden Forderungen, den Nutzen in den Mittelpunkt stellt. Der Nutzen ergibt das Motiv, wenn er sich nicht aus dem Motiv ableitet. Die bei der Einführung der Mediation und ihrer Verwendung zu stellende zentrale Frage richtet sich somit auf die Folgen, die ihre Einführung für die Politik, die Professionen, die Konsumenten und jeden einzelnen Menschen herbeiführen soll. Die Möglichkeit und der Wunsch, das vorgestellte Fernziel auf einen gemeinsamen Nutzen zurückzuführen, ergibt die Vision.

Die Frage nach der Vision unterstreicht das Zitat von Erich Fromm: „Wenn das Leben keine Vision hat, nach der man sich sehnt, dann gibt es auch kein Motiv, sich anzustrengen“. Der Titel lässt offen, ob es sich um eine Vision handelt, auf die sich die Mediationslandschaft insgesamt einlassen kann. Sie sollte zumindest die Chance dazu haben, wozu dieses Buch beitragen mag. Für die integrierte Mediation ist sie eine zwingende Konsequenz ihrer Sicht auf die Mediation. Um die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vision zu unterstreichen, mag das Zitat um die Weisheit ergänzt werden, dass nur wer ein gemeinsames Ziel verfolgt, auch den gleichen Weg gehen kann. Die gemeinsame Ausrichtung wird somit zu einer Bedingung, dass sich alle Protagonisten für die Einführung der Mediation verwenden können. Die Vielzahl der Schnittstellen und Berührungspunkte mit Berufen und Prozessen außerhalb des Mediationscontainers weisen darauf hin, dass nicht nur die Mediatoren an der Mediation ein Interesse haben sollten und wissen müssen, wozu sie in der Lage ist.

Es gibt gehörige Anstrengungen und ein großes Engagement für die Mediation. Das Motiv dahinter ist jedoch nicht ohne Weiteres erkennbar; erst recht nicht das übergeordnete Ziel oder die damit verfolgte Vision. Es ist, wie eingangs erwähnt, sogar zu bezweifeln, ob die Anstrengungen zur Förderung der Mediation auf ein gemeinsames Motiv zurückzuführen sind. Bereits das behauptete Ziel, die Mediation zu fördern, hängt davon ab, was unter der Mediation verstanden wird. Die nicht spezifizierte Bandbreite kann sich auf die Nachfrage nach einem Produkt ebenso beziehen, wie auf die Förderung der sozialen Kompetenz der Menschen im Allgemeinen. Auch das oft erwähnte Ziel, die Streitkultur zu verbessern, kann alles und nichts bedeuten. Es kollidiert sogar mit dem Gedanken der Mediation, wenn dadurch das Streiten in der hier verwendeten Definition zur Vision erkoren wird. Eine Vision, die zum Streit verleitet, passt kaum zu einem Verfahren, das die Gedanken aus dem Streit herausführen und Streit verhindern will. Auseinandersetzungen sind zweifellos notwendig. Wem aber nutzen sie, wenn sie im Streit, statt in einem konstruktiven Gespräch enden?

Bei der Frage nach einer Vision der Mediation kommt es ganz wesentlich darauf an, welche Kompetenz ihr zugetraut wird. Die einfache Formel lautet: Je mehr Kompetenzen die Mediation erkennbar vorhalten kann, umso größer ist das Interesse an ihr. Die auf dem Harvard-Konzept basierende Mediation erlaubt eine Vision über das professionelle Verhandeln. Die auf der kognitiven Mediationstheorie basierende Mediation erlaubt eine Vision über das Verstehen. Ihr Wirkungsradius und die damit einhergehenden Verwendungsmöglichkeiten sind dementsprechend weitreichender.

Die Verschiebung des Schwerpunktes auf das Verstehen beginnt im Kleinen. Ihre Effizienz erweist sich mit jeder Problem- oder Konfliktlösung, dessen Bewältigung erfolgreich in einem Prozess der Verstehensvermittlung verwirklicht wird. Sie bestätigt sich in vielen Mediationen, wo die Konfliktparteien von einem Lernprozess berichten oder sich gar selbst für eine Ausbildung interessieren, nur um die Herangehensweise der Mediation für sich selbst besser kennenzulernen. Sie bestätigt sich auch in der Ausbildung, nach der die Absolventen berichten, wie sich ihr eigenes Leben verändert hat. Was sich verändert hat, ist ihr Denken. Sie haben gelernt, dass die Mediation anders ist und ein anderes Denken einfordert. Sie haben gelernt, dass und wie das andere Denken durch die Mediation unterstützt wird und was es für sie selbst bedeutet. Die Erfahrungen im Altenkirchener Modell haben gezeigt, wie die veränderte Denkweise und nicht das ausgerufene Verfahren dazu beigetragen haben, aus dem Gericht einen Biotop zu gestalten und die Kultur innerhalb des Gerichtsbezirks vollständig zu verändern. Die Fokusverschiebung in das Verstehen hinein hat Einfluss auf die mögliche Vision der Mediation. Sie zeigt sich am Nutzen des Verstehens. Welcher Nutzen das ist, soll hier ganz im Sinne der Mediation, wie in der dritten Phase hinterfragt werden. Wie dort hilft eine Imagination.

Die optimalen Wirkungen, die eine Implementierung der verstehensbasierten Mediation hervorrufen kann, zeigt sich an den Antworten auf folgende Fragen: Was würde geschehen, wenn die Menschen behutsamer mit Informationen umgehen; wenn sie genauer zuhören und die Bedeutung der Information zu hinterfragen wissen; wenn sie nicht auf Argumente und Parolen hereinfallen, die die Komplexität des Problems gar nicht abbilden; wenn sie erkennen, dass Behauptungen lediglich Meinungen sind, die auch auf ganz egoistische Motive hindeuten können und nichts mit der Sache zu tun haben; wenn sich Informationen nicht mehr hinter Narrativen und Feindbildern verstecken können; wenn die Menschen verstehen, Motive nicht nur anzusprechen, sondern auch als menschlich zu akzeptieren; wenn sie verstehen, dass Bedeutungszuschreibungen nicht einseitig möglich sind, sondern eine Auseiandersetzung zwischen Sender und Empfänger erfordern; wenn sie sich ihren Konflikten stellen können und deren Botschaften korrekt verstehen; wenn sie nicht besser wissen müssen, was andere meinen und sich auf das konzentrieren können, was tatsächlich gemeint ist?

Die Antwort wurde eingangs bereits in der Einführung gegeben. Sie liegt auf der Hand. Es gäbe keinen Brexit. Es gäbe keinen Populismus. Es gäbe eine auf Konsens beruhende, überzeugende und ehrliche Politik. Es gäbe stabile Beziehungen, die Auseinandersetzungen ermöglichen und nicht im Streit enden. Es gäbe mehr Zivilgesellschaft, wo vernetzte Interessengruppen konsensorientierte Entscheidungen herbeiführen. Es gäbe keinen Krieg. Die Vernunft würde siegen.

Der Vorhalt, dass diese Vision unrealistisch sei, mag aufkommen. Im Denken der Mediation würde dieser Einwand jedoch wie das Aber in der Optionensammlung der vierten Phase zurückgedrängt, damit der Weg nicht von vorne herein ausgeschlossen und eine Annäherung dennoch möglich wird. Das hier gezeichnete Bild der Mediation erlaubt die Annäherung. Das Alibi jedenfalls, dass eine Mediation nicht möglich sei, weil sie nur als eine gesetzliche Mediation nachgefragt werden könne; dass sie nicht möglich sei, weil der Gegner nicht zustimme; dass eine Kooperation nicht erfolgversprechend sei, weil doch der Gegner den Krieg wolle; oder die absurde Begründung, dass ein Krieg geführt werden müsse, um einen Krieg zu verhindern, sollte nach den Darlegungen in diesem Buch nicht mehr akzeptiert werden. Die auf der kognitiven Mediationstheorie basierende Mediation ist auf die eine oder andere Weise, zumindest im Denken, immer möglich. Ein sorgfältiger Umgang mit Informationen sollte immer und überall eingefordert werden. Auch Meinungen sollten erlaubt sein, ohne dass aufgestachelte Entrüstungen oder übergestülpte Feindbilder eine Auseinandersetzung verhindern. Gedanken sind frei. Zumindest sollten sie es sein. Sie müssen frei sein, damit sie korrigiert werden können. Die Gedankenfreiheit ist untrennbar mit der Mediation verknüpft.

Bleibt die Frage, ob ein anderes, freies Denken, wie es die Mediation einfordert und ermöglicht, überhaupt gewollt ist. Wer will schon, dass seine vermeintlichen Argumente durchschaut werden; dass die Überzeugungskraft seiner Parolen verloren geht; dass die Diffamierung des Gegners keine Selbstbestätigung mehr ist und dass die numerische Mehrheit im Konsens an Bedeutung verliert? Die Machtverhältnisse könnten sich verändern, wenn die Macht an der Vernunft und nicht an ihrer sinnlosen Stärke gemessen wird. Will sich das System etwa vor derartigen Veränderungen schützen, indem es die Mediation in ein Verfahren einsperrt und zur billigen Alternative eines Gerichtsverfahrens degradiert?

Die integrierte Mediation verfolgt einen anderen Ansatz. Sie sieht in der Verstehenskompetenz der Mediation und dem damit einhergehenden Informationsmanagement einen Gewinn für alle. Für sie hat die Mediation eine umfassende Bedeutung. Sie geht weit über das formelle Verfahren hinaus. Für sie ist die Mediation eine Art des Denkens. Die gesetzliche Mediation ist demzufolge nur eine von vielen auf dieses Denken zurückzuführende Anwendung. Wenn sich das mediative Denken in der Gesellschaft etabliert, ist es eine Frage der Zeit, bis die gewohnten Konfrontationsstrategien aufgegeben werden. Die Mediation könnte herausstellen, dass diese Strategien in den meisten Fällen weder erforderlich noch erfolgversprechend sind. Sie werden sich als nutzlos erweisen.

Bei dem zuvor als möglich und naheliegend untermauerten Mediationsverständnis erschließt sich die Aufgabe der Mediation nicht darin, den Streit zu optimieren. Ihre Aufgabe besteht darin, den Streit zugunsten der Auseinandersetzung beizulegen oder gar zu vermeiden. Wenn sich die Mediationsbewegung auf die gesetzliche Mediation und ihre Nachfrage reduziert, wird es die Aufgabe der integrierten Mediation bleiben, sich für die Kompetenz der Mediation einzusetzen. Ihre Vision von der Mediation ist keinesfalls die Verbesserung der Streitkultur. Ihr Ziel ist die Stärkung der Friedenskultur! Ihr kommt es darauf an, die aufeinander zugehende Auseinandersetzung zu fördern, nicht den Streit. Ihre Herangehensweise ist die Integration der mediativen Kompetenz auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene. Deshalb engagiert sich der Verband integrierte Mediation in mehreren großen Projekten, die Mediation als eine Verstehenskompetenz zu etablieren. Er plädiert dafür, dass die Mediation nicht nur als ein Produkt, sondern wie das Kulturgut der Bildung immer, überall und für alle verfügbar sein soll, so wie auch die Mathematik allen zur Verfügung steht, ohne den Beruf des Mathematikers zu erübrigen. Nach Auffassung der integrierten Mediation unterstützt dieser Weg deshalb nicht nur das menschliche und professionelle Miteinander, sondern auch die Nachfrage, sodass alle, auch die Professionen und die Politik davon profitieren.

Frieden lässt sich nicht erkämpfen. Er muss gelebt, gewollt und verstanden werden. Das gleiche gilt für die Mediation. Auch sie muss gelebt und verstanden werden, damit sie gewollt ist. Sie wird gelebt, wenn sich ihre Denkweise in den Köpfen der Menschen etabliert. Der Weg zum Verstehen führt über das Erfahren und Erkennen. Die Erfahrungen der integrierten Mediation haben gezeigt, dass Ansagen, an andere gerichtete Erwartungen, Appelle und Werbung wenig zum Verstehen beitragen. Es sind die kleinen Schritte der NIMBY-Strategie, mit denen die Mediation zum Leben erweckt wird. Sie setzen sich wie ein Mosaik zusammen und verbreiten sich ganz im Sinne des Law of Attraction, wo sich Gleiches anzieht. Welcher Wolf soll also mit den Bemühungen um die Mediation gefüttert werden? Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Wenn es auf das Füttern ankommt, ist der Weg das Ziel. Das Zitat von Konfuzius passt zur Mediation, denn die Mediation kann selbst keine Vision sein. Sie ist lediglich ein Weg. Sie ist allerdings ein Weg, der in eine Vision führt. Sie kennt den Nutzen, in dem sich die Vision finden lässt und sie weiß, dass sich die dazu passende Lösung aus dem Weg entwickelt. Er muss nur gegangen werden. Wenn es also darum geht, die Mediation zu fördern, sollte sie den Zweck herausstellen und sich in dem Weg ihrer Förderung wiederfinden. Dann schließt sich der Kreis. Das Claim der integrierten Mediation bringt den Gedanken auf den Punkt, denn:

So verstehen wir uns!


Autor: Arthur Trossen
Grafik: Gerd Altmann auf Pixabay