ZIEL DES GRÜNBUCHS
Auf der Grundlage dieses Grünbuchs soll eine umfassende Konsultation zu rechtlichen Fragen eingeleitet werden, die sich im Zusammenhang mit der alternativen Streitbeilegung auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts stellen.

ZUSAMMENFASSUNG
Die alternativen Formen der Streitbeilegung im Bereich des Zivil- und Handelsrechts (in diesem Grünbuch mit dem englischen Akronym "ADR" für "Alternative Dispute Resolution" bezeichnet), stoßen in der Europäischen Union auf zunehmendes Interesse.
Die alternative Streitbeilegung hat in der Praxis an Bedeutung gewonnen, was für den Bürger insofern von Vorteil ist, als er auf diese Weise einen besseren Zugang zum Recht erhält. Die Mitgliedstaaten verfolgen die alternative Streitbeilegung mit besonderem Interesse, das sich mitunter in gesetzgeberischen Aktivitäten konkretisiert.
Für die Institutionen der Europäischen Union schließlich stellt die alternative Streitbeilegung eine - mehrfach bekräftigte - politische Priorität dar. Es ist an ihnen, diese Art der Konfliktlösung zu fördern, die für ihre Entfaltung günstigsten Rahmenbedingungen zu schaffen und sich für die Qualitätssicherung einzusetzen. Diese politische Priorität ist vor allem im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft unterstrichen worden. Die Bedeutung der neuen Online-Schlichtungssysteme ("ODR" für "Online Dispute Resolution") für die Beilegung grenzübergreifender Streitigkeiten über das Internet ist allgemein anerkannt. Dieser besondere Hintergrund erklärt das politische Mandat, das diesem Grünbuch zugrunde liegt. Der Rat hatte die Kommission gebeten, ein Grünbuch erstellen, das einen Überblick über die derzeitige Lage geben und als Grundlage für eine umfassende Konsultation über die zu treffenden konkreten Maßnahmen dienen soll. Dieses Grünbuch bietet die Gelegenheit, die alternative Streitbeilegung der breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen und gleichzeitig die in diesem Bereich auf Ebene der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft unternommenen Initiativen und Arbeiten in einem deutlicheren Licht erscheinen zu lassen.
Im Wege der auf der Grundlage dieses Grünbuchs laufenden Konsultationen sollen sowohl allgemeine Stellungnahmen der interessierten Kreise als auch präzise Antworten zu den gestellten Fragen eingeholt werden.
Diese Fragen sind rechtlicher Natur und beziehen sich auf die entscheidenden Aspekte des ADR-Verfahrens wie Klauseln zur Inanspruchnahme von ADR, Verjährungsfristen, Vertraulichkeit, Gültigkeit der Einigung, Wirksamkeit der aus ADR-Verfahren hervorgegangenen Vereinbarungen, Ausbildung, Zulassung und Haftung der ADRVerantwortlichen.
Bei der Festlegung der politischen Vorgaben für die kommenden Jahre, die ihr als Initiatorin sowohl legislativer als auch administrativer Maßnahmen zukommt, wird die Kommission alle Beiträge gebührend berücksichtigen.

1. ÜBERBLICK
1.1 Vielfalt der Systeme
(1) Seit einigen Jahren ist in den Mitgliedstaaten die Tendenz festzustellen, dass vermehrt auf Verfahren der sogenannten alternativen Streitbeilegung, die als Methode der einvernehmlichen Konfliktlösung eine langjährige Tradition haben, zurückgegriffen wird. Das Interesse an diesen auf Konsens basierenden Streitschlichtungsmethoden ist angesichts der Überlastung der Justiz und der Vorteile, die mit diesem privatrechtlichen Instrument der Rechtspflege verbunden sind, gestiegen, während Gerichte oder Schiedsgerichte weniger in Anspruch genommen werden. Auf Gemeinschaftsebene werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Entwicklung der alternativen Streitbeilegung, insbesondere im Bereich der Informationsgesellschaft, zu begleiten mit dem Ziel, das Vertrauen der Verbraucher und der kleinen und mittleren Unternehmen in den elektronischen Handel zu stärken.
(2) Unter alternativen Formen der Streitbeilegung im Sinne dieses Grünbuchs sind außergerichtliche Verfahren der Streitschlichtung unter Einschaltung eines neutralen Dritten1 mit Ausnahme der Schiedsgerichtsbarkeit als solche zu verstehen. Die alternative Streitbeilegung wird im Folgenden mit dem englischen Akronym "ADR" für "Alternative Dispute Resolution" bezeichnet, das sich in der Praxis weltweit durchzusetzen scheint. Gegenstand dieses Grünbuchs sind nur die ADR-Verfahren in Zivil- und Handelssachen einschließlich des Arbeits- und Verbraucherrechts4.
(3) Die alternativen Formen der Streitbeilegung im Bereich des Zivil- und Handelsrechts lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen, für die ebenfalls verschiedene Regelungen bestehen können. Zu unterscheiden ist als erstes zwischen ADRVerfahren, die ein Richter leitet oder die der Richter einem Dritten überträgt ("ADR im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens"), und ADR-Verfahren, von denen die Streitparteien außerhalb eines Gerichtsverfahrens Gebrauch machen ("nichtgerichtliche ADR-Verfahren"). Eine zweite nach Ansicht der Kommission ebenso grundsätzliche Unterscheidung muss bei den nichtgerichtlichen ADRVerfahren getroffen werden. Manche ADR-Verfahren enden damit, dass der oder die für das Verfahren verantwortlichen Dritten eine für die Parteien bindende Entscheidung erlassen6 oder eine Empfehlung abgeben, der die Parteien folgen können oder nicht. Bei anderen ADR-Verfahren spricht sich der ADR-Verantwortliche nicht formell für eine bestimmte Lösung aus, sondern beschränkt sich darauf, den Parteien bei der Suche nach einer gütlichen Regelung behilflich zu sein8.
(4) Die alternative Streitbeilegung ist nicht neu, hat aber seit einigen Jahren einen deutlichen Aufschwung genommen und wird mit zunehmendem Interesse beobachtet. Die Fülle der theoretischen und praktischen Arbeiten9 stellt für die Entscheidungsträger eine wertvolle Hilfe bei der Begleitung und/oder rechtlichen Gestaltung der ADR dar.

1.2 Für einen besseren Zugang zum Recht
(5) Einer der Gründe für die zunehmende Verbreitung der ADR-Verfahren ist praktischer und konjunktureller Art: ADR bietet eine Lösung für die Schwierigkeit, der sich zahlreiche Länder gegenübersehen, den Zugang zum Recht zu gewährleisten. Diese Schwierigkeiten sind dadurch bedingt, dass sich die Klagen vor den Gerichten häufen, die Verfahren sich immer mehr in die Länge ziehen und die Kosten steigen. Die Vielzahl der Rechtsvorschriften, ihre Komplexität und ihr ausgeprägter fachspezifischer Charakter erschweren es dem Bürger zusätzlich, seine Rechte
wahrzunehmen.
(6) Streitigkeiten mit grenzübergreifendem Bezug leiden noch mehr als reine Inlandssachen unter der Schwerfälligkeit der Verfahren und ihren Kosten10. In dem Maße, wie der Binnenmarkt Gestalt annimmt, der Handel und die Mobilität der Bürger zunehmen, nehmen - nicht zuletzt bedingt durch die Ausweitung des E-Commerce - auch die Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Mitgliedstaaten bzw. zwischen Personen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten wohnen, zu, und damit erhöht sich unabhängig von der Bedeutung oder dem Wert der Streitsache auch die Zahl der vor den Gerichten anhängigen Rechtssachen mit grenzübergreifendem Bezug. Zusätzlich zu den praktischen Problemen aufgrund der Überlastung der Gerichte ergeben sich häufig komplexe Normen- und Zuständigkeitskonflikte sowie Schwierigkeiten sprachlicher und finanzieller Natur.
(7) Der Zugang zum Recht für jedermann ist als Grundrecht in Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verankert. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in den Rang eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts erhoben wurde,11 ist in Artikel 47 der EU-Grundrechtscharta aufgenommen worden. Der Forderung nach einem Zugang zum Recht für jedermann kommen die Mitgliedstaaten unter anderem durch die Bereitstellung zügiger und kostengünstiger Gerichtsverfahren nach. Einige Mitgliedstaaten haben ihr Gerichtssystem überdies bereits modernisiert und die Formalitäten für die Klageerhebung vereinfacht oder die Möglichkeit vorgesehen, das Gericht auf elektronischem Wege anzurufen12.
(8) Die Europäische Union bemüht sich ihrerseits mit der Einrichtung eines benutzerfreundlichen Justizinformationssystems, das von einem Netzverbund einzelstaatlicher Behörden betreut wird, den Zugang zum Recht zu erleichtern13.
Neben diesen Bemühungen ist auf die Initiativen zu verweisen, die im Hinblick auf die Schaffung eines europäischen Rechtsraums auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ergriffen worden sind: z. B. Vereinfachung des Exequaturverfahrens14, Vorschläge zur Abschaffung des Exequaturverfahrens bei unbestrittenen Forderungen, Vereinfachung und Beschleunigung der Beilegung grenzübergreifender Streitigkeiten mit geringem Streitwert15.
(9) Die alternative Streitbeilegung fügt sich nahtlos in das politische Konzept zur Verbesserung des Zugangs zum Recht ein. Sie ergänzt die gerichtlichen Verfahren insofern, als ADR-Techniken dem Streitgegenstand häufig besser gerecht werden. Mit Hilfe der ADR können die Streitparteien wieder an einen Tisch gebracht werden, was auf anderem Weg nicht möglich gewesen wäre. Sie können dann selbst beurteilen, ob es in ihrem Fall sinnvoll ist, den Rechtsweg zu beschreiten.
(10) Besonders hervorzuheben ist die alternative Streitbeilegung als Instrument zur Erhaltung des sozialen Friedens. Bei den ADR-Verfahren nämlich, in denen die Entscheidung nicht von Dritten getroffen wird, stehen die Parteien nicht mehr in Konfrontation zueinander, sondern sie lassen sich im Gegenteil auf einen Prozess der Annäherung ein und entscheiden selbst, wie sie ihren Konflikt beilegen. Sie sind an diesem Prozess aktiv beteiligt, um selbst die für sie am besten geeignete Lösung zu finden. Dieses konsensorientierte Konzept erhöht die Chancen der Parteien, nach Beilegung des Konflikts ihre Beziehungen - seien sie geschäftlicher oder sonstiger Natur - aufrechterhalten zu können.
(11) Kennzeichnend für ADR-Verfahren ist ihre Flexibilität, d. h. es bleibt im Prinzip den Parteien überlassen zu entscheiden, ob sie diese Verfahren in Anspruch nehmen wollen, welche Organisation oder welche Person sie damit betrauen, nach welchem Verfahren sie vorgehen wollen, ob sie persönlich erscheinen oder sich vertreten lassen und wie letztendlich das Verfahren ausgehen soll.
(12) Die Kosten spielen selbstverständlich eine wesentliche Rolle. In der Regel werden die Kosten von den Parteien getragen. ADR-Verfahren können aber auch unentgeltlich sein, weil etwa die Tätigkeit der ADR-Verantwortlichen nicht vergütet wird16, die Betriebskosten der ADR-Einrichtungen vom Staat17 oder von den Berufsverbänden18 getragen werden oder weil eine Partei Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen kann.
(13) Einige Mitgliedstaaten gewähren Prozesskostenhilfe für ADR-Verfahren, die auch die Kosten für einen Rechtsbeistand deckt19. Die Kommission hat hier bereits die Initiative ergriffen und einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates vorgelegt, um die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Prozesskostenhilfe und andere mit Zivilverfahren verbundene finanzielle Aspekte anzugleichen20. Artikel 16 des Richtlinienvorschlags sieht in diesem Zusammenhang vor, dass "die Prozesskostenhilfe auf die Behandlung der Streitsache in einem außergerichtlichen Verfahren auszudehnen ist, wenn dieses Verfahren gesetzlich gefördert wird oder die Streitparteien durch den Richter darauf verwiesen werden."

1.3 Eine politische Priorität
(14) Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten hatten mehrfach Gelegenheit, die Bedeutung der alternativen Streitbeilegung in Streitsachen mit grenzübergreifendem Bezug hervorzuheben, so anlässlich der Tagungen des Europäischen Rats in Wien im Dezember 199821 und in Tampere im Oktober 199922 bei einer Zusammenkunft, die dem Aufbau eines "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union" gewidmet war.
(15) Auf dem Gipfel in Lissabon im März 2000, der Fragen der Beschäftigung und der Informationsgesellschaft gewidmet war, hatte der Europäische Rat die Kommission und den Rat aufgefordert, "zu prüfen, wie das Vertrauen der Verbraucher in den elektronischen Geschäftsverkehr insbesondere durch alternative Streitbeilegungsregelungen gesteigert werden kann"23. Dieses Ziel wurde auf der Tagung des Europäischen Rats in Santa Maria da Feira im Juni 2000, auf der der "eEurope 2002 Aktionsplan" angenommen wurde, bestätigt24. In Bezug auf das Arbeitsrecht hat schließlich der Europäische Rat in Laeken im Dezember 2001 nachdrücklich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, soziale Konflikte, insbesondere soziale Konflikte grenzüberschreitender Art, durch freiwillige Schlichtungsmechanismen zu verhindern bzw. beizulegen25.

1.4 Ein aktuelles Thema
(16) Die alternative Streitbeilegung fand in den jüngsten Diskussionen sowohl auf europäischer Ebene26 als auch international27 über die Regelung des E-Commerce, insbesondere im Zusammenhang mit Zuständigkeitskonflikten bei Verbraucherrechtsstreitigkeiten28, starke Beachtung.
(17) Eine Grundlage für diese Diskussionen ist Artikel 17 der E-Commerce-Richtlinie vom Juni 200029, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ihre Rechtsvorschriften die Inanspruchnahme der nach innerstaatlichem Recht verfügbaren Verfahren zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten, auch auf geeignetem elektronischem Weg, nicht erschweren. Die Mitgliedstaaten werden in Artikel 17 überdies dazu aufgefordert, die Einrichtungen der außergerichtlichen Streitbeilegung zu ermutigen, so vorzugehen, dass angemessene Verfahrensgarantien für die Beteiligten gegeben sind.
(18) Das Europäische Parlament hat in seiner Stellungnahme zum Verordnungsvorschlag "Brüssel I" im September 2000 angeregt, die Bedeutung der alternativen Streitbeilegung zu stärken, und vorgeschlagen, dass unter bestimmten Voraussetzungen Verbrauchern Klauseln entgegengehalten werden können, in denen sie mit dem Händler vereinbart haben, dass jede Streitsache einer außergerichtlichen Streitbeilegungsstelle übergeben wird, die nach einer von der Kommission genehmigten Regelung zugelassen worden ist. Das Parlament hat überdies vorgeschlagen, dass im Wege eines alternativen Streitbeilegungssystems geschlossene Vergleiche vollstreckbar sein sollten30.
(19) Diese Änderungen des Parlaments wurden nicht in die vom Rat im Dezember 2000 erlassene Verordnung "Brüssel I" übernommen. Bei Erlass dieser Verordnung legten Rat und Kommission allerdings Wert darauf, den Nutzen der ADR als ergänzendes Instrument für die Streitbeilegung insbesondere für den elektronischen Handel zu betonen31.

1.5 Die internationale Dimension
(20) Die Arbeiten auf Gemeinschaftsebene sind selbstverständlich schon an sich international ausgerichtet, insofern als sie nicht nur Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als ADR-Beteiligte in Betracht ziehen. Auch verschiedene zwischenstaatliche Organisationen haben sich bereits mit der alternativen Streitbeilegung auseinandergesetzt:
- Der Europarat hat 1998 eine Empfehlung über die Mediation in Familiensachen32 angenommen und arbeitet zurzeit an einem Empfehlungsentwurf für die Mediation in Zivilsachen33. Die Kommission verfolgt diese Arbeiten, an denen unter anderem die Mitgliedstaaten und die Bewerberländer beteiligt sind, mit sehr großem Interesse. Die Initiativen des Europarats werden in diesem Grünbuch gebührend berücksichtigt.
- Die UN-Kommission für internationales Handelsrecht arbeitet ihrerseits an Mustervorschriften für die Streitschlichtung in Handelssachen34.
- ADR-Verfahren im Zusammenhang mit dem elektronischen Handel werden direkt oder indirekt auch im Rahmen der OECD35 sowie am Rande der Verhandlungen über den Entwurf eines internationalen Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung ausländischer Urteile innerhalb der Haager Konferenz über Internationales Privatrecht36 erörtert.
(21) Zu den ADR-Verfahren im Bereich des elektronischen Handels gibt es eine Reihe von Empfehlungen internationaler Nichtregierungsorganisationen, deren Arbeiten von der Kommission aufmerksam beobachtet werden, z. B. GBDe (Global Business Dialogue on e-commerce37), TABD (Transatlantic Business Dialogue38) und TACD (Transatlantic Consumer Dialogue39).
(22) Zur alternativen Streitbeilegung in Zivil- und Handelssachen sind in einer Reihe von Drittländern wichtige Arbeiten im Gange:
- Die Länder, die einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union gestellt haben, zeigen sich bei ihren eigenen Überlegungen zur Verbesserung des Zugangs zum Recht in gleicher Weise wie die EU-Mitgliedstaaten aufgeschlossen für die Entwicklung von ADR-Verfahren. Ihre aktive Mitarbeit an den oben erwähnten Arbeiten des Europarats spricht für sich.
- Die Vereinigten Staaten von Amerika verfügen über langjährige Erfahrungen im ADR-Bereich. Die Entwicklung der verschiedenen Formen der alternativen Streitbeilegung ist vor allem auf die Unterstützung durch die Institutionen der Rechtspflege zurückzuführen. Die meisten US-Bundesstaaten haben in verschiedenen Bereichen Mediationsgesetze erlassen. Aufgrund der wachsenden Zahl der Regelungen in diesem Bereich hat die "National Conference of Commissioners on Uniform State Laws" ein einheitliches Gesetz über die Mediation ausgearbeitet40.
- In Kanada beschäftigt sich die "Uniform Law Conference" seit August 2000 mit der Frage, ob in diesem Bereich ein einheitliches Gesetz erlassen werden sollte41.
- In Japan hat der Rat für die Reform des Justizwesens im Juni 2001 eine Reihe von Empfehlungen abgegeben, zu denen auch eine umfassende gesetzliche Regelung der ADR-Verfahren gehört42.

1.6 Ein wegweisender Auftrag
(23) Diese Gesamtsicht der ADR-Initiativen zeigt, wie notwendig es ist, sich einen genauen Überblick über die in den Mitgliedstaaten und auf Ebene der Europäischen Union laufenden Arbeiten und Initiativen zu verschaffen und sich mit den Rechtsfragen auseinander zu setzen, die sich in Bezug auf die Qualität der ADR-Verfahren stellen. Die EU-Justizminister haben daher beschlossen, auf Gemeinschaftsebene Arbeiten zur alternativen Streitbeilegung in Zivil- und Handelssachen in Auftrag zu geben. Im Mai 2000 wurde die Kommission gebeten, Informationen über alternative Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten mit grenzüberschreitendem Bezug in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten zusammenzutragen. Anhand dieser Informationen sollte die Kommission ein Grünbuch erstellen, das einen Überblick über die derzeitige Lage geben und als Grundlage für eine umfassende Konsultation über die zu treffenden konkreten Maßnahmen dienen sollte43.

2. ORIENTIERUNG AN BEREITS LAUFENDEN ARBEITEN
(24) Die Kommission wurde vom Rat beauftragt, eine Bestandsaufnahme der in den Mitgliedstaaten und auf Ebene der Europäischen Union bestehenden ADR-Verfahren zu erstellen. Überlegungen zur ADR sollten an den Arbeiten ansetzen, die bereits in diesem Bereich veranlasst wurden. Die Kommission hat die Antworten der Mitgliedstaaten auf einen Fragebogen44 sowie Studien zum Thema ADR45 ausgewertet.

2.1 In den Mitgliedstaaten
(25) In den Mitgliedstaaten gibt es bislang keine umfassende gesetzliche Rahmenregelung für ADR-Verfahren46. Arbeiten in dieser Richtung sind allerdings in Dänemark47, Italien48, Österreich49 und in Portugal50 im Gange. Auf dieser Grundlage könnte der Versuch unternommen werden, die Rechtsstellung der ADR-Verfahren zu definieren und sie als Instrument des Rechtsschutzes in das Zivilprozessrecht aufzunehmen. (26) Einige Mitgliedstaaten haben Maßnahmen zur Förderung der ADR in bestimmten Bereichen ergriffen, beispielsweise durch die Einrichtung von ADRBeratungsstellen51, durch die Finanzierung von ADR-Stellen52, durch Programme zur beruflichen Fortbildung53 und durch Information der breiten Öffentlichkeit über ADRVerfahren. Mitunter bestehen die geplanten Arbeiten auch in einer Änderung der geltenden innerstaatlichen Vorschriften, um die Besonderheit der ADR-Verfahren besser erfassen zu können54.

2.1.1 ADR im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens
(27) Bei ADR-Verfahren, die von einem Richter geleitet werden, sieht das Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten u. a. die Möglichkeit vor, dass ein Richter in der Hauptsache als Schlichtungsinstanz55 angerufen wird und die Schlichtung obligatorischer Bestandteil des Verfahrens56 wird. Die Richter werden zum Teil auch ausdrücklich dazu angehalten, die Parteien aktiv bei der Suche nach einem Kompromiss zu unterstützen57. Diese besonderen Aufgaben des Richters, die nicht unbedingt ihren herkömmlichen Aufgaben entsprechen, erfordern eine darauf
abgestimmte Ausbildung.
(28) Die von einem Richter einem Dritten übertragene Streitschlichtung ist in den meisten Mitgliedstaaten Gegenstand einer allgemeinen Regelung oder eines entsprechenden Regelungsentwurfs, deren Bandbreite von der Möglichkeit reicht, ADR-Verfahren in Anspruch zu nehmen (z. B. in Belgien58 und Frankreich59), bis hin zur Aufforderung (in Spanien60, Italien61, Schweden62, England und Wales63) oder gar zur kraft Gesetzes oder richterlichen Anordnung bestehenden Pflicht, vor Anrufung eines Gerichts eine alternative Streitschlichtung in Anspruch zu nehmen (z. B. in Deutschland64, Belgien65 und Griechenland66).
(29) Praktische Erfahrungen werden auf Initiative der Gerichte selbst67 oder auf Initiative der zuständigen Ministerien im Rahmen von Pilotprojekten68 gewonnen mit dem Ziel, die alternative Streitschlichtung auf breiterer Basis anzuwenden.
(30) Bei den von den Gerichten bestellten Schlichtern kann es sich um Amtspersonen69 oder Private handeln, die von den Gerichten nach bestimmten Kriterien aus einer Liste70 ausgesucht oder von Fall zu Fall71 bestimmt werden.

2.1.2 Nichtgerichtliche ADR-Verfahren
(31) Nichtgerichtliche ADR-Verfahren sind in den Mitgliedstaaten bislang nicht eigens geregelt. Es gelten allein die allgemeinen vertragsrechtlichen Vorschriften oder die speziellen Regelungen für Vergleiche, die im Zuge von ADR-Verfahren geschlossen werden können. Die ADR-Verfahren stützen sich auf die allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts, des Zivilprozessrechts und des internationalen Privatrechts. Je nach Mitgliedstaat sind die vertragsrechtliche Praxis und die Standesregeln in Bezug auf Dritte, die ihre Dienste im Bereich der alternativen Streitbeilegung anbieten, mehr oder weniger weit entwickelt.
(32) In einigen Mitgliedstaaten wie Dänemark72, Irland73, Finnland74 und Schweden75 wurden für bestimmte Rechtsbereiche besondere Vorschriften erlassen, die die Einsetzung von Stellen zur alternativen Streitbeilegung vorsehen.
(33) Wie von staatlicher Seite in der Praxis festgestellt, scheinen sich gewisse Grundsätze herauszubilden, die allen Verfahren gemeinsam sind76. Den Streitparteien steht es frei, sich für oder gegen ein ADR-Verfahren zu entscheiden. Entscheiden sie sich für die alternative Streitbeilegung, organisieren sie selbst das Verfahren, das von einem Dritten nach dem Grundsatz der Unparteilichkeit und Gerechtigkeit geleitet wird. Diese Person muss den Grundsatz der Vertraulichkeit beachten. Die Mitgliedstaaten legen besonderen Wert darauf, dass diese Grundsätze in Mindestverfahrensgarantien zum Ausdruck kommen.

2.2 Auf Ebene der Europäischen Union
(34) Die wichtigsten Arbeiten im Bereich der alternativen Streitbeilegung, die bereits auf Ebene der Europäischen Union eingeleitet worden sind und die als Grundlage dienen können, beziehen sich auf das Verbraucherrecht, das Familienrecht und das Arbeitsrecht.

2.2.1 Orientierung an Initiativen im Verbraucherrecht
(35) Seit mehreren Jahren wird im Rahmen eines Programms zur Verbesserung des Rechtsschutzes für Verbraucher an Lösungsmöglichkeiten für Verbraucherrechtsstreitigkeiten gearbeitet, unabhängig davon, ob diese grenzübergreifenden Bezug aufweisen, sich nur auf das Inland konzentrieren oder mit Internet-Leistungen zusammenhängen77. Die nachfolgende Zusammenfassung der Arbeiten soll zum einen einen Überblick über alle Initiativen geben, die bisher in diesem Bereich ergriffen worden sind, und zum anderen eine allgemeine Diskussion über eine umfassendere Einbeziehung von ADR-Verfahren einleiten, um auf diese Weise einen vollständigeren Überblick über die Lage in der Europäischen Union zu erhalten. Hintergrund dieser Diskussion ist somit eine Revision und Aktualisierung des Verbraucherrechts.
(36) Im Rahmen des Programms zur Verbesserung des Rechtsschutzes für Verbraucher haben das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der Kommission die Richtlinie 98/27/EG vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen erlassen78. Nach dieser Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten für unabhängige öffentliche Stellen oder Verbraucherverbände die Möglichkeit vorsehen, gegen bestimmte Handelspraktiken Unterlassungsklagen zu erheben. Weitere Initiativen, die auf die Wahrung der Verbraucherrechte gerichtet sind, betreffen einzelne Wirtschaftszweige wie den Verkehr79und den Energiesektor80.
(37) Die Kommission hat zwei Empfehlungen zu den Grundsätzen angenommen, die bei außergerichtlichen Verfahren zur Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zum Tragen kommen. Zusätzlich zu diesen Empfehlungen und den entsprechenden Mitteilungen hat die Kommission ein europäisches Formblatt für Verbraucherbeschwerden veröffentlicht81.
- Die erste Empfehlung vom 30. März 199882 betrifft Verfahren, die unabhängig von ihrer Bezeichnung durch die aktive Intervention eines Dritten, der eine Lösung vorschlägt oder vorschreibt, zu einer Beilegung der Streitigkeit führen. Diese erste Empfehlung, die die sieben Mindestregeln für die Einführung und Durchführung von ADR-Verfahren enthält, gilt nicht für Verfahren, die vielfach als "Mediation" bezeichnet werden. Die Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, eine Übersicht über die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständigen Einrichtungen zu erstellen, die ihrer Ansicht nach der Empfehlung der Kommission entsprechen. Die entsprechenden nationalen Verzeichnisse wurden der Kommission übermittelt, die für ihre Veröffentlichung Sorge trägt83.
- Die zweite Empfehlung vom 4. April 200184 betrifft demgegenüber Verfahren, die sich lediglich auf den Versuch beschränken, die Parteien zusammenzubringen und sie dazu zu bewegen, sich um eine einvernehmliche Lösung zu bemühen. Der unparteiische Dritte kann allerdings auch einen unverbindlichen Lösungsvorschlag unterbreiten.
(38) Die Kommission hat überdies zwei europäische Netze eingerichtet, in denen Einrichtungen der Mitgliedstaaten zusammengeschlossen sind, deren Ziel es ist, den Verbrauchern den Zugang zu außergerichtlichen Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten mit grenzübergreifendem Bezug zu erleichtern, wenn der Unternehmer nicht im Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers ansässig ist. Die beiden Netze verfolgen dasselbe Ziel, funktionieren aber unterschiedlich:
- Dem Europäischen Netz für die außergerichtliche Streitbeilegung (EEJ-Net)85 gehören zentrale Kontaktstellen (sogenannte Clearingstellen) der Mitgliedstaaten sowie Norwegens und Islands an, an die sich die Verbraucher mit Bitte um Unterstützung oder Auskunft wenden können. Jede dieser Kontaktstellen dient als Informationsrelais für die 400 Einrichtungen, die nach Dafürhalten der Mitgliedstaaten den Anforderungen der beiden Kommissionsempfehlungen über die Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind, genügen. Das Netz nahm seine Arbeit offiziell am 16. Oktober 2001 auf. Nach einer Pilotphase von einem Jahr wird die Kommission im Herbst 2002 einen vollständigen Bericht über die mit diesem Netz erzielten Fortschritte vorlegen und die Fachkreise um Stellungnahme bitten.
- Dem Netz für die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten im Bereich Finanzdienstleistungen (FIN-Net)86 sind ADR-Einrichtungen der Mitgliedstaaten angeschlossen, die den Voraussetzungen der ersten Empfehlung der Kommission entsprechen. Am 22. Februar 2002 belief sich die Zahl dieser Einrichtungen auf 37. Mit Hilfe des FIN-NET erhält der Verbraucher, der mit einem Problem im Sektor Finanzdienstleistungen (Banken, Versicherungen, Anlagen) konfrontiert ist, direkten Zugang zu einem außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren. Dieses Netz, das von der Kommission am 1. Februar 2001 ins Leben gerufen worden ist, hat bereits positive Ergebnisse gebracht. Im Rahmen des Dialogs mit Bürgern und Unternehmen, der über die Rechte im Binnenmarkt informieren soll, wird ein Leitfaden über das FIN-Net veröffentlicht werden, der den Verbraucher mit diesem Netz vertraut machen soll.
(39) Der Einfluss der beiden Empfehlungen der Kommission ist in den Mitgliedstaaten deutlich zu spüren. Die Kommission wird im Bereich des Verbraucherschutzes keine weiteren Maßnahmen in die Wege leiten, bis die Pilotphase des Netzes für die außergerichtliche Streitbeilegung vollständig ausgewertet worden ist und alle Mitgliedstaaten, ADR-Einrichtungen und Beteiligte eingehend konsultiert worden sind.
(40) Im Bereich des elektronischen Handels, insbesondere im Rahmen des Aktionsplans eEurope 200287, wird alternativen Verfahren zur Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es handelt sich dabei sowohl um herkömmliche ADR-Verfahren als auch um Online- Schlichtungssysteme, die auch außerhalb des E-Commerce zur Streitbeilegung
eingesetzt werden können. Bei der Online-Streitschlichtung stellen sich eine Reihevon Fragen, mit denen sich die Kommission in einer Mitteilung auseinandersetzen wird, deren Veröffentlichung in Kürze erwartet wird.
(41) Die Überlegungen zur alternativen Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten im elektronischen Handel sind auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Bemühungen um eine Stärkung des Vertrauens der Verbraucher in den elektronischen Handel zu sehen. Die Kommission hat im Rahmen ihres Aktionsplans eEurope 200288 ein Forum eingerichtet, das sich mit dem Vertrauen der Verbraucher in den E-Commerce auseinandersetzt ("eConfidence"89). Ebenfalls im Rahmen dieses Aktionsplans unterstützt die Kommission Initiativen der Wirtschaft und der Verbraucher zur Einführung hoher Qualitätsnormen für den Handel90. Die Kommission wird in einer ihrer nächsten Mitteilungen auf sämtliche Maßnahmen eingehen und Bilanz ziehen.
(42) Auf Gemeinschaftsebene werden erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Entwicklung der alternativen Streitbeilegung im E-Commerce praxisnah zu verfolgen. Aus EG-Mitteln finanziert wurden beispielsweise Initiativen zur Einrichtung von Online-Schlichtungssystemen91, zur Qualitätssicherung kommerzieller Websites92 sowie Forschungsarbeiten von Hochschulen und Fortbildungsprogramme93.
(43) Alternative Verfahren zur Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten im Bereich des E-Commerce werfen eine Reihe von rechtlichen Fragen auf. Die Kommission hat bereits allgemeine Leitlinien entwickelt, aus denen ihr Bemühen deutlich wird, auf Online-Schlichtungssysteme dieselben Grundsätze anzuwenden wie auf herkömmliche Formen der Streitbeilegung94. Die Kommission prüft derzeit allerdings noch zusätzliche Initiativen, die vor allem den technischen Eigenheiten und Anforderungen des Internet Rechnung tragen95. Die Gemeinschaft hat darüber hinaus bereits einen Rechtsrahmen geschaffen, der die Gültigkeit online geschlossener Verträge garantiert, und zwar nicht nur die Klauseln, die eine nichtgerichtliche Schlichtung vorsehen, sondern auch die Verträge, mit denen die Parteien beschließen, ihre bereits entstandene Streitigkeit mit Hilfe eines ADR-Verfahrens beizulegen sowie die nach Abschluss des ADR-Verfahrens geschlossenen Vereinbarungen. Die E-Commerce-Richtlinie sieht dementsprechend vor, dass die Mitgliedstaaten online geschlossene Verträge zulassen müssen96. Die Mitgliedstaaten müssen darüber hinaus dafür sorgen, dass ihre Rechtsordnung Online-Schlichtungsverfahren anerkennt97.
(44) Die auf Gemeinschaftsebene geltenden Regelungen wurden durch die Verordnung "Brüssel I" ergänzt, deren Bestimmungen über Gerichtsstandsvereinbarungen - auch in Verbrauchersachen - die Inanspruchnahme von ADR-Verfahren per definitionem nicht berühren. Das Verhältnis zwischen dieser Verordnung und den ADR-Verfahren wurde sowohl unter politischen als auch juristischen Gesichtspunkten bei den Beratungen vor Erlass der Verordnung ausführlich erörtert. Im September 2000 hatte das Europäische Parlament vorgeschlagen, unter bestimmten Voraussetzungen vorzusehen, dass sich Verbraucher Klauseln in Verbraucherverträgen entgegenhalten lassen müssen, nach denen "der Verbraucher und der Händler vereinbaren, dass jede Streitsache einer außergerichtlichen Streitbeilegungsstelle übergeben wird, die nach einer von der Kommission genehmigten Regelung zugelassen worden ist"98.
(45) In ihrem geänderten Vorschlag99 war die Kommission dem Parlament in diesem Punkt mit folgender Begründung nicht gefolgt: "Das Parlament schlägt nun vor, Verbrauchern und Händlern die Möglichkeit zu geben, vor jeder Streitigkeit vertraglich festzulegen, dass etwaige Streitigkeiten einer außergerichtlichen Schiedsstelle unterbreitet werden sollen. Hieran werden bestimmte Bedingungen geknüpft, unter anderem die "Zulassung" der betreffenden Schiedsstelle durch die Kommission. Die Kommission kann die Überlegungen, die diesem Änderungsvorschlag zugrunde liegen, durchaus nachvollziehen ebenso wie den vom Parlament bekundeten Wunsch, dass der Verordnungsvorschlag sowohl legislative als auch nichtlegislative Maßnahmen umfassen sollte. Sie räumt ein, dass es für die Parteien wünschenswert ist, ihre Streitigkeiten außergerichtlich beilegen zu können. Die Klage vor einem Gericht sollte stets die letzte mögliche Handhabe sein. In der Praxis ist ohnehin festzustellen, dass der Verbraucher in der Regel auf eine außergerichtliche Streitbeilegung zurückgreift, sofern ihm diese Möglichkeit geboten wird. Sowohl aufseiten der Wirtschaft als auch aufseiten der Institutionen sind bereits zahlreiche Arbeiten im Gange, um die Einrichtung alternativer Streitbeilegungsmöglichkeiten zu fördern. Beim gegenwärtigen Stand der Arbeiten ist es jedoch nicht möglich, die Optionen, die die Verordnung dem Verbraucher bei den internationalen Gerichtsstandsregeln bietet, der Verpflichtung unterzuordnen, zuvor auf eine außergerichtliche Streitbeilegung zurückzugreifen. Erstens könnte eine solche Lösung in bestimmten Mitgliedstaaten zu Problemen verfassungsrechtlicher Art führen. Zweitens sind die Strukturen, die eine solche Verpflichtung voraussetzt, noch nicht einsatzbereit. Drittens gibt es zahlreiche verfahrensrechtliche Fragen im Verhältnis zwischen einer alternativen Streitbeilegung und einem Gerichtsverfahren, die sehr komplex sind und eingehend geprüft werden müssen (z.B. im Bereich der Verjährung). Die Kommission wird jedoch in jedem Fall die derzeitigen Initiativen im Bereich der alternativen Streitbeilegung weiter verfolgen. In ihrem Bericht über die Anwendung der Verordnung, den sie nach Artikel 65 fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung vorlegen wird, wird sie über den Stand der Arbeiten in diesem Bereich berichten und die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung überprüfen."
(46) Diese Änderungen des Parlaments wurden nicht in die vom Rat im Dezember 2000 erlassene Verordnung "Brüssel I" übernommen. Bei Erlass der Verordnung wiesen Rat und Kommission in einer gemeinsamen Erklärung100 auf die Bedeutung der alternativen Streitbeilegung hin: "Der Rat und die Kommission sind der Auffassung, dass es im Allgemeinen im Interesse der Verbraucher und der Unternehmen liegt, ihre Streitigkeiten gütlich zu regeln, bevor sie sich an die Gerichte wenden. Diesbezüglich heben der Rat und die Kommission hervor, dass mit der Verordnung und insbesondere mit den Artikel 15 und 17 den Parteien nicht untersagt werden soll, auf alternative Streitbeilegungsverfahren zurückzugreifen. Der Rat und die Kommission möchten daher erneut darauf hinweisen, dass sie es für wichtig erachten, dass die Beratungen auf Gemeinschaftsebene über alternative Streitbeilegungsverfahren in Zivil- und Handelssachen entsprechend den Schlussfolgerungen des Rates vom 29. Mai 2000 fortgesetzt werden. Sie sind sich bewusst, dass diesen Beratungen große Bedeutung zukommt, und unterstreichen, dass alternative Streitbeilegungsverfahren in Zivil- und Handelssachen insbesondere im Hinblick auf den elektronischen Geschäftsverkehr eine nützliche Ergänzung darstellen. Nach Artikel 73 der Verordnung hat die Kommission dem Europäischen Parlament, dem Rat und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss einen Bericht über die Anwendung der Verordnung vorzulegen, dem gegebenenfalls Vorschläge zur Anpassung der Verordnung beigefügt sind. Der Rat und die Kommission sind der Ansicht, dass bei der Erstellung dieses Berichts der Anwendung der Bestimmungen der Verordnung hinsichtlich der Verbraucher und der Klein- und Mittelbetriebe, insbesondere im Rahmen des elektronischen Geschäftsverkehrs, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Dementsprechend wird die Kommission vor Ablauf des in Artikel 73 der Verordnung genannten Zeitraums gegebenenfalls Anpassungen der Verordnung vorschlagen."

2.2.2 Die Initiativen im Bereich Familienrecht nutzbar machen
(47) Auf dem Gipfeltreffen in Wien im Dezember 1998 billigten die Staats- und Regierungschefs den Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts101. Ziffer 41 Buchstabe c) nennt die binnen fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags zu ergreifenden Maßnahmen, darunter die Prüfung der Möglichkeit zur "Schaffung eines Modells für die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten unter besonderer Berücksichtigung der grenzüberschreitenden Familienstreitsachen. Dabei sollte geprüft werden, inwieweit zur Lösung familienrechtlicher Streitsachen auf Vermittlung zurückgegriffen werden
kann."
(48) In der Politik hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ADR-Verfahren bei der Beilegung von grenzüberschreitenden Familienstreitigkeiten eine besondere Rolle zukommt. Konflikte dieser Art haben einen Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Verantwortung - Sorgerecht und Umgangsrecht - sowie auf die Aufteilung des Familienvermögens oder die Regelung des Unterhalts. Unter Umständen ließen sich solche Probleme im Rahmen von ADR, also ohne Befassung des Gerichts, lösen. Dies gilt auch für die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. ADR-Verfahren sind allerdings insofern begrenzt, als die Parteien gerade in diesem Bereich nicht frei über ihre Rechte verfügen können. Besonders schwierige Streitfälle sind möglicherweise nicht in ADR-Verfahren zu regeln102.
(49) Der Rat erließ am 29. Mai 2000 die Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (Verordnung "Brüssel II")103, die insofern einen bedeutenden Fortschritt darstellt, als nunmehr Entscheidungen, die nach den in der Verordnung vorgeschriebenen Zuständigkeitsregeln ergangen sind, in der gesamten Gemeinschaft anerkannt und vollstreckt werden können. Das mit der Verordnung "Brüssel II" eingeführte System beruht jedoch auf Zuständigkeitskriterien, aufgrund deren mehrere Gerichte zuständig sein können. Wenn bei Gerichten in mehreren Mitgliedstaaten Anträge gestellt wurden, äußert sich gemäß Artikel 11 das zuerst angerufene Gericht zu der Sache104. Dieses System könnte die Streitparteien folglich veranlassen, auf ADR zu verzichten und möglichst unverzüglich das Gericht anzurufen, von dem sie die günstigste Entscheidung erwarten.
(50) Am 6. September 2001 nahm die Kommission den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über die elterliche Verantwortung an (Verordnung "Brüssel II a"105). Danach soll die in der Verordnung "Brüssel II" enthaltene Regelung zur Anerkennung und Vollstreckung auf alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung ausgedehnt werden. Der Kommissionsvorschlag zielt insbesondere auf die Förderung von ADR ab. Er sieht eine Zuständigkeitsregelung vor, wonach für jede Rechtssache lediglich ein Gericht zuständig ist, sowie die Einführung eines Verfahrens der behördlichen Zusammenarbeit.
(51) Der Vorschlag für die Verordnung "Brüssel II a" beruht auf der Zusammenarbeit zwischen den zentralen Stellen, die eine aktive Rolle übernehmen sollen, um die wirksame Ausübung der elterlichen Verantwortung zu gewährleisten. Diesem Ziel dient auch die Förderung der alternativen Streitbeilegung106. Eine derartige Regelung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit und Förderung von ADR in Familiensachen ist Gegenstand der Initiative der Französischen Republik vom 3. Juli 2000 im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung des Rates über die gegenseitige Vollstreckung von Entscheidungen über das Umgangsrecht107.

2.2.3 Maßnahmen zur Förderung von ADR auf dem Gebiet des Arbeitsrechts
(52) Bei Streitigkeiten über arbeitsrechtliche Ansprüche spielen ADR-Verfahren in allen Mitgliedstaaten bereits eine zentrale Rolle. Den Sozialpartnern (Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer) kommt in diesen Verfahren, die nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ablaufen, eine besondere Bedeutung zu. Bei der Lösung sowohl kollektiver Interessenkonflikte (Annahme oder Änderung von Tarifverträgen, bei denen gegensätzliche wirtschaftliche Interessen zu regeln sind) als auch von Konflikten rechtlicher Natur (Annahme und Änderung von Vertragsbestimmungen oder Rechtsvorschriften) haben sich ADR als wirkungsvoll erwiesen. Für die arbeitsrechtlichen ADR-Verfahren sind größtenteils die Sozialpartner zuständig.
Kommt keine Einigung zustande, können die Beteiligten jedoch staatliche ADREinrichtungen
in Anspruch nehmen. Die Verfahren unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat, aber die Entscheidung, ein ADR-Verfahren in Anspruch zu nehmen, liegt generell im Ermessen der Beteiligten ebenso wie die Annahme des Ergebnisses.
(53) Da fast alle Mitgliedstaaten ADR-Verfahren für den Fall bereitstellen, dass sich die Sozialpartner nicht einigen können, denken die EU-Institutionen inzwischen darüber nach, ob es nicht zweckmäßig wäre, auf europäischer Ebene ein Verfahren für grenzübergreifende Streitigkeiten vorzusehen. In ihrer Mitteilung vom 28. Juni 2000 "Sozialpolitische Agenda"108 vertritt die Kommission die Auffassung, dass die Modernisierung des europäischen Sozialmodells insbesondere die Entwicklung neuer Instrumente zur Prävention und Beilegung von Streitigkeiten erfordert. In der Mitteilung kündigt sie ihre Absicht an, "die Sozialpartner zu der Frage anzuhören, ob auf europäischer Ebene freiwillige Vermittlungs-, Schieds- und Schlichtungsmechanismen zur Konfliktverhütung eingerichtet werden müssen". Diese Anhörung wird von der Kommission zurzeit vorbereitet. Die Kommission finanziert hierzu eine Studie über die verschiedenen Methoden zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten. Die Ergebnisse dieser Studie dürften im April 2002 vorliegen und werden der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Kommission denkt weiter darüber nach, wie auf europäischer Ebene ADR-Einrichtungen eingesetzt werden könnten, wie sie arbeiten sollten und welcher Mehrwert zu erwarten ist. Der Rat "Beschäftigung und Sozialpolitik" hat das Vorhaben der Kommission auf seiner Tagung vom 3. Dezember 2001 begrüßt und die Kommission ersucht, "über das Ergebnis der Anhörung der Sozialpartner in der Frage, ob die Notwendigkeit der Schaffung auf Freiwilligkeit beruhender Streitbeilegungsmechanismen auf europäischer Ebene besteht, Bericht zu erstatten"109. Der Europäische Rat hat seinerseits auf der Tagung vom 14./15. Dezember 2001 in Laeken nachdrücklich darauf hingewiesen, "wie wichtig es ist, soziale Konflikte, insbesondere soziale Konflikte grenzüberschreitender Art, durch freiwillige Schlichtungsmechanismen - zu denen von der Kommission ein Diskussionspapier erbeten wird - zu verhindern bzw. beizulegen"110.

3. DIE QUALITÄT VON ADR GEWÄHRLEISTEN
(54) Die konkreten Maßnahmen, Initiativen und Diskussionen, die zurzeit auf politischer und legislativer Ebene in den Mitgliedstaaten wie auch im Gemeinschafts- und im internationalen Rahmen stattfinden, sollen dazu beitragen, die Qualität von ADR im Hinblick auf Zugänglichkeit, Effizienz und Garantien einer guten Rechtspflege zu wahren, gleichzeitig aber auch mehr Flexibilität zu ermöglichen. Um diese beiden Zielvorgaben zu erreichen, wäre vorab zu klären, ob dabei nach einem sektoralen oder einem globalen Ansatz vorgegangen werden sollte und ob bei den zu treffenden Maßnahmen zwischen Online-Schlichtungsverfahren und herkömmlichen Verfahren unterschieden werden sollte oder nicht.

3.1 Mögliche Ansätze
(55) Die Reaktionen auf das Grünbuch - Antworten auf die darin formulierten Fragen sowie allgemeine Stellungnahmen - sollen Aufschluss darüber geben, in welcher Weise sich die Kommission für die alternative Streitbeilegung einsetzen könnte und inwieweit beispielsweise ein Interesse daran besteht, auf Gemeinschaftsebene Regeln über alternative Streitbeilegung einzuführen. Diese Regeln sollten die von den Gemeinschaftsinstitutionen bereits unternommenen oder geplanten Arbeiten zu operationellen, finanziellen und sachbezogenen Aspekten von ADR in jedem Fall ergänzen. Für die Bestimmung der Rechtsgrundlage sind der genaue Inhalt und die beabsichtigte Tragweite der Regeln ausschlaggebend.
(56) Erkennen die Mitgliedstaaten die Zweckmäßigkeit solcher Regeln an, wären deren Anwendungsbereich, Verbindlichkeit und Inhalt festzulegen und der geeignete Rechtsakt - Verordnung, Richtlinie oder Empfehlung - entsprechend den ins Auge gefassten Maßnahmen zu bestimmen. Die aufgrund des Grünbuchs und der damit einhergehenden Konsultation getroffenen Maßnahmen müssten im Übrigen den Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Artikel 5 EGV und dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entsprechen111.
(57) Sollte eine Regelung auf Gemeinschaftsebene nicht zustande kommen, könnte die Kommission zwecks weiterer Annäherung der einzelstaatlichen ADR-Vorschriften und -Praktiken ihre Anstrengungen zur Förderung der Forschung und Zusammenarbeit im Bereich des vergleichenden Rechts insbesondere zwischen Rechtswissenschaftlern und Praktikern, einschließlich Richtern und Sachverständigen, fortsetzen. Ziel der Zusammenarbeit könnte die Festlegung gemeinsamer Prinzipien für jene Bereiche sein, für die ADR besonders geeignet ist. Denkbar wäre sogar die Ausarbeitung von Leitlinien oder besonderen Verhaltenskodizes für bestimmte Arten von ADR. Im Bereich des E-Commerce arbeiten die Fach- oder Verbraucherverbände auf Gemeinschaftsebene selbst Verhaltenskodizes für die Online-Dienste der Informationsgesellschaft gemäß Artikel 16 der E-Commerce-Richtlinie aus112. Zu prüfen wäre auch, ob die ADR-Beteiligten nicht gemeinsame Verhaltensregeln mit bestimmten Verfahrensgarantien für ADR auf regionaler oder internationaler Ebene festlegen könnten. (58) In den beiden ersten Abschnitten dieses Grünbuchs ("Überblick" und "Orientierung an bereits laufenden Arbeiten") hat die Kommission nicht nur von ihr bereits unternommene Arbeiten aufgelistet, sondern verweist auf die politische und rechtliche Bedeutung verschiedener Initiativen, die gegebenenfalls ergänzend zu diesen Maßnahmen getroffen werden können. Dazu hat sie folgende Fragen formuliert:

Frage 1: Gibt es Problemstellungen, die im Bereich der alternativen Streitbeilegung ein Vorgehen auf Gemeinschaftsebene rechtfertigen würden? Wenn ja, welcher Art sind diese Probleme? Welchen Ansatz sollten die EU-Organe Ihrer Ansicht nach im Bereich der alternativen Streitbeilegung verfolgen? Wie weit könnten die Initiativen gehen?

Frage 2: Sollten die anzuwendenden Grundsätze lediglich für einen Bereich (z.B. Handelsrecht oder Familienrecht) festgelegt und die einzelnen Bereiche folglich differenziert betrachtet werden? Oder sollten die Grundsätze vielmehr so weit wie möglich auf alle Bereiche des Zivil- und Handelsrechts Anwendung finden?

Frage 3: Sollten bei den zu treffenden Maßnahmen zwischen Online-Schlichtungsverfahren, die im Zuge der neuen Technologien entstanden sind und sich durch ihnen eigene Besonderheiten auszeichnen, und herkömmlichen Verfahren unterschieden werden oder nicht?

Frage 4: Wie wäre eine stärkere Inanspruchnahme von ADR im Bereich des Familienrechts zu erreichen?

3.2 Globaler Ansatz
(59) Unabhängig von der Vorgehensweise der Gemeinschaft stellen sich eine Reihe von Fragen, die es zu klären gilt. Es handelt sich insbesondere um Anforderungen an den Rechtsschutz, an Qualitätsnormen und an die Stellung der ADR-Verantwortlichen.

3.2.1 ADR und Rechtsschutz
(60) Im Abschnitt "Überblick" zeigt die Kommission auf, welche Rolle ADR-Verfahren generell unter dem Aspekt des Zugangs zum Recht für jedermann spielen können. Die effektive Funktionsweise von ADR muss ebenfalls aus diesem Blickwinkel untersucht werden. Weitere Fragen betreffen die Reichweite der Vertragsklauseln zur Inanspruchnahme von ADR, Verjährungsfristen, Vertraulichkeit, Wirksamkeit von ADR und die Verantwortung der ADR-Verantwortlichen.

3.2.1.1 Inanspruchnahme von ADR
(61) In einigen Mitgliedstaaten kann das Gericht von Rechts wegen erst dann angerufen werden, wenn zuvor ein ADR-Verfahren stattgefunden hat113. Diese Rechtsvorschriften beziehen sich jedoch auf bestimmte Rechtsbereiche und gelten somit nur begrenzt. Die Mitgliedstaaten bieten ADR in der Regel lediglich als Option an: Entweder die Parteien folgen dem Vorschlag des Gerichts, oder die eine Parteimacht einen Vorschlag, den die andere Partei akzeptiert.
(62) Die Vertragsklauseln zur Inanspruchnahme von ADR dürften allerdings insofern das Recht auf Zugang zur Justiz beeinträchtigen, als sich dadurch die Anrufung des Gerichts verzögern kann oder das Gericht letztlich gar nicht mehr eingeschaltet werden darf114. ADR-Verfahren könnten somit den Zugang zur Justiz im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Artikels 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verhindern115.
(63) Wird ADR in Anspruch genommen, erfolgt dies in der Regel im Einvernehmen der Beteiligten. Die Freiheit der Zustimmung manifestiert sich in allen Verfahrensphasen. Besteht zwischen den Parteien ein Vertragsverhältnis, können sie für den Fall etwaiger Streitigkeiten Vorkehrungen treffen und eine Vertragsklausel vorsehen, wonach sie bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Vertragserfüllung zunächst eine Lösung im Wege von ADR suchen müssen. Aber auch wenn ihr Vertrag keine solche Klausel enthält, steht es ihnen frei, ein ADR-Verfahren in Anspruch zu nehmen, an dem ein Richter beteiligt sein kann.
(64) Somit stellt sich die Frage, ob diese Klauseln zwingend vorgeschrieben werdensollten. Schließlich ist es nicht sinnvoll, jemanden gegen seinen Willen zur Teilnahme an einem ADR-Verfahren zu verpflichten, da der Erfolg des Verfahrens von derKooperationsbereitschaft der Beteiligten abhängt.
(65) Können die Parteien frei über ihre Rechte verfügen und kommen sie ihren Verpflichtungen aus der ADR-Vereinbarung nicht nach, ist die Lösung in der Auslegung des Parteiwillens und im Vertragsrecht zu suchen. Ruft eine Partei das Gericht an und bekundet damit ihre Weigerung, an einem vertraglich vereinbarten ADR-Verfahren teilzunehmen, könnte dies als Verstoß gegen eine Vertragsverpflichtung sanktioniert werden. Aufgrund der Weigerung könnte der mit einer Klage wegen mangelnder Erfüllung anderer Vertragsbestimmungen befasste Richter die Klage als unzulässig abweisen. Die Verweigerung eines ADR-Verfahrens könnte auch als Verletzung des Gebots von Treu und Glauben ausgelegt werden.
(66) Die Tragweite derartiger Klauseln ist vor allem mit Blick auf ein etwaiges Kräfteungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien zu prüfen. Die Mitgliedstaaten haben dem Schutz der schwächeren Vertragspartei, z.B. Angestellte kontra Arbeitgeber, Mieter kontra Eigentümer, Versicherungsnehmer kontra Versicherungsunternehmen, Verbraucher kontra Unternehmen, Einzelhändler kontra Großhändler, Produzenten kontra Einkaufszentralen, Gesellschafter (Minderheitsaktionär) kontra Unternehmen, in ihren Rechtsvorschriften eine gewisse Bedeutung eingeräumt.
(67) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Richtlinie 93/13/EWG116 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen Klauseln zur Inanspruchnahme von ADR-Verfahren im Zusammenhang mit Verbraucherverträgen nicht grundsätzlich untersagt. Gemäß der Richtlinie ist eine "Vertragsklausel, die nicht im einzelnen ausgehandelt wurde, als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht". Die Richtlinie umfasst einen Anhang mit einer Liste von Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können, z. B. Klauseln, mit denen "dem Verbraucher die Möglichkeit, Rechtsbehelf bei Gericht einzulegen oder sonstige Beschwerdemittel zu ergreifen, genommen oder erschwert wird".

Frage 5: Sollen die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten angeglichen werden, damit die Klauseln zur Inanspruchnahme von ADR-Verfahren in rechtlichen Hinsicht etwa gleichwertig sind?

Frage 6: Wenn ja, sollten die Klauseln generell Geltung haben, oder sollte ihre Geltung begrenzt sein, wenn sie Teil von allgemeinen Geschäftsbedingungen, Vertragsformblättern oder speziell von Verbraucherverträgen sind?

Frage 7: Welche Tragweite sollten die Klauseln haben?

Frage 8: Sollte gegebenenfalls sogar festgelegt werden, dass bei einem Verstoß gegen die Klauseln das Gericht den Fall zumindest vorläufig abweisen kann?

3.2.1.2 Verjährungsfristen
(68) Der Rückgriff auf ADR dürfte insofern das Recht auf Zugang zur Justiz beeinträchtigen, als die Klagefristen dennoch weiterlaufen würden. Nach einem gegebenenfalls gescheiterten ADR-Verfahren hätten die Streitparteien unter Umständen keine Gelegenheit mehr, den Rechtsweg zu beschreiten, oder ihre Verjährungsfristen hätten sich ohne Grund de facto verkürzt.
(69) Die Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten sehen bei Inanspruchnahme bestimmter ADR-Instanzen eine "Aussetzung" der Klagefrist vor117. Eine Förderung der alternativen Streitbeilegung wäre also auch durch die Änderung der zivilprozessrechtlichen Verjährungsfristen möglich. Die Frist könnte bei Beginn des ADR-Verfahrens unterbrochen werden und würde wieder ab dem Zeitpunkt beginnen, zu dem das Verfahren ergebnislos beendet wurde.
(70) Eine solche Regel könnte allerdings insofern problematisch sein, als ADR-Verfahren genau definiert werden müssten und Anfang und Ende präzise festzulegen wären.
(71) Der Fall einer grenzübergreifenden Streitigkeit, bei der die Beteiligten in einem Mitgliedstaat an einem ergebnislosen ADR-Verfahren teilgenommen haben, für die jedoch die Gerichte eines anderen Mitgliedstaates zuständig sind, macht deutlich, wie wichtig es ist, dass in allen Mitgliedstaaten dieselbe Regelung gilt, und zwar sowohl hinsichtlich ihres Inhalts als auch der Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme. Das Zivilverfahrensrecht des zuständigen Gerichts ("lex fori") könnte beispielsweise die Aussetzung der Verjährungsfristen in dem betreffenden Streitfall vorsehen, doch müssten die Parteien hierzu den Nachweis erbringen, dass sie tatsächlich an einem ADR-Verfahren teilgenommen haben, das in dieser Zeit stattgefunden hat.

Frage 9: Müssten die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten angeglichen werden, damit die Frist zur Klageerhebung ausgesetzt wird, wenn ein ADR-Verfahren in Anspruch genommen wird?

3.2.2 Qualitätsmindestnormen
(72) ADR sind zwar flexibel, müssen aber dennoch gewisse Qualitätsmindestnormen beachten, darunter einige wichtige Verfahrensgrundsätze. So folgen ADR im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens öffentlich-rechtlichen Vorgaben und finden unter Aufsicht eines Richters statt. Bei nichtgerichtlichen ADR wählen dagegen die Parteien die Verfahrensgrundsätze, indem sie sich beispielsweise an den Verfahrensmodellen
der Berufsverbände oder an Verhaltenskodizes orientieren. Es stellt sich somit die Frage, wie sich die Anwendung der Verfahrensgrundsätze am besten gewährleisten lässt. Beispielsweise kämen Initiativen der Berufsverbände selbst in Frage nach dem Vorbild der IT-Dienstleistungen. Diese Initiativen werden von der Kommission aktiv gefördert, doch stellt sich ihr die Frage, ob es nicht notwendig ist, die Beteiligten dazu anzuhalten, die Umsetzung dieser Initiativen durch Dritte stärker zu kontrollieren und Gütesiegel (sog. Trustmarks) und Zertifizierungsverfahren einzuführen118. Die Förderung solcher Selbstregulierungsinitiativen könnte durchaus das Vertrauen in die alternative Streitbeilegung stärken, ohne dass ihre Anpassungsfähigkeit und Attraktivität darunter leidet, und den Rückgriff auf weniger flexible Verfahren der öffentlichen Gewalt vermeiden helfen.
(73) Wie bereits im Zusammenhang mit Verbraucherrechtsstreitigkeiten erwähnt, hat die Kommission zwei Empfehlungen zu den außergerichtlichen Einrichtungen angenommen, die für die Beilegung von nationalen oder grenzübergreifenden Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind119. Es soll gewährleistet werden, dass ADR den Parteien gewisse Mindestgarantien wie Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Transparenz, Effizienz und Achtung des Rechts bietet. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit der Organe gestärkt, die diesen Kriterien entsprechen.
(74) Bei der Festlegung dieser Grundsätze hat die Kommission danach unterschieden, ob der ADR-Verantwortliche förmlich zu der möglichen Konfliktlösung Stellung bezieht120 oder die Parteien lediglich bei der Suche nach einer gütlichen Einigung unterstützt. Interveniert er bei den Verhandlungen formell, muss er hinsichtlich seiner Unabhängigkeit besonderen Anforderungen genügen, und das Verfahren muss
kontradiktorisch aufgebaut sein, d. h. jede Partei muss Gelegenheit erhalten, ihren Standpunkt darzulegen, und die Parteien müssen über jedes Vorgehen der anderen Partei informiert werden und Kenntnis von den Dokumenten oder Beweisen erhalten, die diese vorlegt, und über die vorbehaltlos verhandelt wird. Hat der ADRVerantwortliche im Verfahren weniger Gewicht, können weniger strenge Anforderungen gelten. In der ersten Empfehlung werden sieben Prinzipien genannt: Unabhängigkeit, Transparenz, kontradiktorisches Verfahren, Effizienz, Rechtmäßigkeit, Handlungsfreiheit und Vertretung. Die Prinzipien in der zweiten Empfehlung lauten Unparteilichkeit, Transparenz, Effizienz und Fairness. (75) Der ersten Empfehlung der Kommission wurde bereits gefolgt. Sie wurde in den Mitgliedstaaten umgesetzt, wie die Zahl der von den Mitgliedstaaten notifizierten Einrichtungen zeigt, die im EEJ-Net zusammengeschlossen sind und die sich die Grundsätze der Empfehlung zu eigen gemacht haben. Die Leistungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des FIN-NET gründet auf dieser Empfehlung und auf der Einhaltung ihrer Grundsätze. Im Gemeinschaftsrecht kommt dieser Empfehlung überdies eine besondere Bedeutung zu121. Auch die zweite Empfehlung wird von allen Beobachtern übereinstimmend als nützlich angesehen. Diese Empfehlungen müssen sich zwar in der Praxis erst noch bewähren, doch empfiehlt es sich, bereits im Rahmen der Konsultationen zu diesem Grünbuch die Meinung der Fachkreise zur Leistungsfähigkeit dieser Empfehlungen einzuholen.
(76) Da die in den Empfehlungen niedergelegten Grundsätze in der Praxis bereits Wirkung zeigen, wären im Zuge einer solchen Stärkung der Gemeinschaftsinitiative Überlegungen über neue Maßnahmen anzustellen, die über das Verbraucherrecht hinaus weitere Rechtsbereiche abdecken könnten. Diese im Verbraucherrecht verankerten Grundsätze könnten mit den notwendigen Anpassungen durchaus für alle ADR-Verfahren nützlich sein. In dem bereits erwähnten Beschluss vom 29. Mai 2000 stellt der Rat in Bezug auf das Grünbuch und etwaige weitere Arbeiten zur alternativen Streitbeilegung Folgendes fest: "Vorrang wird das Bemühen um Aufstellung allgemeiner oder auch speziell auf bestimmte Bereiche zugeschnittener grundlegender Prinzipien haben, die die erforderlichen Garantien dafür bieten sollen, dass die Streitbeilegung durch außergerichtliche Instanzen den für die Rechtspflege gebotenen Grad an Verlässlichkeit bietet."
(77) Stützen sich ADR auf bestimmte Mindestverfahrensgarantien, können sie als allgemeine Grundsätze gesetzlich festgelegt werden und auf sublegislativer Ebene in Form von Verhaltenskodizes angewandt und weiter entwickelt werden. Die wesentlichen Verfahrensgrundsätze können somit zu berufsethischen Regeln werden, die für das Funktionieren der alternativen Streitbeilegung eine besondere Rolle spielen. Ihre Entwicklung verdeutlicht das Bemühen der Praktiker, die Qualität der alternativen Streitbeilegung zu gewährleisten. Die Verfahrensvorschriften zielen auf die Unparteilichkeit des ADR-Verantwortlichen, die genaue Bestimmung der Rolle, die der ADR-Verantwortliche im Verfahren spielt, die präzise Festlegung der Fristen, innerhalb deren eine Lösung gefunden werden muss, sowie die erforderlichen Modalitäten für den Abschluss von Vereinbarungen. Diese Regeln könnten wesentlich zur Verbesserung der alternativen Streitbeilegung beitragen.
(78) Der Kommission erschien es außerdem wichtig, unter den Mindestverfahrensgarantien die Achtung der Vertraulichkeit besonders herauszuheben.

3.2.2.1 Vertraulichkeit
(79) In den meisten Fällen wünschen die Parteien, die an ADR-Verfahren teilnehmen, dass die während des Verfahrens mündlich oder schriftlich ausgetauschten Informationen gegebenenfalls bis zum Vorliegen eines Ergebnisses vertraulich behandelt werden. Vertraulichkeit ist offenbar die Hauptvoraussetzung für den Erfolg der alternativen Streitbeilegung, weil die Parteien auf dieser Basis offen und ehrlich miteinander umgehen können. Es muss dafür gesorgt werden, dass ADR-Verfahren nicht dazu missbraucht werden können, an Beweismittel zu gelangen, die bei einem Scheitern des Verfahrens anschließend vor Gericht verwendet werden. Die Verpflichtung zur Vertraulichkeit gilt sowohl für die Streitparteien als auch für den ADRVerantwortlichen.
(80) Zur Vertraulichkeit sind zunächst die Parteien selbst verpflichtet. Die Informationen, die während des Verfahrens zwischen ihnen ausgetauscht werden, sollten daher bei einem etwaigen späteren Gerichts- oder Schiedsverfahren nicht als Beweismittel zugelassen werden können, wobei bestimmte Ausnahmen denkbar wären. So könnten die Parteien einvernehmlich beschließen, für einen Teil des Verfahrens oder das gesamte Verfahren auf Vertraulichkeit zu verzichten. Bestimmte Aspekte des ADRVerfahrens sollten von einer Partei preisgegeben werden können, wenn das Gesetz dies vorschreibt. Eine Partei sollte auch die Vereinbarung, durch die der Streit mit der anderen Partei beigelegt wird, veröffentlichen können, wenn dies zur Umsetzung oder Durchführung der Vereinbarung erforderlich ist.
(81) Der ADR-Verantwortliche ist ebenfalls zu absoluter Vertraulichkeit verpflichtet. Teilt ihm eine Partei in einem Gespräch, an dem die andere Partei nicht teilnimmt, bestimmte Sachverhalte mit, muss er gegenüber der anderen Partei Stillschweigen bewahren. Mit Hilfe des Vertraulichkeitsgebots lässt sich im Übrigen die Rolle des ADR-Verantwortlichen im Verfahren präziser bestimmen, und zwar im Hinblick auf die Garantie eines fairen Verfahrens. Soll der ADR-Verantwortliche aktiv an der Suche nach einer Lösung beteiligt werden, muss er unbedingt den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens beachten und darf mit den Parteien Einzelgespräche nur mit dem Ziel führen, eine Einigung herbeizuführen. Endet das Verfahren mit einer Empfehlung oder einer Entscheidung des ADR-Verantwortlichen, muss die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass der ADR-Verantwortliche im Laufe des Verfahrens eine Partei zu einem vertraulichen Gespräch einlädt. Im Abschnitt "Fairness" der erwähnten Empfehlung der Kommission vom 4. April 2001 heißt es dazu wie folgt: "Werden von einem Dritten Lösungen zur Beilegung der Streitigkeit vorgeschlagen, so sollten beide Parteien Gelegenheit haben, ihren Standpunkt darzulegen, sowie sich zu sämtlichen Argumenten, Angaben oder Beweismitteln, die von der anderen Partei