Mein Motiv das Foto aufzunehmen war zunächst nur der Szenenwitz. So etwas wie ein kostbarer Zufall. Dann glaubte ich, dass es sich um ein gutes Wahrnehmungstraining handeln könnte. Als Trainer sucht man ständig nach anschaulichen Beispielen, mit denen sich Botschaften und Erkenntnisse über Mediation vermitteln lassen. Der Betrachter dieses Bildes kann z.B. Hypothesen üben. Würden Sie auf Anhieb und ohne nachzudenken 6 solcher Annahmen hinbekommen?

  1. Da hat jemand seine Schuhe weggeworfen.
  2. Die Schuhe sehen noch gar nicht kaputt aus. Nur dreckig. Warum sollte man so etwas wegwerfen? Vielleicht eine Hinterlassenschaft. Der ursprüngliche Eigentümer mochte seine Schuhe und wollte nicht, dass sie im Müll landen sondern an den Füßen von jemandem der die Schuhe noch tragen mag.
  3. Da hat jemand ein Bild inszeniert. Warum hat er die Schuhe dann aber nicht wieder mitgenommen?
  4. Da hat jemand die Schuhe gefunden und wollte sie deutlich sichtbar aufbahren, damit der Verlierer sie besser finden kann. So etwas spart den Weg ins Fundbüro.
  5. Es ist ein geheimer Briefkasten. Die Botschaft lautet "Wir gehen nicht mehr zusammen".
  6. Der Bettler um die Ecke mit den schlechten Schuhen soll die Schuhe finden aber nicht wissen, wo sie herkommen.
  7. Der Träger war betrunken.
  8. Der Träger hat sich neue Schuhe gekauft und sich nicht getraut die alten im Geschäft abzugeben.
  9. Der Träger hat sich plötzlich überlegt auf den Strümpfen weiterzugehen oder barfuß. Die Strümpfe hat er womöglich in den Abfalleimer geworfen.
  10. ...


Spätestens jetzt ist die Neugier hoffentlich so groß, dass man Lust hat nachzufragen. Vielleicht wird jetzt deutlich, warum die Neugier als ein wichtiges Merkmal der Haltung des Mediators angesehen wird. Dann hat sich das Foto schon gelohnt. Die Neugier hindert vorschnelle Interpretationen. Sie motiviert dazu, tiefer zu gehen. Folgen wir der Motivation und lassen uns weiter auf die Szene ein. Als nächstes beschreiben wir die Szene (Beobachtung) wie dies ein Mediator machen würde. Wir trainieren den Kinobesucher, die Bildbeschreibung von außen nach innen und den 3-er Schritt der Wahrnehmung. Jetzt stellt sich die Szene wie folgt dar:

Am Rand des Bordsteines an einer wenig befahrenen Straße steht ein Abfallbehälter. Es ist ein relativ großer Behälter, der nicht für die Aufnahme eine speziellen Mülls gekennzeichnet ist. Das Loch in der Mitte ist auch groß genug, dass mehr hindurch passt als nur Papier. Auf dem Abfalleimer stehen Schuhe. Die Schuhe gehören zu einem Paar. Es sind Schnürstiefel. Etwas schmutzig; ohne genauer hinzuschauen kann man nicht sehen, ob sie zerschlissen sind. Sie sehen nicht kaputt aus und befinden sich in einem Zustand, als wären sie für einen Bettler ein gefundenes Fressen. Sie könnten auch noch als Arbeitsschuhe herhalten. Es macht nicht den Eindruck als wären die Schuhe achtlos weggeworfen worden. Sie hätten durchaus durch das Loch des Abfalleimers gepasst. Interessant ist die Stellung der Schuhe. Sie sind einander abgewandt. Der rechte Schuh steht links und der linke Schuh steht rechts. Der linke und der rechte Schuh stehen so nebeneinander als würden sie zu unterschiedlichen Beinen gehören oder als hätte man die Beine überkreuzt. Sie stehen nicht in Wanderstellung.

Bemerkenswert ist die Anordnung insofern, als sie eine Metapher etwa für eine Beziehung liefern oder für die Prozesshaftigkeit der Mediation.

Würden die Schuhe sich drehen, würde sich ausser der Richtung nichts ändern. Sie kämen sich nicht näher. Dreht sich nur einer würden sie sich noch mehr entzweien. Gingen sie auf direktem Weg aufeinander zu, fielen sie in das Loch. Die richtige Strategie ist es, weiter zu gehen und zwar in die selbe Richtung. Dann treffen sie am Ende des Loches zusammen. Jetzt können sie verhandeln, wer über wen steigt, damit der linke Schuh links und der rechte Schuh rechts stehen kann. Oder sie einigen sich auf eine andere kulturelle Annäherung. Wer sagt denn schon, dass ein linker Schuh zwingend links gehen muss?

Was würde ein Mediator tun?
Laufen lassen. Der Rand des Abfalleimers lässt keine andere Richtung zu als die Richtige.