Psychologie Teil 2
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Nebenfächer Psychologie I Psychologie II Konflikt Persönlichkeit
Wir danken Prof. Dr. Hugo Schmale und Caroline von Frankenberg für die Überlassung des Skriptes.Quellenhinweise finden Sie im Literaturverzeichnis.1
Gliederung des Skripts
- Persönlichkeitspsychologische Grundlagen der Mediation
- Das Referat (der Vortrag) als Skript
- Verstehende und erklärende Psychologie
- Charles Sanders Peirce‘ Semiotik
- Abduktives Schließen
- Alternative Wege der Wahrheitssuche
- Die struktural-psychoanalytische Theorie
- Woher wir die Kraft beziehen und das Motiv für unser Tun
- Der psychische Apparat und das Freud’sche „Durcharbeiten“
- Die Einbeziehung des kulturellen Umfelds
Persönlichkeitspsychologische Grundlagen der Mediation
Dieses Skript basiert auf einem Vortrag von Prof. Dr. Hugo Schmale und Caroline von Frankenberg auf einer Mediationskonferenz im Jahre 2020. Der Vortrag wurde außerordentlich gelobt. Die Teilnehmer hoben hervor, dass das vermittelte Wissen und die Erfahrungen generell für Mediatoren verfügbar sein sollte. Prof. Dr. Hugo Schmale war deshalb so freundlich, den Vortrag als das folgende Referat vorzulegen. Das Referat setzt sich mit dem Verstehensprozess aus psychoanalytischer Sicht auseinander. Es unterstreicht die Bedeutung der Mediation vor diesem Hintergrund und ergänzt den Beitrag über das Verstehen sowie die Herletung der kognitiven Mediationstheorie. Nur der Vollständigkeit halber, wird die Videoaufzeichnung nachfolgend verlinkt.
Das Video zeigt den Vortrag von Prof. Dr. Hugo Schmale und Caroline von Frankenberg auf der Konferenz des Verbandes integrierte Mediation am 3. und 4. Oktober 2020 in Frankfurt. Das Theme der Konferenz lautete Mediation im Alltag. Leider ist die Video- und Tonqualität nicht besonders gut. Die präsenten Teilnehmer hatten zwar nicht unter der Tonqualität zu leiden. Sie warten jedoch von dem Inhalt der auf 2 Stunden komprimierten Vorlesung über die Persönlichkeitspsychologie erschlagen. Weil es ihnen kaum gelang, alle Informationen zu notieren, wurden die Vortragenden gebeten, den Vortrag schriftlich nachzureichen. Prof. Dr. Hugo Schmale war so freundlich, dieser Bitte nachzukommen.
Das Referat (der Vortrag) als Skript
Mediation ist, besonders in der „integrierten“ Ausgestaltung von Arthur Trossen, mehr als ein Verfahren zur Vermittlung zwischen Parteien, die in irgendeiner Hinsicht sich in einer strittigen Situation befinden und professionelle Hilfe brauchen.2 Für Trossen ist Mediation „kein Verhandlungskonzept“, sondern ein „Verstehenskonzept“, und er stellt einen, wie er sagt, „hinter der Mediation verborgenen Erkenntnisprozess“ in den Vordergrund. Die betonte „integrierte“ (gemeint ist: integrierende, integrative) Ausgestaltung unterstreicht eine programmatische Vielfalt der Ansätze, Methoden und Zielsetzungen. Alledem stimmen wir voll zu.
Auf diesem Hintergrund möchten wir Ihnen einige Gedanken für die persönlichkeitspsychologischen Grundlagen der Mediation zur Diskussion stellen, auf die wir unsere Beratungsarbeit aufbauen, veranschaulicht durch Beispiele aus unserer Praxis. Die häufigsten Fälle von Mediation in unserer Praxis liegen
- zwischen individueller Begabung und Beruf (Berufswahl, Arbeitssituationen),
- zwischen den Generationen (Eltern-Kind, Generationswechsel in Familienunternehmen),
- zwischen Personen und Institutionen (Arbeitsplatz Orchestermusiker) und
- in der Partnerschaft (Partnerwahl und „Ehe-TÜV“).
In einer Berufsberatung wird eine Begabungs- oder Eignungsuntersuchung notwendigerweise immer dann auch eine Mediation, wenn es darum geht, den Betroffenen und sein Umfeld von unseren Vorschlägen zu überzeugen, etwa einen vorgeschlagenen Beruf zu ergreifen oder bestimmte Studiengänge zu belegen. Dabei stößt man auf einen Wall von vorgefassten Meinungen, unrealistischen Erwartungen, liebevoll gepflegten Vorurteilen und plattem Unwissen, sowohl, was die eigene Begabung und berufsbezogene Persönlichkeitsstruktur betrifft, als auch die beruflichen und studienfachlichen Anforderungen.
Persönlichkeitspsychologische Perspektiven können in der Mediation helfen, die Problemgeschichte eines Falles besser zu beleuchten, die Hintergründe und Zusammenhänge zu erkennen und die Ziele der Mediation zu definieren. Dabei wird rasch klar, dass Mediation nicht nur zwischen Individuen notwendig ist, sondern auch intraindividuell: Eine ratsuchende Person tritt ja nicht als ein eindeutiges, einheitliches und festgefügtes Ganzes vor uns, sondern als ein Knäuel vielfältiger innerer Möglichkeiten, mit interessanten durchaus sinnvollen und realisierbaren Ambivalenzen, aber auch voller störender und unlösbarer Widersprüche. Das verlangt gleichermaßen eine intrapsychische Motiv- und Interessensanalyse, wie die zwischen den Individuen miteinander streitender Parteien. Darüber hinaus besteht die mediative Aufgabe oft auch darin, zwischen Individuen und Institutionen zu schlichten. Ich habe es zum Beispiel häufig mit Fällen zu tun, dass Orchestermusiker beginnen, gegenüber ihrem Dienstherren (Stadt oder Land) eine Krankheit zu verschweigen, weil sie befürchten müssen, im Dienstplan übergangen zu werden, wenn die Orchesterleitung aus überzogen ehrgeizigen Qualitätsansprüchen (etwa zu den besten Orchestern der Welt gezählt zu werden) unter den Musikern eine Aura von Angst und Schrecken verbreiten. Wir haben deswegen einen entsprechenden Kreis von Fachärzten zusammengeführt, die auf inoffiziellem Weg zu helfen versuchen.
Fangen wir mit der Behandlung von Problemen an, die sich in unserer konkreten Arbeit bei dem Versuch des Erkennens und Verstehens ergeben können. Es kursieren nämlich zwei ganz verschiedene Begriffe von Erkenntnis, die leider häufig gegeneinander ausgespielt werden, was unsere Arbeit sehr erschweren kann.
Auf der einen Seite steht eine betont naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, die von der Scientific Community derzeit in den Vordergrund gestellt und gern in die Neurowissenschaften eingegliedert wird. Sie geht allein auf die Realisierung objektiv „erklärender“ Lösungen aus und ist methodisch darauf begrenzt, menschliches Verhalten zu beobachten, gewissermaßen in „Draufsicht“ (Verhaltenstheorie, Behaviorismus). Ihr steht eine eher „mit Einsicht“ arbeitende Psychologie gegenüber, die „verstehende“ Psychologie. Beide Wege sind sinnvoll und notwendig, sie ergänzen sich. Hier greift Arthur Trossens Forderung: integrieren! Wir müssen methodisch immer beides im Auge haben: einen empirisch-funktionalistischen, Objektivität anstrebenden Kurs fahren, aber darüber eine subjektorientierte, qualitative und sozialkritische Betrachtungsweise nicht zu kurz kommen lassen.
Verstehende und erklärende Psychologie
Die Unterscheidung zwischen „verstehender“ und „erklärender“ Psychologie geht auf den Philosophen Wilhelm Dilthey zurück (1833-1911). Er entwickelte ein „lebensphilosophisches“ Fundament, auf dem sich das menschliche Leben und die Formen seines Ausdrucks nicht nur nach Naturgesetzlichkeiten „erklären“ lassen, sondern es möglich macht, die Eigengesetzlichkeit des menschlichen Geisteslebens zu „verstehen“.
Eine entsprechende mit Einsicht arbeitende, verstehende Methode ist die Hermeneutik. Sie versucht, eine hier und jetzt geschehende und immer in Bewegung befindliche „Lebenswirklichkeit“ zu erfassen. Das verlangt von uns vier Fähigkeiten:
- Wir müssen uns auf menschliche Zustände einlassen, um sie wirklich und konkret im Hier und Jetzt erleben zu können.
- Wir müssen diese Zustände als Austausch von „Lebensäußerungen“ sehen und behandeln.
- Wir müssen diese in all ihren Einzelheiten und Zusammenhängen als ein Ganzes verstehen - und
- Wir müssen dabei berücksichtigen, dass dies immer kontextabhängig abläuft, niemals absolut (nie als ein bloßes „An-sich“), sondern immer im Versuch, das Einzelne durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen zu verstehen und das Ganze durch das Einzelne (als ein „Für-sich“). Dilthey spricht in diesem Zusammenhang von einem „hermeneutischen Zirkel“. Das ist keineswegs ein logischer Fehler, sondern das Wesen des Verstehens.
Nun verwenden wir zum Beispiel in unseren Berufsberatungen streng auf Naturwissenschaft und Statistik basierte Testverfahren. Wie lässt sich das mit diesen Ansprüchen vereinbaren?
“An sich” besteht der Intelligenzquotient in einem Profil aus Testergebnissen (Sprachliche, abstrakte und anschaulich-praktische Intelligenz) Die Testergebnisse ergeben sich auf der Basis eines Vergleichs der individuellen Testleistung mit einer repräsentativen Stichprobe Gleichaltriger. Das hilft dem Probanden aber nicht ohne weiteres, seine Intelligenz und die Förderung derselben (für sich) zu nutzen: Es hilft ihm nicht zu wissen, dass er einen IQ von 120 hat, wenn er nicht adäquat damit umgehen kann, etwa in sein Gesamtverhalten einzubringen.
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Ein weiteres Problem des Probanden ließ sich auf diesem Wege kären: Er hatte trotz exzellenter Zahlenlogik in Klassenarbeiten laufend schlechte Noten eingefahren. Wir machten mit ihm eine semiotische Fehleranalyse dieser Klassenarbeiten und stellten fest, dass er immer dann zu falschen Lösungen gekommen war, wenn er die gestellte Textaufgabe nicht richtig interpretiert hatte.
Eine solche Analyse kann ein Leistung messender Test nicht leisten, weil er auf “saubere” Daten baut und Fehler grundsätzlich unbeachtet lässt. Wenn wir aber einem Menschen helfen wollen, müssen wir ihn als ein Ganzes sehen, zu dem auch seine Fehler gehören. Es geht in einer Berufsberatung nicht um die Logik “an sich”, sondern um die Beschreibung eines besonderen, einmaligen Menschen, “für sich”.
Charles Sanders Peirce‘ Semiotik
Die Besonderheit „verstehender“ Erkenntnismethoden und deren Überzeugungskraft lässt sich sehr gut durch die Arbeiten des US-amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce‘ aufzeigen.3 Peirce ist der Gründer der Semiotik, der „Lehre vom Zeichen“. In unserem Erkennen geht es uns immer um die Findung einer Wahrheit. Die klassische Definition von Wahrheit (schon bei Aristoteles) lautet: die Übereinstimmung von „Sache“ (Sachverhalt) und „Wort“ (Benennung). Peirce zeigte die Notwendigkeit auf, in diesen auf Erkenntnis zielenden Prozess einen „Interpretanten“ einzuführen, der in diesen Vergleich eine notwendig auf den jeweiligen Einzelfall bezogene individuelle Position bezieht. Das ergibt dann ein „semiotisches Dreieck“ mit den Eckpunkten
- die Sache, etwas, das bezeichnet werden soll (das Bezeichnete) – in der Semiotik nennt man das „Signifikat“,
- das bezeichnende Wort (das Bezeichnende) - in der Semiotik nennt man das „Signifikant“ und
- die Position (von der aus diese Übereinstimmung betrachtet wird) - in der Semiotik nennt man das „Interpretant“.
Ohne eine solche Positionsangabe lässt sich keine Erkenntnis gewinnen. Kant spricht in diesem Zusammenhang von den Erkenntnisformen von Raum und Zeit, an die alle menschliche Erkenntnis gebunden ist. Das heißt nicht, dass Wahrheit Ansichtssache ist. Aber es heißt, dass ein Interpretant immer mitgedacht und in unsere Überlegungen einbezogen werden muss, der Standpunkt, der Kontext, das Drumherum, die Situation.
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Das individuelle Wahrnehmungsurteil, das in der Interpretation zur Sprache kommt, muss als ein “Für sich” gesehen und als solches akzeptiert werden. Etwas nur von einem übergeordneten, allgemeinen Standpunkt - “an sich” - zu bewerten, kann bei der Schlichtung individueller Differenzen allein nicht weiterführen.
Solche „Interpretanten“ sind bereits unsere Sinnesorgane, mit denen wir die Welt wahr-nehmen: Augen und Ohren, die die Sinnesdaten aufnehmen, und Geist und Psyche, die die Daten verarbeiten. Letztlich also jedes individuelle Lebewesen mit allen seinen Vorerfahrungen und Situationsbezogenheit.
Peirce definiert in diesem Sinne den Begriff des „Zeichens“ genauer und schafft damit überhaupt erst die Voraussetzung dafür, die immer lebendig-wechselnde Wesensart geistig-seelischer Prozesse adäquat beschreiben zu können.
Ein „Zeichen“, klassisch verwendet, steht immer für etwas anderes, „repräsentiert“ immer etwas Bestimmtes und ist dadurch eindeutig definiert und fest („an sich“) mit einem bestimmten Sinn verbunden. Deswegen sind in der Digitalisierung in der Lage, Zeichen in binäre Ausdrücke zu übertragen, aber nicht fähig, „Sinn“ zu trans-portieren. Denn der Sinn von etwas ist nicht eindeutig bestimmbar – schon gar nicht im Falle geistig-seelischer Vorgänge. Die Psyche ist kein auf ein Objekt reduzier-bares Etwas, sondern immer ein Etwas „in der Schwebe“, notwendigerweise deutungsoffen und interpretationsbedürftig, allein schon, weil es situationsgebunden ist. Ergo: Ein Subjekt lässt sich nicht durch Zeichen repräsentieren, nicht eindeutig bestimmen, nicht festnageln, ohne die sachbezogenen und personellen Begleit-umstände zu berücksichtigen. Und deswegen ist es adäquater, zur Beschreibung geistig-seelischer Vorgänge das Konzept der Signifikanten zu verwenden, als von „Zeichen“ zu sprechen.
Signifikanten sind für sich alleinstehende Elemente eines Ausdruckgeschehens, die (an sich) ohne feste Bedeutung, also „sinnoffen“ sind. Ihre Funktion besteht lediglich darin, etwas zu bezeichnen (etwa durch Wörter), eben: sie sind etwas Bezeichnendes.
Signifikat hingegen nennt man das, was bezeichnet werden soll, das Bezeichnete.
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Konzepte wie “Gerechtigkeit” oder “Liebe” sind Signifikate.
Wir alle wollen Gerechtigkeit und Liebe. Wie aber beschreiben wir die konkreten, erlebten Erfahrungen von Gerechtigkeit oder Liebe? Versuchen Sie es einmal, und sie werden bald in endlose Erklärungsschleifen geraten.
Das geschriebene Recht (Gesetze) dient dazu, eine Vorstellung von Gerechtigkeit zu vermitteln und möglichst genau zu beschreiben. Gesetze sind also Signifikanten, die das Signifikat „Gerechtigkeit“ zwar nicht in seiner ganzen Bedeutung erfassen können, aber so gut wie möglich (“für sich”) in Worte zu fassen versuchen, so dass wir eine Ahnung davon bekommen, was damit (“an sich”) gemeint ist. - Das ist selbstverständlich in jeder Gesellschaft verschieden: was in China als “gerecht” gilt, muss in Europa nicht unbedingt auch als gerecht angesehen werden. Jeder Kulturkreis “interpretiert” die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat anders. Allgemein gültige Signifikanten für das Signifikat „Gerechtigkeit“ gibt es nicht. Und Zeichen schon gar nicht. (Hitlers Hakenkreuz bedeuet nicht dasselbe wie die Swastika der Inder, von denen er das Zeichen übernommen hat.) Dasselbe können wir am Begriff “Liebe” festmachen. Liebe ist ein „liebendes Verhalten“, das wir aber nie konkret und umfassend ausdrücken können. Geschenke oder Umarmungen, die wir uns als Liebende machen, sind Signifikanten. Was aber das Signifikat “Liebe” ist, wissen wir selbst nie genau und müssen es immer wieder neu “interpretieren”. Der eine liebt, indem er einen Diamanten schenkt, der andere, indem er Musik vor dem Fenster der Geliebten spielt. Wie der jeweils Andere das interpretiert, ist wieder eine andere Frage.
Das „barrierte“ Spannungsverhältnis zwischen Signifikant und Signifikat klärt die Beziehung zwischen Sache und Wort: Das Wort „repräsentiert“ die Sache. Die Verknüpfung von Wort und Sache ist keine Wahrheitsaussage, sondern stellt lediglich eine „Repräsentationsbeziehung“ dar. Nicht mehr und nicht weniger, wie auch in der menschlichen Kommunikation die Beziehung zwischen Gesagtem und Gemein-tem. Das ist es, was die „Barre“ besagt.
Unsere Erkenntnissprozesse, wie wir sie laufend machen, haben einen interessanten semiotischen Aspekt. Wenn man genau hinschaut, stellt man manchmal fest, dass der Interpretant, der in dieser „dreiwertigen Logik“ verlangte Vermittler, so etwas wie eine „Vorahnung“ vom Signifikat hat. (Ich hab so einen „Animus“... sagt man und meint: „Ich hab so eine Ahnung“ ...). Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart (1260 – 1328) nannte diese ahnungsvolle Verbindung des Signifikanten zum Signifikat „Wesensschau“. Goethe vermutete eine solche enge Beziehung zwischen einem Wahrnehmungsgegenstand und dem ihn wahrnehmenden Subjekt, wenn er schrieb: „Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken.“ - Gerade diese einerseits geheimnisvoll-unterschwellig verbundene und andererseits dennoch unbestimmbar-offene Eigenart der Sprache ist es wohl, die sie so bedeutungsreich wie bedeutungsoffen macht und dadurch erst die Möglichkeit schafft, psychische Zustände und Vorgänge in ihrer Tiefe zu erfassen. Aber sie birgt natürlich auch die Gefahr, dass wir durch Worte etwas erst erschaffen, was (an sich) so gar nicht existiert. Wir müssen also immer bedenken, dass es uns geschehen kann, dass wir, wenn wir etwas beschreiben, dadurch diese Sache und ihre Bedeutung erst erzeugen.
Hier ist das Problem des “Schubladendenkens” zu nennen:
Wenn man einen Menschen immer wieder darauf anspricht und vor anderen äußert, er sei “so verschlossen, lache nie, sei unsozial und unkommunikativ...”, dann folgt sehr schnell eine fixierende, diagnostizierende Einordnung, etwa: er habe eine Depression. Wenn dieser dies dann oft genug zu hören bekommt, hält er sich vielleicht bald selbst für depressiv - vor allem, wenn es aus sog. berufenem Munde kommt (Psychologe). Unter Umständen ist dieser Mensch aber einfach nur in seiner Wahrnehmung und Interpretation des Wahrgenommenen „anders“, als der Main-stream es erwartet und für angemessen hält.
Abduktives Schließen
All dies Denken geschieht auf dem Weg logischen Schließens. Dauernd schließen wir von einer Sache auf eine andere und verwenden dazu die Regeln der Logik. Vor allem zwei: Induktion und Deduktion.
- In der Induktion geht es um ein Schließen „von einer üblichen kontrolliert Daten beobachteten Regelmäßigkeit auf das Allgemeine“ (Peirce). Das ist die klassische experimentelle Methode der Naturwissenschaften und der als Naturwissenschaft behandelten Psychologie.
- Die Deduktion ist der Schluss „vom Allgemeinen auf das Einzelne“. Sie setzt ein anerkanntes Wissen voraus.
- Peirce machte auf eine dritte Form logischen Schließens aufmerksam und stellte diese in den Mittelpunkt, weil er sie für viel wichtiger erachtete und führte dafür die Bezeichnung „Abduktion“ ein. Denn, genau besehen: Deduktion leitet ja nur von einem bekannten Wissen ab, und in der Induktion werden Fakten gesucht, um eine bestehende Theorie zu verifizieren. Wirklichen Erkenntnisgewinn erlangen wir tat-sächlich nur in der Abduktion, in der eine erklärende Hypothese erst gefunden werden muss.
Nach Peirce ist Abduktion jene Art von Argument, in dem man von einer Erfahrung ausgeht, für die man keine vernünftige Erklärung hat, oder dass eine bisherige Über-zeugung nicht funktioniert oder dass ihr etwas zuwiderläuft und man deswegen nach einer besseren Erklärung sucht. Da ist viel Vermuten im Spiel, assoziatives Suchen nach Argumenten, klugen Einfällen, das Spielen mit Möglichkeiten, Alternativen, Herumraten, Peirce sprach sogar von „guessing“. In der Logik und in der Psycho-logie spricht man hier von einem mit starker Überzeugung gefällten „Wahrnehmungsurteil“.
Das Problemlösen in praktischen Lebensbezügen durch ein systematisches induktiv-experimentierendes Überprüfen, etwa einer Richtigkeit oder Funktionsfähigkeit, ist oft viel zu langwierig. Und manchmal nicht ohne Komik, wie in der Geschichte vom Wiener Grafen Poldi: Er wollte einer Dame eine Zigarette anzünden und versuchte dazu ein Streichholz anzuzünden. Aber das brannte nicht, auch ein zweites, drittes, viertes nicht. Und er konstatierte daraufhin, im Brustton einer auf Erfahrung insistierenden Erklärung: „Aber gestern haben sie noch alle gebrannt!“. Auch deduktives Ableiten aus einem vorliegenden Wissensstand bringt nichts Neues („Das hat sich bewährt! Das haben wir immer so gemacht!“ oder „Der liebe Gott wird‘s scho‘ richten!“).- Neue Erkenntnis und effektives praktisches Problemlösen verlangt ein konkretes abduktives „Wahrnehmungsurteil“ auf der Basis eines leben-dig-mutigen Zusammenspiels wacher Sinne und einer offen-ahnungsvoll klaren Vernunft. Auf jeden Fall und unbedingt in der medizinischen Diagnostik, in juristischen Verfahren, in der Kriminalistik, in der Psychologie. In der Mediation! Umberto Ecos Romane (Im Namen der Rose. etc.) sind Lehrstücke angewandter Semiotik und abduktiver Wahrnehmungsurteile. Ein erklärendes Beispiel. Zuvor aber allgemein, zusammenfassend:
- Am Anfang einer Abduktion steht etwas, das einen ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit einer bisherigen Vorstellung aufkommen lässt.
- Dann kommt es in einem zweiten Schritt zu einer Unterstellung, einer Annahme, wie etwas gelöst werden könnte.
- Der mögliche Gewinn besteht dann darin, eine neue Regelhaftigkeit mit überzeugendem Nachweis-Charakter und hoher „Überzeugungskraft“, Plausibilität, Erklärungswert gefunden zu haben.
Als konkretes Beispiel nehmen wir ein Rat suchendes Ehepaar.
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In einem solchen Fall könnte eine Abduktion zu einer Lösung führen, in deren Verlauf wir im Gespräch mit der Frau mögliche alternative Annahmen entwickeln könnten und alternative Interpretationen des Verhaltens ihres Mannes. Natürlich dasselbe auch auf Seiten des Mannes und seiner (Re)Aktionen auf das Verhalten seiner Frau. Wenn das im konkreten Fall positiv geklärt werden kann, dürfte der Ratschlag des Mediators aber nun nicht sein: “Geht zurück in die Zeit, in der ihr euch so wunderbar geliebt habt!”.
Slavoj Zizek, Psychoanalytiker und Philosoph, wendet diesen Fall auf das Christentum an. Er spricht vom Sündenfall und schreibt: „ Der Sündenfall ist „an sich“ sein genaues Gegenteil, das Auftauchen der Freiheit. Es gibt keinen Ort, aus dem wir herausgefallen sind; das, was davor war, war nichts als die stupide natürliche Existenz. Unsere Aufgabe besteht daher nicht darin, zu einer früheren „höheren“ Existenz zurückzukehren, sondern unser Leben in dieser Welt zu verändern.“4 Genau das raten wir dem Ehepaar, das sich trennen will und irgendwie doch nicht: Nicht zurück zu gehen in eine vergangene Zeit, sondern zu versuchen, heute einen neuen Anfang zu finden.
Freud hat abduktiv gearbeitet, er nannte dieses Vorgehen „Konstruieren“. Seine Entdeckung des Unbewussten war eine solche Abduktion. Ausgangssituation war das Bewusstsein, das dadurch entsteht, dass sich in unserer Wahrnehmung eine Wortvorstellung und eine Sachvorstellung miteinander verbinden. Nun lassen sich Fälle beobachten, dass diese Verbindung nicht so klappt, wie bewusst intendiert und sich etwas „Hintersinniges“ einschiebt. Freud nannte das „Fehlleistung“, etwa der „Freud’sche Versprecher“.
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Freud vermutet hinter einer solchen Fehlleistung einen verborgenen Sinn und macht nun einen abduktiven Schluss, indem er die These von der Existenz eines „Unbewussten" aufstellt: Es gibt im psychischen Apparat, der uns zur Erfassung der realen Welt zur Verfügung steht, einen Wirkbereich, der dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist, aber dennoch bei unserer individuellen Konstruktion unserer inneren und äußeren Welt mitwirkt. Diese These vom Unbewussten erweist sich ständig als ein nachweisbar gültiger und effektiver Erklärungsansatz für als wahrhaftig erlebte Erfahrungen, die im klaren Bewusstsein keinen erkennbaren Sinn ergeben.
Alternative Wege der Wahrheitssuche
Die zentrale Motivation, Wahrheit zu suchen, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Deswegen haben die Menschen alternative Wege der Wahrheitssuche entwickelt.
1. Die Funktion des Glauben als ein Für-wahr-halten
Im Gespräch mit einem Ratsuchenden hören wir auf dessen Erzählungen, Meinun-gen, Ansichten und private Mythen und versuchen, diese zu interpretieren. Dabei sind wir selbstverständlich zentral auf die Erfassung harter Daten gerichtet und darauf, aus den Erzählungen einen objektiven Zustand unseres psychischen Erlebens zu validieren. Vieles ist dabei aber anfänglich nur von einem Glauben getragen, Glauben im Sinne von Für-wahr-halten („ich glaube, ich nehme an, ich vermute“), mit dem Ziel, dieses Glauben nach und nach in den Bereich des Wissens zu über-führen, mit einem Gewissheitsanspruch und einem starken Gefühl von Wahrhaftig-keit. Zu glauben, ist ein menschliches Bedürfnis ganz bestimmter Art: Ich bin Ich nur dann, wenn eine Autorität mich glaubhaft anerkennt. Das erklärt die Wirkung von Übertragung und Gegenübertragung im Gespräch und das Zustandekommen von Urvertrauen. Die Kraft des Glaubens erstreckt sich vom ahnungsvollen Hoffen bis zur unerschütterlichen Gewissheit. Dazu Kants Definitionen:5
- „Ist etwas nur subjektiv ausreichend und zugleich objektiv für unzureichend gehalten, so heißt es „Glaube“.
- „Das sowohl subjektiv als auch objektiv zureichende Für-wahr-halten heißt „Wissen“.
2. Subjektive Wahrscheinlichkeit als ein Weg zum Wissen
Um der grundsätzlichen Ungewissheit alltäglicher Ereignisse beruhigend zu begeg-nen, wurde die registrierende und erklärende mathematische Wahrscheinlichkeits-theorie entwickelt. Im alltäglichen Erleben folgen wir jedoch eher einer „subjektiven Wahrscheinlichkeit“, die nicht so sehr induktiv, sondern hauptsächlich auf abduk-tiven Wegen wächst und mit der wir, weitgehend unbewusst, die meisten unserer Entscheidungen treffen.
3. Sogar Nicht-wissen kann manchmal ein Gefühl von Sicherheit vermitteln
Der Soziologe Georg Simmel hat bereits um 1905 darauf hingewiesen, dass Psyche und menschliches Zusammenleben notwendigerweise auch so etwas wie Ungewiss-heit, ja Unwissenheit und Geheimnis braucht. Viele Untersuchungen haben ergeben: Der vor einer Operation nicht bis in Einzelheiten aufgeklärte Patient hat im nach-operativen Heilungsprozess bessere Chancen. Peirce war vorher schon, wie gesagt, auf die denk- und gar lebensnotwendige Bedeutung des „guessing“ gestoßen: Ahnen kann oft wichtiger sein als Wissen.
4. Die Bedeutung eines „Wissens um...“
Wissen im Sinne von „Kenntnis haben von“ ist zweifellos ein zentrales Element und Ziel des Erkennens. Aber es gibt noch eine andere Art von Wissen, die Bedeutung hat, besonders da, wo es um das Erkennen von „Identität“ geht: Es gibt so etwas wie ein „Wissen um“. Das wird in der „Assoziationspsychologie“ des David Hume, dem schottischen Empiristen aus dem 18. Jahrhundert, anschaulich beschrieben (Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand). Danach ist das Ich ein „Bündel von Perzeptionen“. Das entspricht in etwa dem „Hypokaimenon“ des Aristoteles: Das Ich ist Träger von Eigenschaften. Aber nicht so, dass die Eigenschaften sich an einem schon vorher vorhandenen Ich ansiedeln, sondern das Ich bildet sich erst, indem Eigenschaften sich ansammeln. Danach hat „Identität“ etwas Fiktives. Denn der Eindruck von Identität kommt ausschließlich zustande durch das Erleben von Nähe und Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Wahrneh-mungsmomenten. Das dazu notwendige Mittel ist unser Bewusstsein. In unserem Bewusstsein haben wir ein übergeordnetes Erkennungsprinzip, um das gleichzeitige Nebeneinander verschiedener Empfindungen als ein Ganzes erfahren: Sachvorstel-lungen und Wortvorstellungen. Nehmen wir als Beispiel die Beziehung zwischen Bewusstsein, Begabung und Lesen:
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Die struktural-psychoanalytische Theorie
Die struktural-psychoanalytische Methode zur Beschreibung physio-psycho-sozialen Erlebens baut sowohl auf das phänomenologische Erkennen als auch auf die Einsichten der Semiotik auf und arbeitet ganz wesentlich mit Abduktion. Für mediatives Arbeiten sind folgende Eckpfeiler dieser Theorie von Bedeutung:
- Die psychische Struktur von Es, Ich und Überich
- Das Spannungsverhältnis zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip
- Die Triebtheorie
- Das Bewusstsein ist nicht identisch mit dem Ich. Es entsteht, wenn sich vor dem geistigen Auge Sachvorstellungen und Wortvorstellungen verknüpfen.
- Die Erkenntnisfunktion des Unbewussten
- Psyche als ein Gewebe von Verschiebung und Verdichtung, wie Schuss und Kette.
Ich möchte, kann und sollte vernünftigerweise hier vor Ihnen nicht das ganze Konzept Freuds und Lacans ausbreiten. Aber auf diese zentralen sechs Punkte möchte ich doch kurz eingehen, weil sie oft sehr ungenau oder gar falsch dargestellt werden
Zu 1: Die Aussage Freuds: „Wo Es war, soll Ich werden“ wird oft falsch verwendet, um damit eine bestimmte Zielvorstellung seelischen Erlebens zum Ausdruck zu bringen, die aber von Freud nicht so gemeint ist: Alles Unbewusste (dem Es zugeordnet) müsse bewusst gemacht werden (dafür steht das Ich). Aber das Es ist hier von Freud nicht substantivisch gedacht; „es“ ist hier als Pronom zu lesen. Es und Ich beziehen sich also nicht auf die (räumlich-örtlich verstandenen) psychischen Instanzen des Es und Ich.
Die Aussage Freuds spricht vielmehr den dynamischen Charakter der psychischen Struktur an. Das lässt sich besser erkennen, wenn man die Betonung im Sprechen verlagert: „Wo es war, soll ich werden.“
Zu 2: Das Lustprinzip ist nicht direkt und allein darauf gerichtet, Lust zu haben und zu mehren, sondern beschreibt eine Kraft in einem regulatorischen System. Man interpretiert Freuds Theorie häufig aus dem Blickwinkel der Lustbetonung. Das ist zu oberflächlich, kann aber hier nicht abschließend behandelt werden. Nur so viel: Freud war das Wort Lust zu doppelsinnig, weil es sowohl die Empfindung der Sexualspannung bezeichnet (ich habe Lust, ich verspüre den Drang), als auch die Empfindung der Lustbefriedigung (eine Form von betontem Zufriedensein: lustvoll).Trotz dieser Kritik entwickelte Freud das sogenannte „Lustprinzip“. Dabei geht es scheinbar, oberflächlich gesehen, in erster Linie um das Ziel, in allem Fühlen, Tun und Denken die Erfahrung von Lust zu mehren und Unlust zu reduzieren oder womöglich ganz zu vermeiden.
Merkwürdig ist jedoch, dass die Kulturgesellschaft auf dieses Lustmanagement nie eindeutig reagiert hat. Einerseits wird von einem braven Bürger verlangt, dass er alles, was er tut, mit „Lust“ tut: beim Denken, bei der Arbeit, im öffentlichen und im privaten Leben, alles und immer mit Lust und Leidenschaft angehen soll. Das klingt wie das Motto einer Spaßgesellschaft, einer Konsumgesellschaft, etwas für „Gewinner“. Aber schon Viktor Frankl, der 1989 verstorbene Wiener Psychoanalytiker, bemerkte die Fragilität dieser hochgestochenen Bewertungskategorie und meinte: „Je mehr es dem Menschen um die Lust geht, desto mehr vergeht sie ihm schon“.
Andererseits muss jemand, der danach strebt, sein Leben nach dem Lustprinzip auszurichten, damit rechnen, als suspekt angesehen zu werden und aus einer lust-feindlichen christlich-bürgerlichen Moral heraus verachtet zu werden, mit der Begründung, dass Lustbetonung individualistisch-egoistisch sei, hedonistisch (von hedone, griechisch Lust) und der Gemeinschaft schade.
Dazwischen liegt der weise Rat, kontrolliert lustig zu sein, nach dem Motto: „Wer höchste Lust erleben will, muss seine Leidenschaften zähmen“. Zu diesem Zweck wurde im Laufe unserer kulturellen Entwicklung für den Menschen ein seelischer Apparat entwickelt, der einem Regulationsprinzip folgt, das darauf gerichtet ist, die vom Es angestrebte Lust durch die Vorgaben des vom Ich gesteuerten Realitätsprinzips gewissermaßen zu „erden“, Affekte zu regulieren. die im Organismus vor-handene Erregungsqualität möglichst niedrig zu halten, in kleinen, ausgleichbaren Quantitäten und relativ konstant. Alles, was dies überschreitet, sei funktionswidrig und müsse als unlustvoll empfunden werden. Darüber wacht gewissenhaft das Über-Ich.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich also, dass es so etwas wie eine „zugelassene Lust“ gibt, die von lauter Geboten und Verboten umstellt und eingezäunt ist: Das Lustprinzip befindet wie ein Richter über das richtige Maß der Erregung, auf der Basis von Gesetzen, die dem Subjekt gebieten, zurückhaltend zu genießen. Mithilfe von Verboten („Inzestverbot“) und Strafandrohungen („Kastrationsdrohung“), die dem Verbotenen erst seinen Wert verschaffen, kontrolliert vom Gewissen. Aber Verbote zu überschreiten, reizt bekanntlich eher noch mehr und macht erst richtig Lust.
Ein anderer Umgang mit Lust, der auch offiziell empfohlen wird, ist der, Unlust möglichst zu vermeiden. Eine probate Strategie dieser Unlustvermeidung besteht darin, die Erregung (französisch „Jouissance“) erst gar nicht hochzufahren. Das ist dann aber eigentlich immer das Ende von Lust und Liebe.
Aus wiederholten Unlusterfahrungen vieler Menschen schloss Freud bekanntlich auf einen „Wiederholungszwang“, der konstitutiv für das ist, was wir „Seele“ nennen. Der Wiederholungszwang erklärt viele Verhaltensweisen, die, als Störungen erlebt, in der Mediation zur Behandlung kommen.
Zu 3: Die Triebtheorie ist im Zusammenhang mit dem Konzept der Homöostase zu sehen. Dabei sind drei Aspekte zu unterscheiden: (1.) Triebquelle, (2.) Triebziel und (3.)Triebobjekt. Darauf möchte ich im Zusammenhang mit der Frage nach der seeli-schen Kraft, der Motiv- und Interessensbildung eingehen.
Zu 4: Das Bewusstsein. Wenn uns etwas „bewusst“ wird, heißt das, dass wir im Geiste zwei verschiedene Vorstellungen miteinander verknüpfen, eine „Sach-vorstellung“ und eine „Wortvorstellung“. Im Prinzip also, wie schon Aristoteles Wahrheit definierte. Beide Vorstellungen sind vereinzelte „Erinnerungsspuren“ früherer Wahrnehmungen. Die Sachvorstellungen sind bildhaft. Wortvorstellungen stammen interessanterweise wesentlich aus akustischen Wahrnehmungen: Ein Wort ist der Erinnerungsrest eines gehörten Wortes; das visuelle Wort ist sekundär und kommt erst später durchs Lesen ins Spiel. Hier ist wichtig, was ich über David Humes Assoziationspsychologie gesagt habe.
Zu 5: Das Unbewusste (fälschlicherweise manchmal das Unterbewusste genannt) ist nicht gleichzusetzen mit dem Es, in das fälschlicherweise oft auch die Triebe ein-geordnet werden. Das Unbewusste ist auch nicht als ein Ort, räumlich zu verstehen. Vielmehr bezeichnet das Unbewusste eine umfassende und ständig auf unser Verhalten wirkende „psychische Realität“, die aber von unserem Bewusstsein nicht erfasst werden kann – eben, weil hier keine Verknüpfung zwischen Wortvorstellung und Sachvorstellung gelingt. Es gibt hier also keine Signifikanten. Lacan nennt diese psychische Realität das „Reale“. Bei der Besprechung des Realen werde ich genauer auf das Unbewusste eingehen.
Zu 6: Freud hatte in der Traumdeutung die Art und Weise, wie Träume arbeiten, um an Sinn und Bedeutung des Geträumten heranzukommen, als die allgemeine Arbeitsweise der Psyche erkannt, nämlich als ein System von „Verschiebung“ (das ist, kurz gesagt: ein zeitlich hintereinander ablaufendes erzählendes Erleben) und „Verdichtung“ (kurz gesagt: ein durch punktuelles Vergleichen zwischen dem Erzählten sinngebendes Deuten, Interpretieren). Jeder psychische Vorgang besteht so aus vielen „übereinander liegenden“ einzelnen Erlebnis- und Erzählschichten - und bekommt seinen Sinn im Vergleich zwischen diesen Schichten. So entsteht „Psyche“ wie durch Schuss und Kette beim Weben eines Tuches.
Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) „bürstete“ Freuds Ideen gegen die Theorie des Genfer strukturalistischen Linguisten Ferdinand de Saussure, die, wie Peirce‘ Semiotik, auf eine Definition des Zeichens als ein barriertes Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat fußt. Für Freuds Verschie-bung und Verdichtung erkannte er Metonymie und Metapher als die entsprechenden Begrifflichkeiten de Saussures.
Um Verschiebung und Verdichtung / Metonymie und Metapher genauer zu bechreiben, der folgende Fall:
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Interessant ist, dass der Vater in dieser metaphorischen Verdichtung seine Bemerkung über das Ankuscheln des Sohnes unberücksichtigt lässt. Auf diesem Wege entsteht ein „bezeichnendes“ Gewebe von Verschiebungen und Verdichtungen, das uns ein Bild von der psychischen Struktur des Vaters in Bezug zu seinem Sohn verschafft, und uns Vermutungen anstellen lässt über das im Ge-spräch angestrebte „Bezeichnete“, das Signifikat: seine vermeintliche Sohnesliebe. Oder ein anderes Beispiel.
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Woher wir die Kraft beziehen und das Motiv für unser Tun
Um sich ein Bild davon zu machen, woher wir die Kraft beziehen für unser Tun, ist das Prinzip der Differenz von zentraler Bedeutung. So wesentlich, dass ich mir zur Erklärung einen kleinen Umweg erlaube:
Lebewesen existieren nur aus und in einer jeweiligen Differenz. Wahrnehmen heißt Unterschiede wahrnehmen. Das ist allein schon neurophysiologisch bedingt, wenn eine Spannungsdifferenz an den Synapsen auftritt. Das entspricht dem Konzept der Homöostase.6 Unter Homöostase versteht man allgemein, technisch, einen Gleichgewichtszustand eines sich selbstregulierenden, offenen, dynamischen Systems. Sie dient in unserem speziellen Fall der Aufrechterhaltung des Lebens und zwar durch Konstanzerhaltung eines erlebbaren „inneren Milieus“.7 Das Prinzip ist auf Ausgleich gerichtet, aber seine Energie bezieht es aus einer Störung. Im Prinzip bezeichnet Homöostase den Zustand der Ruhe, letztlich des Todes. Erst die Störung der Homöostase liefert die energetische Vorbedingung für das, was wir „Leben“ nennen.
Freud verwendet in diesem Zusammenhang den Ausdruck Triebkraft und meint damit einen körperlichen Spannungszustand, in dem die Störung als die Triebquelle, die Beseitigung der Störung als das Triebziel und das Mittel, das wir dazu verwenden, als das Triebobjekt bezeichnet wird.
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Diese Philosophie der Optimalisierung der Umwelt wurde vor allem am Arbeitsplatz unter dem Konzept der Humanisierung der Arbeit realisiert: optimale Beleuchtung (1000 Lumen) und lärmfreier Geräuschpegel, konstant über den Tag. In diesem Sinne wurde in den 60er Jahren ein „responsive chair“ konstruiert, der seinem „Besitzer“ gleichbleibend optimales Sitzen versprach, indem er ihm alle sitzbezogenen Veränderungswünsche computer-gesteuert dem Bewusstwerden „vorauseilend“ erfüllt. Die Freude blieb natürlich auf Dauer aus. Die Erkenntnis aus dem Desaster: „Störungen“ des Wohlbefindens sind notwendig, um uns zum Handeln anzuregen und die Kraft zu erzeugen, die uns zum Handeln befähigt. Das sollten wir beherzigen, wenn wir die Ziele einer Mediation diskutieren.
In diesem Sinne kann der “Sündenfall” des Adam in der Bibel auch als “Erlösungsfall” umgedeutet werden. Dann liest sich das so: Adam ist des Zustands des blossen Seins im Paradies - das er ja als solches gar nicht erfahren konnte, da er keinen Mangel verspürte - erst durch den Genuss des Apfels vom Baum der Erkenntnis und durch die Vertreibung aus dem Paradies gewahr geworden: Es gibt einen „paradiesischen“ Zustand, den er (Adam) als etwas Neues anstreben muss, weil er ihn ja erst im Nachhinein, durch die Erkenntnis der Vertreibung, als “so schön” empfunden hat. Will heißen: Erst wenn ich die Liebe verloren habe, merke ich, wie wohl Liebe mir tut und wie wertvoll es ist, zu lieben - immer wieder aufs Neue.
Der psychische Apparat und das Freud’sche „Durcharbeiten“
Wir brauchen die Störung des Wohlgefühls in dem Sinne, wie in der Musik die Har-monie aus der dissonanten Spannung ihre Wirkung bezieht. „Unpassendes“ sollte von uns also nicht unbedingt immer nur als störend empfunden werden: Wir könnten auch Energie daraus ziehen. Um das zu kontrollieren, verfügen wir in unserem Ich über einen „psychischen Apparat“, mit dem wir, nach innen gerichtet, unsere Gefühls-, Gedanken- und Fantasiewelt wahrnehmen, und der uns, nach außen gerichtet, befähigt, eine Orientierung stiftende Realitätsprüfung vorzunehmen.
Und wenn uns dann im alltäglichen Erleben einmal etwas stört, wenn wir auf einen Widerstand stoßen oder etwas nicht wahrhaben wollen, kann es für unsere seelische Gesundheit und Funktionsfähigkeit durchaus wichtig sein, diese Problemlage aus dem klaren Bewusstsein des Hier und Jetzt, wie man psychodynamisch sagt, zu „verdrängen“. Wenn das nicht oder nicht ganz gelingt, suchen Menschen Hilfe in der Mediation.
Freud schlägt hier ein wirksames Verfahren vor, das er Durcharbeiten nennt. Mit dem Ziel, auch irgendwie „unpassende“ Erlebnisinhalte in den allgemeinen Lebensvollzug zu reintegrieren. Es geht dabei um den richtigen Umgang mit Verdrängun-gen und anderen Abwehrmechanismen mit denen man oft fälschlich versucht, von Störungen frei zu bleiben. Diese Form von Durcharbeiten ist lebensnotwendig, weil konstitutiv für unsere sozio-psychische Existenz.8 Beispiele für Abwehrmechanismen des Ich:
- Verschiebung
- Verschiebung wird genannt, wenn z.B.jemand, der Kinder sehr mag, aber selbst keine hat, seine Liebe auf Tiere “verschiebt”. Oder wenn jemand aus Karrieregründen im Beruf zurückgehaltene Aggressionen auf die Familie verlagert.
- Identifikation
- Identifikation (auch Introjektion genannt) besteht darin, Motive von anderen zu übernehmen. Das kann mühsame Lernarbeit ersparen, aber es kann auch den Aufbau von Eigenständigkeit hemmen. Man erwartet als “Lohn” beruhigend-absichernde Anerkennung, es birgt aber auch die Gefahr blinder Anpassung.
- Projektion
- Projektion nennt man, wenn eigene unliebsame Eigenarten “nach außen” verlegt werden, um mit dieser Eigenart draußen “besser” umgehen zu können und sich und anderen gegenüber “sauber” dazustehen. Lügner nennen dann andere Lügner, können das Lügen auf diesem Weg sogar bekämpfen und werden dann gar zu Wahrheitsfanatikern. Oder: Jemand tut etwas “Böses” und bezichtigt jemand anders einer Straftat. Schiebt man dann noch einen Tadel nach, wird der Böse gar zum Moralapostel.
- Reaktionsbildung
- Reaktionsbildung ist eine übertriebene Abwehrmassnahme, die man an einer auf-fallend übertriebenen Intensität eines vorgetäuschten Motives erkennt: Zärtliche Liebe kann so die Reaktionsbildung auf verbotenen Hass sein, besondere Tapferkeit und Heldentum die Reaktionsbildung auf Furcht.
- Sublimation
- Sublimation ist der wertvollste aller Abwehrmechanismen: Die Umorganisation ich-bezogener Impulse in gesellschaftlich wertvolle, d.h. mit sozialer Prämie versehene Motive. Sublimation ist die energetische Grundvoraussetzung jeder kulturellen Entwicklung.
Lacan „bürstete“, wie gesagt, den Freud’schen Ansatz gegen die Theorie des Genfer strukturalistischen Linguisten Ferdinand de Saussure und deckte dabei die tiefe wesenhafte Sprachbezogenheit der Freud‘schen Psychoanalyse auf. Lacan erklärt das Wesen geistig-seelischer Prozesse durch ein konstitutives Zusammenwirken von drei „Registern“, dargestellt im sogenannten Schema L oder im Bild der drei miteinander verknüpften Ringe des borromäischen Knotens. Diese drei Register sind
- das „Imaginäre“
- die „symbolische Ordnung und
- das „Reale“.
Zu 1: Lacan geht davon aus, dass der psychische Prozess mit einer Empfindung beginnt, die im wesentlichen noch ein physiologischer Vorgang ist, gefühlhaft, nie genau fassbar. Lacan nennt diesen Bereich “Das Imaginäre“ (von Image, bildhaft).
Zu 2: Diese bewusst nicht fassbaren Empfindungen können nur durch Übertragung, Übersetzung, Einbindung in die „symbolische Ordnung“ (Sprache, übergeordnete Systeme, Gebote, Verbote, gesellschaftliche Werte usw.) bewusst gemacht werden. Dieser Übersetzungsversuch von imaginären „Vorstellungen“ in verständliche Sprache, „Ordnungssyteme“, kann aber grundsätzlich nie voll und ganz gelingen.
Zu 3: Es bleiben unausdrückbare Reste, mengenmäßig weitaus überwiegend, das „Reale“ oder, in der Sprache Freuds, die „seelische Realität“. Was sich der Verbali-sierung entzieht, geht aber nicht verloren, sondern wirkt aus einem unbewussten Hintergrund heraus mit großer Eigenenergie mitbestimmend auf unser Verhalten.
Jede psychische Regung läuft im Zusammenspiel dieser drei Register ab und muss in einer psychologischen Beschreibung als ein Ganzes gesehen und behandelt werden. Zusammenfassend: Das so gewonnene psychische Material wird in Form von Signi-fikanten in das Geist und Psyche ergebende Gewebe von Verschiebung und Ver-dichtung eingebracht. Das geschieht in der Absicht, sich einen Sinn, eine Ahnung vom jeweils angestrebten Signifikat zu verschaffen und von dem, was mit den Signifikanten „eigentlich“ angestrebt ist. Manchmal erweist sich dann eine Ahnung besser als Wissen. Bei diesen Prozessen besitzt das Unbewusste, die psychische Realität, das Reale, eine konstitutive Notwendigkeit.
Lacan beschreibt das Ablaufprinzip menschlichen Verhaltens sehr dicht und treffend so: „Das Gesagte skandiert den Diskurs, das Sagen hält ihn offen: Einfallstor für un desir, den Wunsch. Das Subjekt hat sich in dem zu verorten, was ihm zuerst als Begehren des Anderen erscheint.“ (Lacan: Encore).
Mit anderen Worten: Jeder von uns macht die tägliche Erfahrung, dass das Gesagte nicht das Gemeinte ist. Die Psychoanalyse, die „Rede-Kur“, geht vom Gesagten aus. Das Gesagte ist, wenn sie so wollen, das „Verhalten“, das dem Behavioristen die Beobachtungsdaten liefert. Aber die aufgenommenen Daten (Wörter) werden hierbei nicht wie Zeichen behandelt (die ja immer für etwas Bestimmtes stehen), sondern als ein System von Signifikanten, wobei alles Aufscheinende von der Psyche durch Verschiebung und Verdichtung verarbeitet wird. Auch Symptome sind verschobene und verdichtete Signifikanten.
Die Einbeziehung des kulturellen Umfelds
Im Umgang mit einem konkreten Fall müssen wir, bei der Zieldiskussion von Mediation, trotz aller Objektivität (mit Blick auf die Sachlage „an sich“) einen Standpunkt beziehen (mit Blick auf die subjekt-orientierte Problemlage „für sich“), und dies in dreifacher Hinsicht: zur Beschreibung, zur Beurteilung und zur Ausrichtung auf Art und Ziel unserer Einflussnahme.
Ich bin der Meinung, dass es im wesentlichen zwei Entscheidungen im Leben eines Menschen sind, die viele andere Entscheidungen mitbestimmen:
- die Wahl unseres Berufes und
- die Wahl unseres Lebenspartners.
Daraus ergeben sich zwei hauptsächliche Anwendungsbereiche unsere Beratungstätigkeit.
Zu 1: Mediation im Rahmen der Berufswahl.
Dazu verwenden wir die von mir entwickelte Berufseignungstestbatterie (BET), die aus 12 Einzeltests zur Erstellung eines Begabungsprofils besteht, mit den Intelli-genzfaktoren Sprache, Abstraktionsvermögen und praktisch-anschauliche Intelli-genz und weiteren Begabungsmermalen. In einer effektiven Beratung müssen wir, wie eingangs schon betont, auch methodisch immer beides im Auge haben: einen empirisch-funktionalistischen, Objektivität anstrebenden Kurs fahren, aber darüber eine subjektorientierte, qualitative und sozialkritische Betrachtungsweise nicht zu kurz kommen lassen.
Nun ist ein psychologischer Test formal ein statistisches Verfahren zur Einordnung von erhobenen individuellen personellen Daten in gruppenspezifische Normal-verteilungen einer bestimmten Population und ein korrelationsstatistischer Vergleich dieser Datensätze mit einem „Außenkriterium“, bei einem Berufseignungstest der Berufserfolg. Dabei ist von Bedeutung, welche „Erfolgskriterien“ wir heranziehen. Aber auch dies muss bedacht werden: Wenn einem Beruf nur Menschen mit vorbestimmten Eigenschaften in Gestalt eines statistisch validierten beruflichen „Anforderungsprofils“ zugeführt würden, kann das das bestehende Berufsbild allzu sehr festschreiben und weitere Entwicklung behindern. Das verlangt einen über-geordneten gesellschaftlich-kulturspezifisch wertorientierten Gesamtblick. Solche Überlegung müssen auch bei der Zieldiskussion unserer Beratungen angestellt werden.
Wir versuchen konkret, naturwissenschaftliches Erklären und geisteswissenschaft-liches Verstehen zusammenzuführen, indem wir die in Tests gewonnenen „harten“ Daten durch sogenannte „projektive“ Verfahren zu ergänzen, etwa den Rorschach-Test, der auf geisteswisssenschaftlich-phänomenologischen und psychoanalytischen Erkenntnissen beruht und wichtige Einsichtsmöglichkeiten in individuelle und gesellschaftliche Bedeutungsgehalte möglich macht.
Die Notwendigkeit der Ergänzung ergibt sich auch aus einem grundsätzlichen dia-gnostischen Problem „objektiven“ Messens. Es betrifft den menschlichen Wunsch, in seinem Verhalten möglichst den Erwartungen der anderen zu entsprechen. Das beeinflusst das Verhalten eines Jobsuchenden im Vorstellungsgespräch genauso wie beim Flirten (courting behavior), indem jeder versucht ist, einen möglichst gewinnenden Eindruck zu machen. Das gilt auch für die Beantwortung von Test-fragen. Es ist typisch für jede Art von Gespräch, ein Spezialfall von Übertragung und Gegenübertragung. Man nennt dieses Phänomen die „Soziale Erwünschtheit“ (social desirebility). Im Umgang mit einem Test ergibt sich dann die Möglichkeit, den Einfluss sozialer Erwünschtheit durch projektive Verfahren und durch eine bild-hafte, metaphorische Sprache zu umgehen, weil dann nicht so leicht erkennbar ist, worum es bei der Testfrage eigentlich geht. Parship arbeitet bewusst mit solchen Verfahren.
Zu 2: Mediation im Rahmen der Partnerwahl. Der Umgang mit Parship
Wir stoßen, wenn es um Liebesdinge geht, nicht selten darauf, dass der Unterschied zwischen Eros (Sexualität), Agape (wertschätzendes, uneigennütziges Lieben, nicht nur auf Menschen bezogen) und Philia (freundschaftliches Lieben) als gar nicht so groß erlebt wird. Vor allem, dass alle drei etwas ganz Wesentliches gemeinsam haben, nämlich den Anlass dafür, jemanden oder etwas zu lieben: In einem lieben-den Menschen findet man, wenn man genau hinschaut, immer eine „Kluft“, die als energetisierend empfunden wird, eine Kluft, die sich auftut zwischen einem sehn-suchtsvoll-begehrenden, aber weitgehend unbenennbaren Anspruch an irgend-etwas und von-irgendwoher und einem ahnungsvoll-glückvoll erlösenden, aber ebenso un-benennbaren Erfüllungsversprechen.
„Liebe“ ist unbezweifelbar ein tiefes Begehren des Menschen. Aber es ist, wie jedes Begehren, grundsätzlich nie ganz erfüllbar. Wahrscheinlich liegt gerade in der Unerfüllbarkeit des Liebesanspruchs unbewusst der besondere Reiz dessen, was wir Liebe nennen. Der Liebesanspruch ist unabhängig von der Befriedigung eines bestimmten Wunsches. Ein Wunsch verliert, wenn erfüllt, seine ursprüngliche Kraft, die Kraft des Begehrens bleibt. Deswegen müssen wir mit den Wünschen von Rat-suchenden sehr bedacht und behutsam umgehen.
Was ein Verfahren wie Parship, das als ein Instrument der Mediation angelegt ist, wirklich leisten kann, ist dies: Es kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, das partner-schaftliche Glück zu finden und den Weg dahin zu verbessern oder zu erleichtern. Und darüber hinaus kann es, neben dem Kennenlernen eines passenden Partners, dem Partnersuchenden helfen, seine Wünsche genauer zu erkennen und zu benen-nen, Wunschvorstellungen zu klären und partnerschaftliche Suchstrategien sinn-voller zu gestalten und zu verbessern. Wie und warum das hilfreich sein kann, kann man z.B. bei Christian von Ehrenfels nachlesen, einem österreichischen Philo-sophen, der die Gestaltpsychologie stark beeinflusste, wenn er schrieb, schon vor mehr als 100 Jahren: „Menschen nehmen ganzheitlich und gestalthaft wahr, höhere Lebewesen lernen durch Einsicht, nicht durch Versuch und Irrtum.“
Parship ist also, ganz pragmatisch gesehen, ein Versuch, aus der Schleife heraus-zukommen, in die wir deduktiv und induktiv eingebunden wurden: deduktiv, durch auf uns heruntergeladene Partnerschaftswünsche (abgeleitet aus vorgeschriebenen Normen und Werten der Gesellschaft und der Familie und von dem, was Peergroups und Medien uns nahelegen und was sonst alles in unser Über-Ich introjiziert wird) - und induktiv, durch Erfahrung, auf dem Weg von Versuch und Irrtum zusammen-gebauter Partnerschaftswünsche.
Die Grundidee ist: Wer einen Partner, eine Partnerin sucht, der/die zu ihm/zu ihr passt, sollte erst einmal wissen, wie er/sie selbst beschaffen ist und seine/ihre Eigenarten bei der Wunschbildung und beim Suchen berücksichtigen. Im Zentrum des Verfahrens steht daher ein Fragebogen, der die individuellen Partnereigenschaften erfasst. Das ist eine Art metonymischer Verschiebung von Signifikantenketten.
Um von deren Bedeutung zumindest eine Ahnung zu bekommen und um ein pro-gnostisches Instrument wie Parship daraus zu entwickeln, wurden die so gewonne-nen Daten auf dem Wege metaphorischer Verdichtung (Schuss und Kette) zu einem sinnvollen und effektiven „Matching-Verfahren“ gewebt.
So wird z.B.in einer Testskala das Maß für das persönliche Begehren nach einer bestimmten Mischung aus „Nähe und Distanz“ zu Personen und Sachen erfasst, die aus der Theorie des Soziologen Georg Simmel abgeleitet ist. Oder eine Testskala zur Erfassung von „Extraversion und Introversion“ aus der Theorie des Verhaltenspsychologen Hans Jürgen Eysenck. Oder Aussagen über das Verhältnis zwischen „Triebstärke und Überich-Kontrolle“ bzw. „Seelische Kraft und geistige Steuerung“ und das Verhältnis zwischen „Anpassung und Durchsetzung“ aus Theorien von Sigmund Freud erworben werden. Oder C.G. Jungs Theorie von „Anima und Animus“ herangezogen wird, nach der in jedem Menschen sogenannte „weibliche“ und „männliche“ Eigenschaften in einer individuellen Kombination zusammen-spielen, und die sich in einer guten Partnerschaft ergänzen müssen.
Aber auch hier besteht das Problem des Außenkriteriums. Die Gültigkeit dieser Merkmale für eine gut funktionierende Partnerschaft muss an einem Außenkriterium für den Erfolg einer Ehe überprüft werden. Aber woran kann mein eine funktionierende Ehe messen? Was zeichnet eine gute Partnerschaft aus? Die Dauer ließe sich quantifizieren, aber sie hängt von so vielen anderen Dingen, Ereignissen und Einflüssen ab, die nicht direkt mit der Qualität der Beziehung zusammenhängen und durch Nebenkriterien verzerrt werden: situative, raum-zeitliche und vor allem finan-zielle, die gebotene Rücksicht auf das Kindeswohl und auch die Rücksicht auf mögliche Weiterentwicklungen der Partner, ihres Umfeldes und in Hinblick auf die Vorstellung, was Glücklichsein bedeutet. Dabei war die theoretische Validität grundlegend hilfreich.
Die Diskussion der Kriterien unserer Zielsetzungen erweist sich als ein zentrales Anliegen der Mediation. Das geht nicht ohne ständige Beobachtung der realen Lebensbezüge. Deswegen arbeite ich an einem „Ehe-TÜV“, einem Leitfaden für ein Gespräch zwischen Partnern, um ihre Situation in verschiedener Hinsicht miteinander abzugleichen.
Prof. Dr. Hugo Schmale
Caroline von Frankenberg
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Alias: Persönlichkeitspsychologie
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