Marokko
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Es geht um ein Verfahren der Streitbeilegung aus der islamischen Welt. Hier finden sich Parallelen zur Mediation. Bitte beachten Sie auch:
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Die offizielle Bezeichnung, die sich das Land selbst gibt, lautet: al-Mamlaka al-Maghribīya. Sie ist mit „Das Königreich des Sonnenuntergangs“ zu übersetzen. Bezüglich der Mediation ist eher vom Land des Sonnenaufgangs zu berichten. Tatsächlich ist die Mediation in Marokko keine neue Idee zur Lösung von Konflikten. Es gibt sowohl kulturelle Ursprünge wie wirtschaftliche Ansatzpunkte.
Marokko
Das Königreich des Sonnenuntergangs
Inhalt
Die Mediation findet ihre Ursprünge in der islamisch-traditionellen Form der Konfliktregelung „Sulh“ (Vergebung, Aussöhnung) sowie in den tribalen traditionellen Kodexen, welche das Zusammenleben und die Handlungen in der Gemeinschaft und zwischen den Gemeinschaften (innertribal und intertribal) besonders in den berberischen Gebieten statuierten. Diese Formen der alternativen Konfliktbeilegung sind durch ihre Vermittlungs- und Ausgleichsgedanken der Mediation sehr ähnlich und spielten in der Geschichte des Umgangs mit Konflikten in Marokko eine große Rolle. Allerdings hat sich dies seit Anfang des 20. Jahrhunderts geändert. Durch das Protektorat und die kolonialen auferlegten Gesetze haben die Vermittlungs- und Ausgleichsgedanken mehr und mehr an Bedeutung verloren. Auch nach der Unabhängigkeit in 1956 spielten sie eine immer geringere Rolle. Die Rechtspolitik entschied sich eher für eine zunehmende Verrechtlichung und Institutionalisierung von Konfliktlösungsverfahren.
Erst nach der Jahrtausendwende hat Marokko die Mediation wiederentdeckt. Die Inthronisierung des Königs Mohammed VI. und die von ihm initiierten Reformen zur Demokratisierung und Modernisierung des Landes trugen dazu bei, den Mediationsgeist zu neuem Leben zu erwecken. So wurde die marokkanische Wahrheits- und Versöhnungsinstanz (Instance Equité et Réconciliation - IER) im Rahmen der Übergangsjustiz sowie die Institution Mediator des Königreichs (zur Förderung der Mediation und Vermittlung zwischen Bürgern und Behörden zur Stärkung des Rechtsstaates) ins Leben gerufen. Jedoch hat Marokko erst im Rahmen seiner Bestrebungen, tiefgreifende Wirtschaftsreformen durchzuführen, insbesondere um seine strategische Positionierung als interessanter Investitions- und Geschäftsstandort zu verstärken, die Mediation neben Schiedsgerichtsverfahren als alternative Konfliktsbeilegung in seiner Gesetzgebung verankert. Das am 6.12.2007 verkündete Gesetz 08-05 zur Änderung der Zivilprozessordnung stellt den rechtlichen Rahmen für Mediation in Marokko dar, wobei der Gesetzgeber ausschließlich die außergerichtliche gerichtsferne Mediation (médiation conventionnelle) im Gegensatz zur gerichtsnahen Mediation (médiation judiciaire) in Betracht gezogen hat. Seitdem wird versucht, die Mediation nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Sozialen sowie im öffentlichen Bereich zur Anwendung zu bringen.
I. Der geschichtliche Ursprung der Mediation
Die traditionelle Formen der Streitbeilegung spielten in der Geschichte des Umgangs mit Konflikten in Marokko eine große Rolle. Sie hatten eine subtile Wirkung auf die Gesellschaft und dienten dazu Frieden zwischen Individuen, Familien, Stämmen oder Dörfern wiederherzustellen. Diese uralten institutionellen Formen der Streitbefriedung zeichnen sich durch ihre Vermittlungs- und Ausgleichsgedanken aus, welche auch die Gedanken der Mediation sind. Ihre Ursprünge finden sie in der islamisch-traditionellen Form der Konfliktregelung „Sulh“ (Aussöhnung, Vergebung) sowie in den tribalen traditionellen Kodexen „‘Urf“, welche das Zusammenleben und die Handlungen in der Gemeinschaft und zwischen den Gemeinschaften (innertribal und intertribal) besonders in den berberischen Gebieten statuierten.
In diesem Abschnitt werden die islamisch traditionellen sowie die berberischen Komponenten der Mediationsgeschichte in Marokko dargestellt und abgegrenzt. Ferner wird das Beispiel des traditionellen Wirtschaftsmediators vorgestellt: „Amin Al Hirfa“.
1. Die arabisch-islamische Tradition
Der Islam ruft die ganze Glaubensgemeinschaft (arab. Umma) auf, Frieden anzustreben. So steht im Koran: „Gott lädt ein zum Haus des Friedens“ (Qur‘an 10:25). Das Friedensverständnis im Islam wird durch den Namen Gottes „As-Salam“ bestimmt: Gott ist Friede . Das arabische Substantiv „Islam“ (wörtlich: Hingabe (an Gott)) geht auf die Wurzel s-l-m mit der Bedeutung von Friede zurück. Der islamische Grundsatz der Friedensbestrebung spiegelt sich in dem traditionellen muslimischen Friedensgruß: „As-Salamu Alaikum“, zu Deutsch ‚Friede sei mit Euch‘ wider. Der Friedensgruß hat auch eine rituelle Funktion: „nach jedem Gebet („Salat“) wenden die Muslime den Kopf nach rechts und links und entbieten den Friedensgruß der ganzen Schöpfung“. Das Ziel des Islam ist somit Frieden zu finden, indem man sich Gott unterwirft und Frieden in allen nur denkbaren Bereichen zu erlangen: Frieden mit Gott, Frieden mit sich selbst, Frieden mit den Mitmenschen, Frieden mit der Umwelt.
Demnach ist die harmonische Beziehung sowohl innerhalb der Familie und der Gemeinschaft, als auch zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott und zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen aufrechtzuerhalten. In Konfliktsituationen sind die Gläubigen dann verantwortlich die Harmonie im eigenen Interesse wiederherzustellen. In diesem Zusammenhang bevorzugt der Koran zur Konfliktlösung Gewaltlosigkeit gegenüber Gewalt und Vergebung (arab. ‘Afw) gegenüber Vergeltung (Qur’an 42:40):
Grundsätzlich werden zwei Institutionen der außergerichtlichen islamischen Konfliktlösung unterschieden: Sulh und Tahkim.
a) Sulh: Aussöhnung nach Koran und Sunna
Der arabische Terminus Sulh bedeutet Versöhnung, Aussöhnung, Friedensschluss, er wird aber auch als Vergleich -im rechtlichen Sinne- verstanden.
Das Konzept Sulh stellt einen Prozess der einvernehmlichen Schlichtung verschiedener Arten von Konflikten durch die Versöhnung von Konfliktparteien dar. Es wird im Koran und der Sunna ausdrücklich als Methode der Konfliktlösung begrüßt. So gilt es in der islamischen Jurisprudenz als der ethisch und religiös beste Weg, einen Streit beizulegen. In fast allen islamischen Rechtschulen gilt die Maxime: „Sulh (Versöhnung) ist das beste aller Urteile“ .
Explizit wurde das Wort „Sulh“ an einer Stelle im Koran zitiert, in Sure 4:128 (Qur‘an 4:128):
Jedoch ist die Wurzel s-l-h in etlichen Versen zu finden. Nachfolgend ein paar Beispiele (Qur‘an 4:114):
Und (Qur‘an 49:10):
„Und wenn zwei Parteien der Gläubigen miteinander streiten, so stiftet Frieden unter Ihnen; und wenn sich die eine gegen die andre vergeht, so kämpfet gegen die, welche sich verging, bis sie zu Allahs Befehl Ordnung zurückkehrt. Und wenn sie zurückkehrt, so stiftet Frieden unter ihnen in Billigkeit und übt Gerechtigkeit. Siehe, Allah liebt die Gerechtigkeit Übenden.“ (Qur‘an 49:9)
Außerdem favorisieren viele Ahadith eine aussöhnende Schlichtung anstelle eines Gerichtsurteils:
Der Prophet Mohammed sagte:
Der Prophet sagte zu seinem Gefährten Abu Ayoub:
Der Prophet sagte:
Diverse Quellen der Sunna bestätigen, dass der Prophet Mohammed bei Konflikten, verschiedener Art, Sulh anwandte . Er trat nicht nur öfter als Schlichter auf, sondern vertraute sich auch Anderen bei Streitigkeiten an . Seine Gefährten und die frühe islamische Gemeinschaft nahmen sich diese bevorzugteste Beilegungsmethode des Propheten zum Vorbild. So wird überliefert, dass der Khalifa ‘Umar zu Prozessgegnern sagte: „Schickt sie zurück, bis sie sich versöhnen, denn das Urteil ruft Verbitterung hervor.“
So hat sich Sulh im Laufe der islamischen Geschichte als eine Institution der außergerichtlichen Konfliktbeilegung entwickelt. Dennoch gibt es methodische Unterschiede Je nach Land, Region und Gemeinschaft. Demzufolge unterscheiden sich Sulh-Verfahren hinsichtlich ihrer Gestaltung und Umsetzung in Abhängigkeit von den Traditionen, Brauchtümern und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Völker in der islamischen Welt.
Folglich spielen in den Gemeinschaften im Mittleren Osten die beduinischen Gebräuche eine wichtige Rolle. In vielen Ländern der arabischen Halbinsel konnte sich diese traditionelle Konfliktlösungsmethode mit ihrem eigenen Charakter bis heute behaupten, vor allem in ländlichen Regionen und dort, wo großes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen herrscht. In diesem Teil der islamischen Welt bezeichnet sich Sulh als ein stark ritualisierter Versöhnungsprozess .
Hingegen hat das Konzept des Friedenschlusses in Marokko seine Wurzeln in der vorislamischen berberischen Urtradition „‘Urf“.
Allgemein wird in Marokko Sulh als Vergleich verstanden, wobei auch hier wieder der Gedanke der Versöhnung im Vordergrund steht. Der Schwerpunkt liegt nicht auf einem ritualisierten Prozess, sondern das Ergebnis des Vergleichs, nämlich der Vergleichsvertrag, steht im Vordergrund. Das marokkanische Recht sieht sogar in verschiedenen Artikeln die optionale bzw. obligatorische Anordnung von Sulh vor, um ein Gerichtsverfahren bzw. den Streit zu beenden oder zu vermeiden.
Das sachliche Anwendungsgebiet von Sulh ist umfassend. Es kommt bei Konflikten aus dem sozialen Nahraum (z. B. Familie, Nachbarn) und anderen Streitfällen zivilrechtlicher Natur (z. B. Kaufgeschäft, Land- und Wasserrechte), sowie in strafrechtlichen Fällen (z. B. Körperverletzung, Mord) zum Einsatz . Im islamischen Kulturkreis ist das Konfliktverständnis gemeinschaftsorientiert. Dies führt dazu, dass die Konflikte zwischen Individuen meistens auch Konflikte in Kollektiven wie Familie, Stamm, Dorfgemeinschaft, etc. Ausgetragen werden. Dabei stellt die durch den Konflikt beschädigte Ehre bzw. Würde der Opferseite das wesentliche Konfliktmotiv dar. Im Rahmen des Sulh-Verfahrens wird versucht, dass sowohl Opfer als auch Täter die Chance bekommen, ihre „beschmutzte“ Ehre „reinwaschen“ zu können . Dadurch zielt die Streitbeilegung darauf, die Konsensfähigkeit beider Parteien zu erhöhen und die soziale Harmonie zu bewahren. Einige Ausnahmen gibt es bei Betrug und Einbruch bzw. Diebstahl. Da diese einen Ehrverlust ohne Möglichkeit der Wiedererlangung nach sich ziehen, können solche Vergehen nicht durch Sulh verhandelt werden.
b) Tahkim
Eine weitere Form der Konfliktbeilegung in der islamischen Tradition ist Tahkim, welches sich am ehesten als Schiedsgerichtsverfahren übersetzen und beschreiben lässt. Die Wurzel h-k-m steht unter anderem für urteilen, entscheiden und beurteilen. Unter Tahkim versteht man eine formelle Schlichtung bzw. ein Schiedsgerichtsverfahren, wobei der Schiedsrichter nicht nur ein einfaches Urteil über die Konfliktparteien fällt, sondern strebt, ihre Aussöhnung zu erreichen . für diese Methode gibt es auch eine Quelle im Koran. Dabei wird Tahkim nicht direkt als Verfahren erwähnt, sondern es wird von „Hakam“, Schiedsrichter, gesprochen (Qur’an 4:35):
In dem Vers steht „Hakam“ für die Schiedsrichter, von welchen es mindestens zwei geben soll, zumindest in Schiedsgerichtsverfahren bei Ehestreitigkeiten. Der Koran spricht hierbei also eine Empfehlung für Schiedsverfahren bei ehelichen Konflikten aus. Nach der islamischen Friedenstheologie, gilt es nicht nur innerhalb der kleinen Einheit, nämlich der Ehe bzw. der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, auf eine gewaltfreie Streitschlichtung durch Schiedsgerichtsverfahren hinzuwirken, sondern es gilt auch für die größere Einheit, sprich also für die Gesellschaft (Stamm, Dorf, etc.), bis hin zur gesamten islamischen Gemeinschaft . Zugleich steht das Prinzip von Tahkim ebenfalls in Verbindung mit der Aussöhnung bzw. friedlichen Konfliktlösung.
Insofern beschränkt sich das Schiedsverfahren nicht auf Konflikte, die im Eheleben entstehen. Ebenfalls werden privatrechtliche Streitigkeiten, vermögensrechtliche Dispute und internationale Konflikte als für Schiedsgerichtsbarkeit geeignet betrachtet.
Die Internationale Islamische Fiqh Akademie hat in ihrer „Entschließung Nr. 91 (8/9) über die Sache: Schiedsverfahren in der islamischen Jurisprudenz“ das Verständnis von Tahkim definiert und seine Hauptmerkmale dargestellt. Demnach versteht es sich als Einigung der Streitparteien über die Ernennung einer neutralen dritten Partei, die gemeinsam mit ihnen eine Lösung für den Konflikt unter Anwendung islamischer Normen und Regeln findet.
Die Durchführung des Tahkim-Verfahrens obliegt fünf Elemente:
- Die Anwesenheit der Konfliktparteien bzw. deren Vertreter (arab. Muhakkimin)
- Die Anwesenheit des Schiedsrichters (arab. Hakam)
- Der Auftrag bzw. das Abkommen zum Verfahren (Sigha)
- Der Streitgegenstand (Mawdua‘)
- Das Urteil (Hukm)
Entscheiden sich die Parteien für Tahkim, müssen sie sich zunächst auf die Ernennung des Schlichters einigen. Die Parteien haben bei der Auswahl des Schiedsrichters volle Mitbestimmungsfreiheit. Der Letztere ist an Recht und Gesetz gebunden und darf nicht nach eigenem Belieben entscheiden. Anhand der Positionen und Argumente der Konfliktparteien wird das Urteil gefällt. Die Teilnahme an das Verfahren erfolgt zwar aus eigener Freiwilligkeit, es besteht jedoch die Pflicht der Parteien, sich mit dem Entscheidungsspruch des ordnenden Schiedsrichters einverstanden zu erklären. Das Schiedsurteil ist bindend, hat gerichtlichen Charakter und ist unanfechtbar und ebenso durchsetzbar wie das Urteil eines Richters.
2. Die berberische tribale Tradition
a) ‘Urf, das berberische tribale Gewohnheitsrecht
Ähnliche Verfahren wie das Sulh und Tahkim findet man in den berberischen Urtraditionen aus vorislamischer Zeit. Die Berber, auch Amazigh genannt, stellen die autochthone Bevölkerung Marokkos dar. Ihre Sitten, Brauchtümer, und Gewohnheiten bildeten das s.g. ‘Urf (auch Izrf bzw. Imzura auf Tamazight ). Dieses ungeschriebene Gewohnheitsrecht organisierte das Zusammenleben und die Handlungen innerhalb des Stammes bzw. der Gemeinschaft und zwischen den Stämmen (innertribal und intertribal).
Da die Prinzipien dieses tribalen Rechtes einen lokalen Aspekt besaßen und sich von Stamm zu Stamm unterschieden, wird es öfter auch als Stammesrecht bezeichnet.
In Marokko lassen sich die Stämme über die gemeinsame Genealogie als ein Verwandtschaftssystem beschreiben, dennoch bildeten sie keine geschlossene Einheit. Jeder Stamm verfügte über ein geographisches Gebiet, das die Basis seiner politischen und ökonomischen Macht und Ausdruck seiner Einheit darstellte. Die segmentäre Differenzierung der sozialen Ordnung in den Stämmen bestimmte unter anderem auch das Privatrecht. Nach der Islamisierung der Berberstämme sind Elemente des Gewohnheitsrechts der Berber in die Religion und dadurch in das Rechtsystem eingeflossen, welches einen Rechtspluralismus darstellte. „Die rechtsplurale Struktur war unmittelbar mit der politischen und sozialen Ordnung dieser Stämme verbunden. Die zentrale Regierungsgewalt versuchte landesweit islamische Rechtsnormen einzuführen, tastete aber gleichzeitig die traditionellen Rechtsstrukturen der Stämme nicht an“ , solange sie nicht den islamischen Normen, Geboten und Verboten widersprachen . So schaffte das Zentrum (Regierungsgewalt) eine Koexistenz zwischen dem universalistischen, islamischen Recht und dem partikularen Gewohnheitsrecht der verschiedenen Regionen. Beides bildete einen wichtigen Teil der geltenden Rechtsordnung. Der Stammesrat brachte das Recht zur Geltung und konnte alle ihm vorgelegten rechtsrelevanten Fälle autonom entscheiden.
Gewohnheitsrechte wurden jahrhundertelang in mündlicher Form weitergegeben. In manchen Gebieten entschieden sich die lokalen Berber-Stämme dies schriftlich auf Schiefer- bzw. Holztafeln aufzuzeichnen. Die Tafeln werden als Heiligtum aufbewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Eine der berühmtesten Tafeln liegt in der Speicherburg Agadir Tasguent . Sie beinhaltet fast 1000 Jahre alte Regeln über die Aburteilung von Vergehen und Schlichtung von Streitigkeiten. Die Schlichtung und das Schiedsverfahren als Konfliktbeilegungsmethoden waren nicht nur in dieser Gegend verbreitet, sondern im ganzen Land gebräuchlich. Die traditionelle Konfliktregelung als soziales Phänomen war ein integraler Bestandteil des gemeinschaftlichen und des individuellen Lebens. Sie ist gruppen- und autoritätsorientiert. Die soziale Kontrolle ist sehr hoch. Das ist ein wichtiger Grund dafür, weshalb diese Methoden hauptsächlich im ländlichen Bereich angewandt wurden. In der Stadt fehlte der Blick der Gemeinschaft. Die Dorfversammlungen, in denen Vertreter der Familienclans über die Angelegenheiten des Dorfes beraten und entscheiden, haben darunter auch Konflikteinigungsmechanismen legitimiert, die helfen, den Versöhnungsprozess zwischen den Konfliktparteien zu erzielen. In diesem Zusammenhang hat der Dorfälteste bzw. Stammführer (der „Amghar“) zusätzlich das Amt des Schlichters bekleidet.
b) „Amghar“
Die Rolle des Vermittlers bzw. Schlichters bei den Berberstämmen nahm der „Amghar“ ein, der den „Amghar“-Rat als Dorfältester bzw. Stammführer präsidierte. Dieses uralte Gesellschaftssystem war bei allen Berberstämmen Marokkos verbreitet, um Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft in einer einvernehmlichen Weise beizulegen.
Der „Amghar“ wurde von den Stammesangehörigen unter den Vertretern der verschiedenen Sippen durch Mehrheit gewählt. Die gewählte Person sollte bestimmte Kriterien erfüllen: respektiertes Alter, Integrität, Weisheit, Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit waren die wichtigsten Charakterzüge. Die Anwendungsfelder seiner Konfliktbeilegungseinsätze umfassten Streitigkeiten diverser Arten (aus Familienrecht, Sachenrecht, Wegerecht, Wasserecht, etc.), dabei fungierte er sowohl als Schlichter als auch als Schiedsrichter. Die Lösungsorientierten Einigungen standen unter den Prämissen des Gewohnheitsrechtes bzw. des Stammesrechts. Neben seiner Tätigkeit als Schlichter und Schiedsrichter bei Konflikten, die zwischen Einzelpersonen oder zwischen Familien entstanden, vertrat er auch den Stamm in Verhandlungen mit benachbarten Stämmen im Rahmen von intertribalen Streitigkeiten.
Zwar repräsentierte „Amghar“ die oberste Autorität des Stammes und verfügte über eine gewisse Souveränität und moralische Macht, sein Schiedsurteil jedoch war nicht direkt durchsetzbar. Nichtsdestotrotz trat er, als eine erfahrene und für seine Weisheit geachtete Person mit tadelloser Reputation, als Garant auf. Demnach herrschte auf den Konfliktparteien ein moralischer Druck, sich an Absprachen und Vereinbarungen zu halten und dem Urteil den gebührenden Respekt entgegen zu bringen. Hielt sich eine Partei dennoch nicht daran, stellte dies eine unverzeihliche Schande dar, und der „Amghar“ distanzierte sich auch öffentlich davon. Als Folge wurde die abstreitende Partei von ihrer Familie und der ganzen Gemeinschaft verbannt. Eine Entschuldigung und Wiedereinnahme in die Gemeinschaft wurde erst akzeptiert, wenn die Partei die tatsächliche Befolgung des Urteils bzw. der Vereinbarung in einer Zeremonie versicherte, wo sie eine Anzahl von Gästen aus dem Dorf zum Essen einlud. Die Zahl der Gäste setzte der „Amghar“ fest in Abhängigkeit von der Art und dem Grad der Einigungsverletzung, welche bis Hunderte von Gästen erreichen konnte.
3. „Amin Al-Hirfa“: Traditioneller Wirtschaftsmediator
Diese Form der einvernehmlichen Streitbeilegung im wirtschaftlichen Bereich ist weitgehend in der marokkanischen Tradition verwurzelt. Im Einklang mit der arabisch-islamischen Tradition sowie dem berberischen Usus entstand im Zuge der mittelalterlichen Verstädterung Marokkos die Institution des „Amin Al-Hirfa“. Sowohl die Kaufleute als auch die Handwerker waren zur Förderung gemeinsamer Interessen in selbstnützigem besiegeltem Zusammenschluss organisiert. Die Genossen eines jeweiligen Handwerkszweigs (arab. Hirfa) wählten unter sich den „Amin“, was im Arabischen buchstäblich den „Loyalen“ bedeutet, als Vorsteher der Handwerkerzunft bzw. der Kaufmannsgilde. Er war gewöhnlich nicht nur eine Person der Loyalität, sondern auch der Erfahrung und der Frömmigkeit. Neben dem berufsspezifischen Charakter seiner Mission leitete er den gegenseitigen Schutz und Hilfe der Mitglieder in allen Lebensbereichen. Dazu zählten im Wesentlichen die gegenseitige Unterstützung in Unglücksfällen, sowie die gemeinschaftliche Pflege von Religiosität: so war er beispielsweise zuständig für die Spendensammlung zugunsten der Hinterbliebenen des gestorbenen Handwerkers, wie auch die Kollekte der Almosen (arab. Zakat ) von seinen Genossen und deren Verteilung auf die Bedürftigen. Darüber hinaus fielen die Zulassung und der Beitritt neuer Mitglieder in die Genossenschaft unter seine Zuständigkeit. Ferner war er der Ansprechpartner der staatlichen Autorität, in der Person des „Mouhtassib“ , hinsichtlich des wirtschaftlichen Lebens bzw. Fragen des Wirtschaftsrechts.
Der Aufgabenbereich, welcher mit dem Amt des „Amin“ einherging, war aber deutlich umfangreicher als ein reiner Vorstand der Genossenschaft. Neben dem repräsentativen Amt oblag dem „Amin“ vielmehr die Beilegung der Streitigkeiten innerhalb der Körperschaft, im Hinblick auf Angelegenheiten, die für die beruflichen Beziehungen von Belang waren. Dabei stand das Streben nach einer Konsenslösung im Vordergrund. Als neutraler Dritter brachte er die Parteien an einen Tisch, um Lösungen unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen herbeizuführen. Entsteht ein Konflikt im Markt, so ist der “Amin“ die erste Anlaufstelle. Wird aber der Streit direkt vor den „Mouhtassib“ gebracht, so ruft der letztere den „Amin“ des jeweiligen Handwerks auf, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. So intervenierte er zwischen den Handwerkern bzw. Händlern sowie bei Konflikten zwischen Meistern, Mitarbeitern und Auszubildenden innerhalb eines Betriebs. Ferner war er bei Disputen zwischen jenen und den Kunden aufgesucht. Entsteht etwa ein Streit um ein unlauteres Geschäft, etwa bei Uneinigkeiten über den Zustand der Ware oder der Maßeinheiten (beispielsweise Gewichte), wird der „Amin“ gefragt, schlichtend zwischen Händler und Klient zu vermitteln bzw. in manchen Fällen ein Schiedsverfahren durchzuführen. Die Beteiligten hatten sich in dem Falle dem Ergebnis zu beugen, auch weil das Amt von hochangesehenen, für ihren einwandfreien Leumund bekannten Personen bekleidet wurde. Somit bestand ein hoher sozialer Druck, den Vereinbarungen zu folgen.
Angesichts dieser inner- und außerbetrieblichen Konfliktkonstellationen kann man den „Amin“ als eine Art traditionellen Wirtschaftsmediator betrachten.
Die Institution des „Amin Al-Hirfa“ hat bis vor 30 Jahren überlebt. Heute sind die traditionellen Handwerker in den imperialen Städten Marokkos (wie Fes, Marrakech, Meknès, etc.) in Körperschaften organisiert. So findet man noch in der „Medina“ verschiedene Handwerkerviertel (arab. Souk), die nach Spezialität gruppiert sind: Schreiner, Färber, Gerber, Kupferschmiede, Schneider, etc. Diese sind heutzutage nicht mehr in Zünften zusammengeschlossen, sondern im Rahmen von modernen strukturierten Handwerkerkammern, Verbänden, Berufsgenossenschaften oder Gewerkschaften. Dabei wurden leider die schlichtenden, streitbefriedenden und friedensstiftenden Aufgaben des „Amin“ nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern sogar vernachlässigt und sind in Vergessenheit geraten.
II. Mediation im kulturellen Kontext
Wie in den vorherigen Kapiteln erwähnt prägen sowohl die berberischen als auch die arabisch islamischen Traditionen die pluralistische Kultur Marokkos. Die darin vorherrschenden Grundwerte sind für das Konfliktverständnis und für den Umgang mit Konflikten von großer Bedeutung. Als kollektivistisch orientierte Gesellschaft wird ein starkes Sozialsystem bevorzugt wo das Individuum sich einer Gruppe zugehörig fühlt, in der man sich gegenseitig kümmert im Austausch gegen Loyalität. Es herrschen Werte wie Harmonie, Unterordnung und Gruppensolidarität, Gruppenleistungen und -bedürfnisse werden betont. Wichtige Prinzipien sind auch Wahrung des eigenen Gesichts und des Gesichts anderer sowie die Ordnung von Sozialbeziehungen nach Status, Alter und gegenseitigen Verpflichtungen. Diese Werte und Normen sollten daher in Konfliktlösungsprozesse eingebunden werden.
Die westliche Kultur hingegen ist vielmehr anhand der durch die Aufklärung vermittelten Werte charakterisiert. Das Individuum steht im Vordergrund, vertraut weniger auf Autoritäten und Tradition, denkt selbst und entscheidet aus sich heraus. Autonomie, Freiheit, Rechte und Selbstverwirklichung stehen im Mittelpunkt.
Diese Grundwerte spiegeln sich in den Grundprinzipien der Mediation wider. Es handelt sich um Punkte, die nicht universal anwendbar sind und an denen sich die Kulturbezogenheit des Mediationsverfahrens zeigt. Die Übertragung dieser Aspekte auf eine kollektivistisch orientierte Gesellschaft kann problematisch sein.
So stellt beispielsweise die Klärung der individuellen Interessen und Bedürfnisse der Medianden ein Problem dar, wenn nicht die Klärung des Konflikts, sondern die Wiederherstellung von Harmonie erwartet wird. Eine solche Konfrontation in einer Kultur, in der sich jeder als Teil der Gemeinschaft begreift, würde zu einem Gesichtsverlust führen. Vielmehr wären hier Einzelgespräche angebracht, in welchen der gu¬te Willen der anderen Konfliktpartei versichert und die große Bedeutung einer Versöhnung für die Gemeinschaft thematisiert werden kann.
Verbunden mit dem Individualismus sind in westlichen Kulturen Ich-Botschaften bevor¬zugt, da sie im Gegensatz zu verallgemeinern¬den Aussagen keine Objektivität beanspruchen und daher weniger verletzend und eher annehmbar sind. Solche Botschaften können in einer kollektivistisch orientierten Kultur als arrogant angesehen werden, da sie darauf hindeuten, dass die Aussage gedankliche Selbstbezogenheit beweise.
Wie die Freiwilligkeit im „westlichen“ Mediationsverfahren verstanden wird, könnte auch problematisch für die gegenstehende Kultur sein. Einige Ansichten der Freiwilligkeit hinsichtlich des Verfahrens, wie sie in der Praxis diskutiert werden, wirken in anderen Kulturen befremdlich. Sie gehen über den Wert der Freiwilligkeit hinaus und entsprechen letztlich eine normative Zuschreibung.
Das Thema Machtausgleich gestaltet sich auch schwierig. Sofern ein Machtungleichgewicht besteht, sollte der Mediator dies durch seine Intervention ausgleichen. Aus der Perspektive des Wertes „Gleichheit“ ist dieser Ansatz nachvollziehbar. In stark hierarchisierten Strukturen führt er jedoch immer wieder zu Problemen. In kollektivistisch orientierten Kulturen werden Freiheitseinschränkungen eher akzeptiert. Die Problematik des Machtungleichgewichts ist kulturbezogen. Ein Aufzwingen der Gleichheit würde von den Parteien als störend erlebt: die niedriger gestellte Seite würde sich dadurch unsicher fühlen und die höher ge¬stellte würde ihr Gesicht verlieren. Daher wäre anstatt eines Machtausgleichs ein sensibler Umgang mit einem Machtungleichgewicht geeigneter.
Betrachtet man jedoch die aktuelle Situation in Marokko, kann man feststellen, dass die gesellschaftliche Entwicklung darauf hindeutet, dass die „Bildung moderner, säkularer Strukturen im öffentlichen Bereich formal relativ schnell verlaufen ist“. Die in Europa ausgebildeten Strukturen wurden sukzessiv auf Marokko übertragen. Durch die Integration des Landes in globale Strukturmuster wurde die zunehmende gesellschaftliche funktionale Differenzierung beschleunigt. So steht Marokko vor einem sozialen kulturellen Wandel: Weg von der kollektivistischen Orientierung hin zum Individualismus. So kann „das marokkanische Familienrecht aufgrund seiner erfolgreich verlaufenden strukturellen Entkopplung von religiösen Interpretationen als ein Musterbeispiel für einen Differenzierungsverlauf in arabischen Gesellschaften angesehen werden“. Dessen ungeachtet trifft dieser Wandel nicht alle Schichten der Gesellschaft gleichmäßig. In der Mittelschicht und besonders bei den Hochgebildeten ist er stark zu beobachten, während in den unteren Schichten, denen es an Bildung mangelt, noch die alten Traditionen herrschen. Im Rahmen des Mediationsverfahrens sollte der Mediator dies berücksichtigen. Z. B. ist die Vorgehensweise im Rahmen einer Familienmediation bei traditionellen Eheleuten eine andere als bei einem Akademiker-Paar. Gleiches ist auch bei Wirtschaftsmediationen zu beachten, wenn die Medianden moderne Unternehmer sind oder traditionelle Handwerker. Diese Aspekte sollten schon vor bzw. am Beginn der Mediation (in der Vorphase bzw. in Einzelgesprächen) herausgearbeitet werden. Dabei sollte auf Bildungsniveau, kulturellen Hintergrund und Religiosität geachtet werden.
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